Höhepunkte
1) Mama hat sich zum ersten Mal seit zwei Wochen komplett angezogen und sich sogar die Zähne geputzt. Vielleicht wird ja doch alles wieder gut!
2) Papa hat gestern Nacht noch die Wäsche aufgehängt. Habe infolgedessen käsefreie Socken an – immerhin.
3) In der Zeitung stand, dass das neue Grippe-Virus, das sie entdeckt haben, doch nicht so schlimm ist wie befürchtet. Vermute, die amerikanische Sekte hat unrecht. Das mit dem baldigen Weltuntergang ist wahrscheinlich Quatsch mit Soße.
Tiefpunkte
1) Bisher noch keine. Toi, toi, toi.
7.24 Uhr.
Muss in sechs Minuten los zur Schule. Würde am liebsten zu Hause bleiben, aber andererseits denke ich, dass es schlimmer als gestern sowieso nicht kommen kann. Bin noch immer froh, dass ich beim Kinder- und Jugendnotdienst angerufen habe. Vielleicht mache ich später doch was Soziales. Oder ich schreibe einen Artikel für die Schülerzeitung über Zivilcourage. (Glaube, dass viele berühmte Schriftsteller als Journalisten angefangen haben …)
14.10 Uhr.
a) Merke: Schlimmer geht’s immer!
b) Denke, die Weltuntergangsgeschichte ist doch nicht so ganz von der Hand zu weisen.
Aber der Reihe nach. Als ich heute Morgen in die Klasse gekommen bin, war Scharina wieder nicht da. Dafür hat Frau Simbrinck zu mir gesagt, sie müsste unter vier Augen mit mir reden. Am Tonfall hab ich schon gemerkt, dass jetzt was Doofes kommt, aber ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was ich Schlimmes getan haben sollte. Also bin ich ihr auf den Flur gefolgt. Jannik und Franzi, die gerade kamen, haben mich neugierig gemustert, aber Frau Simbrinck hat sie weitergewinkt. Und dann hat sie sich mit ganz ernster Miene zu mir umgedreht.
»Wenn ich sagen würde, dass mich dein Verhalten schwer enttäuscht hat, Julie, wäre das noch untertrieben. Von Hanna hätte ich mir so etwas vielleicht vorstellen können, aber von dir …«
Ich hab nur noch Bahnhof verstanden. Was für ein Verhalten denn, bitte schön?
»Jetzt tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, worüber ich spreche, Julie. Die ganze Sache ist so schon unangenehm genug. Scharinas Mutter hat mich heute Morgen angerufen. Hast du der Familie die Behörden auf den Hals gehetzt, um Scharina aus der Klasse zu mobben?«
»Was??«
»Anscheinend hat sich gestern Abend jemand von der Jugendhilfe bei ihrer Familie gemeldet und wollte Scharina sprechen. Scharinas Mutter war noch bei der Arbeit, nur ihr älterer Bruder war zu Hause, und als er gesagt hat, dass seine Schwester mit einer Erkältung im Bett liegt, hat der Sozialarbeiter ihm erklärt, dass eine anonyme Anzeige vorliege, der man nachgehen müsse. Scharinas Mutter hat mir gesagt, dass jemand von der Jugendhilfe sie anschließend sogar noch übers Handy angerufen hat und Scharina und Kevin ganz verstört waren!«
»Aber wenn die Anzeige anonym war, warum glaubt Scharinas Mutter denn, dass gerade ich …?«
Frau Simbrinck hat mich noch immer prüfend angeguckt.
»Scharina sagt, du wärst ein paar Stunden vorher bei ihnen gewesen und hättest dich irgendwie merkwürdig verhalten …«
Ich? Mich merkwürdig verhalten??! Ist so was denn zu fassen?? Ich hab Frau Simbrinck empört angesehen und dabei den Kopf geschüttelt.
»Aber das ist ein Missverständnis! Ganz bestimmt! Ich war total nett und hab ihrem Bruder die Hausaufgaben und alles gegeben, aber als ich schon fast wieder auf der Treppe war, hab ich gehört, wie Scharinas Vater angefangen hat, sie zu schlagen und …«
»Julie, soweit ich weiß, hat Scharinas Vater seine Familie schon vor Jahren verlassen …«
Frau Simbrinck hat den Satz abgebrochen und plötzlich gar nicht mehr so sicher ausgesehen.
»Er war aber da. Ganz bestimmt! Und er hat Scharina geschlagen! Und sie hat ganz schrecklich gewimmert, so als ob die Schläge richtig wehgetan hätten. Ich wette, ihr ganzes Gesicht ist inzwischen rot und völlig zugeschwollen und …«
»Blödsinn!«
Ich hab mich umgedreht und Frau Simbrinck hat sich umgedreht und da stand sie: Scharina. In voller Lebensgröße. Ohne jede Schwellung im Gesicht.
»Scharina! Schön, dass es dir wieder besser geht!«
Frau Simbrinck hat Scharina angelächelt und dann ist ihr Blick wieder zurück zu mir gewandert und dann wieder zu Scharina.
»Tja, gerade hat Julie mir erzählt, dass sie sich ziemliche Sorgen um dich gemacht hat …«
Ich hab Scharina noch immer angestarrt wie eine Kuh, wenn’s donnert, aber im selben Moment hat sie sich schon schnell abgewendet, um eine supercoole Jacke, die ich bei ihr noch nie gesehen hab, im Flur an den Haken zu hängen.
»Haben Kevin und Mama mir schon erzählt. Tut mir leid.«
»Aber ich habe wirklich gehört …«
»Das war nur der Fernseher. Kevin dreht den immer so laut und dann denkt man vor der Tür sonst was … Bei uns ist alles in Ordnung. Hat der Typ von der Jugendhilfe übrigens auch festgestellt.« Der letzte Satz klang ganz schön patzig.
Eines muss man Lehrern echt lassen: Sie können in null Komma nix umschalten. Ich hab Scharina immer noch ungläubig angeguckt, aber Frau Simbrinck hat schon aufgeseufzt und man hat richtig gemerkt, wie erleichtert sie über Scharinas Erklärung war.
»Na, siehst du. Dann hat sich ja doch noch alles aufgeklärt. Gott sei Dank. Ich hätte mich auch wirklich gewundert, wenn Julie das einfach so aus der Luft gegriffen hätte. Tja, also dann würde ich sagen: Ab in die Klasse und …«
»Aber …«
Ich hab den Mund aufgemacht, um noch was zu sagen, aber im selben Augenblick hat uns Frau Simbrinck schon in die Klasse geschoben.
»Na, dann wollen wir die anderen nicht noch länger warten lassen …«
Und das war’s dann. Zwanzig Sekunden später saß ich auf meinem Stuhl, fünf Meter entfernt von Scharina, und hab zugehört, wie die anderen über die Klassenreise nächste Woche geredet haben.
Hanna hat Franzi extra laut zugeflüstert, dass sie jetzt mit Ben geht (damit ich es bloß höre). Oliver hat unterm Tisch wieder mal Taschenbillard mit seinen Hoden gespielt (er grabbelt sich ständig im Schritt rum, wenn er denkt, man merkt es nicht – Abgründe unter sich!). Scharina hat völlig ungerührt ihre Federtasche rausgeholt, Frau Simbrinck hat irgendetwas über Flüsse in Nordrhein-Westfalen erzählt und ich hab nur gedacht: