Mittwoch, der 26. Mai

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1) Hatte heute früh 37,1 Grad Temperatur. Da das schließlich fast Fieber ist, habe ich mit dem Warmwasserhahn noch etwas nachgeholfen. Anschließend habe ich Mumi erklärt, dass ich mich furchtbar schlecht fühlen würde und deshalb leider zu Hause bleiben müsste. Der Plan war nicht schlecht, leider …

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1) … hat Mumi darauf bestanden, anschließend noch mal selbst zu messen, und da waren es nur noch 36,9 Grad. Nun gut. Einen Versuch war es wert.

8.54 Uhr. Hauptbahnhof. Auf dem Bahnsteig.

Tut mir leid, meine Schrift ist ein bisschen krakelig, aber alle Stühle auf dem Bahngleis sind besetzt. Insofern kauere ich hier ziemlich unbequem auf dem Boden. Um mich herum ist die Hölle los. Alle laufen hektisch durcheinander, um sich noch von ihren Eltern und Geschwistern und ich weiß nicht wem zu verabschieden. Die Bahn soll in zehn Minuten abfahren, aber von Scharina ist noch immer nichts zu sehen. Verdammt! Neben mir heult Jannick-Silbergebiss, weil Oliver zu ihm gesagt hat, wenn er noch eine Flanke vergurkt, kann er auf Sylt alleine kicken, und Jette schluchzt etwas weiter hinten den Mantel ihrer Mutter voll, weil sie bereits jetzt Heimweh hat.

Mumi ist schon weg (sie sagt, sie hält nichts von langen Abschieden) und ich fühle mich inmitten der ganzen Heulerei doch ein bisschen allein. Eigentlich hatte Mama versprochen, dass sie mich zur Bahn bringt, aber die Ärzte in ihrer Klinik haben sich mit dem Entlassungsbericht so lange Zeit gelassen, dass sie es doch nicht mehr geschafft hat. Echt doof.

Papa wäre eigentlich auch gern gekommen, aber Mumi hat gesagt, der soll ihr nur unterkommen, dann kann er was erleben, und da habe ich ihn doch besser gebeten, zu Hause zu bleiben. Mumi musste früher mal zur Polizei, weil sie jemandem, der ihr den Parkplatz weggenommen hat, gedroht hat, seinen Schniedel abzuschneiden. Insofern ist ihr alles zuzutrauen und das muss man ja nicht unbedingt riskieren.

Shit! Jetzt sind es nur noch vier Minuten bis zur Abfahrt. Die meisten steigen schon ein, aber von Scharina ist nichts zu sehen. Hoffentlich kommt sie noch! Hoffentlich, hoffentlich!

9.07 Uhr. Im Abteil.

So ein Mist! Scharina ist nicht gekommen. Zumindest nicht, so weit ich sehen konnte. Eigentlich muss ich Ben jetzt anrufen, aber ich trau mich nicht. Ich will nicht, dass er allein zur Polizei geht! Schließlich sind wir ein Team. Außerdem habe ich um ihn genauso viel Angst wie um mich. Wer weiß, was Kevin aus Rache mit ihm anstellt? Vielleicht verprügelt er ihn. Oder – noch schlimmer – er bedroht ihn mit einem Messer. Oder mit einer Axt. So wie in meinem Albtraum neulich. Und dann …

9.09 Uhr. Im Abteil.

JAAAA!!!! Sie ist da! Herr Clausen, der als zweiter Erwachsener mitfährt, war eben bei mir drin und hat gefragt, ob sich Scharina nachher zu mir setzen könnte – drüben, wo die anderen aus der Klasse sitzen, sei es so voll! Yeah!!! Rufe jetzt erst mal Ben an und gebe Entwarnung.

9.21 Uhr. Noch immer im Abteil.

Du glaubst nicht, wer eben da war. Nicht Scharina, sondern Sophie und Franzi, um mich zu fragen, ob ich mit rüber ins Großraumabteil kommen möchte, wir könnten auch zu dritt auf einen Zweierplatz.

Das fand ich ziemlich nett in Anbetracht der Tatsache, dass sie ewige Verbannung von Hanna fürchten müssen. Aber ich habe dann trotzdem den Kopf geschüttelt, weil Scharina ja gleich kommt.

9.32 Uhr. Noch immer im Abteil, sprachlos.

Wahrscheinlich ist der Nächste, der ins Abteil kommt, der Kaiser von China. Weißt du, wer jetzt bei mir war? Wieder nicht Scharina, sondern Hanna!

Um sich zu entschuldigen. Weil das Ganze doch eigentlich nur ein – halt dich fest! – Missverständnis war. Ha! Bei dem Wort »Missverständnis« bin ich richtig sauer geworden, aber gerade, als ich so richtig loslegen wollte, haben sich ihre Augen mit Tränen gefüllt. Und dann hat sie angefangen zu schluchzen.

»Oh, Julie! Ich weiß, du hast allen Grund dazu, aber hass mich bitte nicht! Das könnte ich nicht ertragen!!«

Ich hab Hanna perplex angesehen, aber ehe ich was dazu sagen konnte, ist sie auf mich zugestürzt und hat mich wie eine Ertrinkende umklammert.

»Es tut mir so leid! Wirklich! Lass uns wieder Freundinnnen sein, ja? So wie früher. Wir waren doch echt ein Dreamteam, wir alle zusammen. Bitte!«

Ich hab sie einen Augenblick verdattert angeguckt und im selben Moment ist der Groschen bei mir gefallen. Sie hat also mitbekommen, dass Franzi und Sophie wieder mit mir sprechen, und hat jetzt Schiss, dass sie plötzlich genauso alleine dasteht wie ich in den letzten Tagen.

»Äh, also eigentlich …«

Ich wollte gerade sagen, dass ich noch immer ziemlich sauer auf sie bin und dass das mit dem Wieder-Freundinnen-Sein in Anbetracht ihrer Irrenhaus-Bemerkung über meine Mutter auch keine so goldene Idee ist, da hat sich mich schon wieder losgelassen und gemeint, dass sie unendlich froh wäre, dass wir uns endlich ausgesprochen hätten und dass sie es ganz toll fände, wie verständnisvoll ich reagieren würde, und dass wir zur Feier unserer Versöhnung morgen unbedingt alle zusammen ins Westerländer Schwimmbad gehen sollten.

»Weißt du noch, wie wir letztes Jahr im Spaßbad die schwarze Rutsche verkehrt herum gerutscht sind? Das war so cool …«

»Ja, kann sein, aber …« Ich hab Luft geholt, um endlich auch mal zu Wort zu kommen, aber im selben Moment hat sie plötzlich einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen und hektisch den Kopf geschüttelt.

»Oh, Shitness. Ich muss wieder zu den anderen. Bis nachher, Juliechen! Und noch mal danke!«

Damit ist sie abgedüst in Richtung Großraumabteil und ich saß da wie jemand, der gerade unter eine Dampfwalze geraten ist.

Ich mein: »Juliechen!« Was sagt man dazu?! Wahrscheinlich: »Oh, Shitness«!

Vier Minuten später. Im Abteil.

Bin noch immer ziemlich geplättet, aber auch ein klitzekleines bisschen stolz. Vielleicht bin ich doch nicht so rückgratlos wie vermutet! Gut, ich hätte mich eben von Hanna nicht so zuquatschen lassen sollen, aber immerhin habe ich ihr auch nicht gesagt, dass jetzt alles wieder vergeben und vergessen ist. So leicht kommt sie mir nämlich nicht davon! Komisch, wie sich die Sichtweise plötzlich verschieben kann, oder? Wenn man mit Hanna befreundet ist, gehört man automatisch zum Kreis der Beliebten in der Klasse und bis vor Kurzem war mir das noch total wichtig. Aber in der Zwischenzeit ist so viel passiert, dass ich Hanna und ihr Getue einfach nur noch ätzend finde …

Oh, warte! Jetzt kommt Scharina! Ich schreib nachher weiter!

18.34 Uhr. Auf dem Westerländer Campingplatz. Im Zelt.

Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt wieder melde, aber Scharina und ich haben die ganze Bahnfahrt und den ganzen Nachmittag (wir waren am Ellenbogen spazieren, das ist ein privater Strand, der so aussieht wie ein Ellenbogen, daher der Name) miteinander gequatscht und das war wichtig. Wirklich wichtig. Jetzt weiß ich nämlich, warum ihre Mutter schon so lange so weit weg ist und warum Scharina ihr nicht schon längst gesagt hat, dass Kevin sie schlägt und ihr das ganze Geld zum Leben, das eigentlich für sie beide da ist, wegnimmt. (Das tut er nämlich! Daher hat er auch das Geld für seine teuren Klamotten und das viele Bier!)

Scharinas Mutter ist eigentlich gelernte Friseurin, aber vor zwei Jahren hat sie einen ganz starken Ausschlag an den Händen bekommen und der Arzt hat gesagt, das kommt von den Färbemitteln, und deshalb konnte sie nicht mehr als Friseurin arbeiten. Und weil Scharinas Vater keinen Unterhalt zahlt, hat das Arbeitsamt ihr dann eine Umschulung zur Kosmetikerin bezahlt. Als Kosmetikerin hat sie dann aber keine Arbeit gefunden, weil die meisten Hotels fanden, dass sie für den Beruf schon zu alt ist, und da ist sie dann wieder arbeitslos geworden. (Stelle gerade fest, dass in meinen Sätzen ganz schön viele »dann« vorkommen. Dabei hat Herr Clausen neulich im Deutschunterricht gesagt, das wäre ganz schlechter Stil. Muss bei Gelegenheit unbedingt nachsehen, wie viele »dann« Dian Fossey in ihren Memoiren benutzt hat.)

Also auf jeden Fall hat Kevin dann ungefähr zu der Zeit angefangen rumzuspinnen. Laut Scharina war Kevin früher eigentlich ganz nett und in der Zeit, bevor ihr Vater sich von ihnen getrennt hat, hat sie sich sogar ziemlich gut mit ihm verstanden (schwer vorstellbar, oder?). Aber dass sein Vater dann einfach in so einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgehauen ist, das hat er irgendwie nicht verkraftet. Erst ist er beim Klauen erwischt worden und dann hat er sich immer öfter volllaufen lassen. Blöderweise hat Scharinas Mutter davon aber nichts mitgekriegt, beziehungsweise, sie hat es vielleicht mitgekriegt, wollte es aber nicht wahrhaben, weil sie selber mit ihrer Arbeitslosigkeit und den ganzen unbezahlten Rechnungen so viel zu tun hatte, dass sie einfach keine Energie mehr hatte, sich auch noch um ihren Stiefsohn Sorgen zu machen.

Kurz nachdem Kevin dann das zweite Mal beim Klauen er–wischt worden ist, hat Scharinas Mutter ein Jobangebot aus Bayern bekommen. Eigentlich wollte sie es schon ablehnen, aber es war wohl ein ganz tolles Angebot und deshalb hat Scharina sie überredet, den Job anzunehmen. Na ja, Scharina meinte, ihre Mutter hätte erst nicht gewollt, aber dann ist ihnen der Strom abgestellt worden und Kevin hat gesagt, wenn sie von Hartz IV leben müssen, dann schmeißt er sich vor einen Zug. Also hat ihre Mutter sich einen Ruck gegeben und gesagt, immerhin wäre Kevin ja schon fast achtzehn, und wenn Scharina das in Ordnung fände, würde sie den Job erst mal probehalber annehmen.

Scharina hat mir erzählt, sie hätte damals wirklich geglaubt, dass es klappt, das mit dem Alleinwohnen mit Kevin. Und sie hat sogar ein bisschen gehofft, dass Kevin und sie das Ganze wieder so zusammenschweißt wie früher, als er ihr abends unter der Bettdecke immer Gruselgeschichten erzählt hat.

An der Stelle, wo sie das mit den Gruselgeschichten erzählt hat, sind ihre Augen ganz feucht geworden und da habe ich begriffen, dass sie ihren Bruder immer noch gernhat – trotz der Sauferei und der Schläge und alldem. Verrückt, oder? Ich meine, ich hab nie einen großen Bruder gehabt, und wenn ich mir Kevin als meinen großen Bruder vorstelle, krieg ich das große Schreien, aber scheinbar ist da zumindest von Scharinas Seite aus so was wie … Geschwisterliebe. Auch wenn das nach dem, was passiert ist, bescheuert klingt.

Anschließend hat Scharina dann noch berichtet, wie Kevin sich vor fünf Jahren, als ihr Vater die Familie verlassen hat, heulend in sein Zimmer eingeschlossen hat und drei Tage lang nicht mehr rausgekommen ist. Unglaublicherweise hat Kevin mir in dem Moment, als sie das erzählt hat, sogar fast ein bisschen leidgetan, aber auch nur fast. Schließlich war Papas Chef als Kind vielleicht auch mal nett, aber das ändert nichts daran, dass er heute ein ungerechtes Ar … na ja, Poloch ist, und genauso seh ich das bei Kevin auch.

19.06 Uhr. Wieder im Zelt.

War eben nur kurz auf der Toilette. Zum Glück sind die Klos hier auf dem Campingplatz ziemlich sauber, aber dafür sind die Wände so dünn, dass man leider auch Dinge hört, die man nicht hören will. (Ich weiß jetzt, dass die Frau aus Gelsenkirchen in dem Zelt vorne am Eingang extreme Verdauungsschwierigkeiten hat. Denke, ich werde ihr nie mehr in die Augen sehen können.)

Okay, wo war ich? Genau, bei Scharina und mir und der Sache mit Kevin und ihrer Mutter. (Scharina versucht im Waschraum gerade, einen Riesenbatzen Vogeldreck von ihrer Jacke zu schrubben – warum, erzähl ich später –, also hab ich noch ein bisschen Zeit zu schreiben.)

Als wir eben mit der Klasse am Ellenbogen spazieren waren, sind die anderen vorgegangen und Scharina und ich sind als Letzte hinterhergedackelt. Dabei hat sie mir den Rest erzählt. Dass Kevin keinen Finger gerührt hat, als ihre Mutter weg war, und sich um nichts gekümmert hat und sie den ganzen Haushalt schmeißen musste – samt Einkaufen und Kochen und Waschen. (Deswegen hatte sie auch Jungsunterhosen an, weil sie es ganz oft nicht geschafft hat, rechtzeitig die Wäsche aufzuhängen, und ihre Unterhosen deshalb noch nass waren.) Irgendwann hat Kevin dann angefangen, seine Freunde einzuladen und für alle regelmäßig den Pizzaservice zu bestellen. Und weil die Freunde immer öfter gekommen sind und immer mehr Bier und Schnaps trinken wollten, ist das Geld immer knapper geworden. Und als Scharina sich bei ihrem Bruder beschwert hat, weil er sich von ihrem Ersparten eine sauteure Jogginghose gekauft hat und sie noch nicht mal mehr Geld fürs Pausenbrot hatte, da ist er das erste Mal ausgeflippt und hat sie geschlagen.

Na ja, anschließend hat er ein schlechtes Gewissen gekriegt, aber danach ist dasselbe trotzdem noch mal passiert und dann noch mal und deswegen sieht Scharinas Oberkörper inzwischen so aus, wie er aussieht.

So weit ungefähr in Kürze.

In Wirklichkeit hat es Stunden gedauert, bis ich die ganze Geschichte aus Scharina rausgekriegt habe, aber als sie fertig war, hat Scharina richtig erleichtert ausgesehen. So, als ob es ihr gut getan hätte, den ganzen Schmodder loszuwerden. Anschließend hat sie mich gebeten, nicht mehr allzu sauer auf Kevin zu sein, weil ihm das mit dem Schlag, den er mir verpasst hat, bestimmt leidtun würde. Und da hab ich nur noch mit den Ohren geschlackert. Ich mein, ER haut mir eine rein!!!! Und SIE bittet mich dafür um Verzeihung????

»Das ist doch nicht dein Ernst?! Der Einzige, der sich dafür entschuldigen müsste, ist ja wohl Kevin und nicht du …«

Scharina hat geseufzt und dann schnell zu Boden geguckt.

»Ich weiß, aber …«

Ich hab sie noch immer ungläubig angestarrt und dann entnervt den Kopf geschüttelt.

»Also nur, damit ich das richtig kapiere … Dein Bruder kauft sich von DEINEM Ersparten Markenklamotten und du hast noch nicht mal Geld fürs Pausenbrot. Richtig?«

»Was soll ich denn machen? Mama überweist das Geld immer auf sein Konto und da komm ich nun mal nicht ran.«

»Was für ein Schwein!«

Ich hab empört aufgeschnaubt, aber Scharina hat noch immer unglücklich nach unten gestarrt.

»Eigentlich ist es erst so richtig schlimm geworden, als Kevin geglaubt hat, ich erzähl rum, dass wir allein leben.«

»Aber das hast du doch gar nicht.«

Scharina hat den Kopf hängen gelassen. »Nein, aber dieser Typ von der Jugendhilfe war trotzdem da.«

Ich hab mir auf die Lippen gebissen und mich für einen Augenblick ziemlich schlecht gefühlt, aber dann hab ich gedacht, dass dieser blöde Sozialarbeiter ja auch hätte merken können, dass mit Scharina etwas nicht stimmt. Sind die nicht genau für so was ausgebildet?

Dann ist mir noch etwas eingefallen.

»Was war eigentlich mit dem Anruf deiner Mutter bei Frau Simbrinck? Ich meine, als Kevin dich an dem Tag geschlagen hat – hast du ihr auch erzählt, das wäre der Fernseher gewesen?« Scharina hat den Kopf geschüttelt.

»Ich habe Mama nur gesagt, dass du uns jemanden vom Sozialamt nach Hause geschickt hast, weil du mich ärgern wolltest«, hat sie geflüstert. »Und sie hat dann gefragt, ob sie nicht bei Frau Simbrinck anrufen kann, damit du mich nicht weiter so schikanierst. Tut mir leid. Aber ich konnte doch nicht sagen, dass Kevin …«

Scharina hat abgebrochen und ich hatte echte Mühe, vor lauter Empörung nicht zu platzen. Stattdessen habe ich nur ungläubig die Luft ausgestoßen.

»Das heißt, erst schlägt Kevin dich und dann lügst du auch noch für ihn?«

»Aber sonst wäre Mama doch zurückgekommen und hätte ihren Job verloren! Die war sowieso drauf und dran, als die Jugendhilfe sie angerufen hat. Und da ist Kevin die Erklärung mit dem Mobbing eingefallen.«

Scharina hat mich angeschaut, richtig flehend sah das aus.

»So schlimm ist er eigentlich gar nicht. Er hat mir am nächsten Tag sogar einen Teil von meinem Ersparten zurückgegeben. Und eine neue Jacke hat er mir auch geschenkt.«

»Toll, die hatte er wahrscheinlich gerade frisch geklaut.«

Scharina hat daraufhin gar nichts mehr gesagt, sondern nur noch auf die Wellen gestarrt und ich habe mit ihr auf die Wellen gestarrt, und als ich mich wieder zu ihr umgedreht habe, hab ich gemerkt, dass ihre Augen ganz verheult waren, und da hat sie mir wieder furchtbar leidgetan. Also hab ich ihr gesagt, dass ich ihr eben nicht wehtun wollte.

»Wirklich nicht. Die ganze Sache macht mich nur so wütend …« Ich hab einen Blick auf ihre geschwollene Unterlippe geworfen (von der leider ziemlich klar ist, wer sie verursacht hat) und dann leise geseufzt.

»Dabei fällt mir ein, hat Kevin dir eigentlich den Umschlag mit dem Klassenreisengeld gegeben, den ich dir vorbeigebracht habe?«

»Klassenreisengeld?«

Mist. Das war ja klar. Scharina hat mich noch einen Moment fragend angesehen, aber dann ist der Groschen bei ihr gefallen.

»Aber Mama hat gesagt, sie schickt das Geld Frau Simbrinck direkt nach Hause! Ich hab ihr das extra noch mal am Telefon eingeschärft, damit Kevin bloß nichts davon mitkriegt, denn dann hätte ich nicht nach Sylt mitgekonnt, und Mama hat mir versprochen, den Umschlag auch gleich zur Post zu bringen …«

»Na ja, das hat sie auch, aber … Vergiss es. Wenn ich Kevin den Umschlag nicht selber in die Hand gedrückt hätte …«

Ich hab den Satz nicht beendet. Scharina hat mir noch einen Blick zugeworfen und dann geschluckt.

»Oh. Tja dann. Was Kevin hat, das gibt er nicht so schnell wieder her …«

Für einen Augenblick hat Stille geherrscht und dann hat Scharina mich plötzlich ganz merkwürdig angesehen.

»Weißt du, was komisch ist? Seit ein paar Tagen denke ich zum ersten Mal, dass der ganze Scheiß in den letzten Wochen auch was Gutes gehabt haben könnte.«

Ich hab fragend zurückgesehen.

»Und was?«

»Na ja, dich.«

»Oh.«

Ich muss ziemlich dämlich aus der Wäsche geschaut haben, denn bei meinem Anblick hat Scharina zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder gelächelt.

»Hey, guck nicht so! Ich hab doch nur gesagt, dass ich dich mag. Und jetzt denk bloß nicht, dass ich auf Mädchen steh oder so …«

»Ich mag dich auch.«

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Ich weiß gar nicht, wie mir das so schnell rausgerutscht ist, aber im selben Moment, wo ich das gesagt hatte, wusste ich, dass es stimmt. Ich mag Scharina.

Scharina hat gegrinst.

»Weißt du noch, wie du mich damals nach meinem selbst gezeichneten Comic gefragt hast?« »Klar. Du warst ungefähr so freundlich wie ein Bullterrier.« Scharina hat entschuldigend die Schultern gezuckt.

»Ich weiß. Ich war einfach nicht gewohnt, dass einer aus der Hanna-Clique mich anspricht. Aber anschließend hab ich mich echt gefreut«. Sie zögerte einen Moment lang. »Ich hab am nächsten Tag einen ganzen Haufen von meinen Zeichnungen mitgebracht, weil ich dir die, die dir am besten gefällt, schenken wollte. Aber auf dem Schulhof hat Hanna gemeint, dass ich mir bloß nichts einbilden soll. Weil du nur aus Mitleid mit mir geredet hättest.«

»Oh.«

»Na ja und dann hat sie noch gesagt, dass ich meine Assi-Zeichnungen wieder einstecken soll. Meine Figuren würden nämlich alle aussehen wie …«

»Wie …?«

Ich hab Scharina fragend angesehen. Sie hat geschluckt.

»… billige Nutten.«

»Oh.«

Allmählich hätte mir mal was Besseres einfallen können als immer nur »Oh«, aber ich war einfach zu perplex. Hanna kann so was von fies sein! Aber wem sag ich das?

Ich hab Scharina verlegen angesehen und den Kopf geschüttelt. »Tut mir echt leid. Wenn ich das gewusst hätte, dann …« »Ist schon gut. Du kannst ja nichts dafür.«

Für einen Moment war nur das Meeresrauschen zu hören. Scharina hat wieder aufs Wasser geguckt und ich auch. Dann hab ich mir ein Herz gefasst und mich geräuspert.

»Weißt du, was ich noch immer nicht verstehe? Was hat Hanna eigentlich gegen dich? Ich meine, mal abgesehen von dieser Sache damals in der Grundschule, als du ihr das Armband geklaut hast?«

»Was?«

»’tschuldige. Ich weiß, es ist doof, dass sie mir das erzählt hat, aber …«

»Moment mal. Sie hat dir erzählt, ich hätte ihr Armband geklaut?«

»Hast du nicht?«

Ich hab Scharina irritiert angeguckt und sie hat so energisch den Kopf geschüttelt, dass ihre eine schwarze Haarsträhne an der Stirn kleben geblieben ist. Und dabei ist sie so rot geworden wie eine Bombe, die gleich explodiert.

»Nein! Es war genau andersrum. Sie hat MEIN Armband geklaut. Ein silbernes, das meine Mutter mir zur Einschulung geschenkt hat. Unsere Lehrerin hat es durch Zufall bei ihr im Ranzen gefunden und sie musste sich vor der ganzen Klasse bei mir entschuldigen. Danach hat sie angefangen mit diesem Schneewittchen-Mist und … Verdammt, ich fass es nicht! Und sie hat dir gesagt, ich hätte es ihr geklaut?? Diese blöde Kuh!!«

Scharinas Stimme ist ganz laut geworden und ich hab Mühe gehabt, sie daran zu hindern, Hanna und den anderen hinterherzustürmen.

»Warte! Bleib hier! Scharina, nein! Nicht!«

Ich hab Scharina zurückgehalten, weil ich gedacht hab, wenn sie jetzt auf Hanna losgeht, dann schickt Frau Simbrinck sie garantiert wieder zurück nach Hamburg, aber zum Glück hat Scharina im selben Moment eine Möwe auf die Schulter gekackt und wir haben beide vor Schreck aufgeschrien wie die Blöden.

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»Ahhh!«

»Oh, nein! So ein Mist!!«

Scharina hat sich hektisch um die eigene Achse gedreht, weil sie gucken wollte, wo die Vogelkacke genau gelandet ist, und ich hab in meiner Tasche nach Papiertüchern gesucht.

»Warte, ich hab welche. Ganz sicher … Ich weiß nur nicht, wo …«

Ich hab alles Mögliche aus meinen Rucksack geholt und dabei geflucht wie ein Rohrspatz und irgendwann hat Scharina zwischen meinen ganzen »Verdammt, wo sind die denn?« plötzlich angefangen zu lachen. Ich hab sie erst ganz verdattert angesehen, wie sie da stand mit ihren windzerzausten Haaren und der weißen Vogelkacke auf der Jacke, und dann hab ich auch angefangen zu lachen.

»Oh, Mann, das ist alles so bescheuert. Ich kann der blöden Zicke noch nicht mal hinterherrennen, ohne gleich vollgekackt zu werden!«

»Aber wenigstens soll Vogelkacke Glück bringen.«

»Na, super. Andere gewinnen im Lotto und ich krieg stattdessen den Kackeorden verliehen.«

Ich hab Scharina angeguckt und wieder losgekichert und dann haben wir so lange gelacht, bis wir ganz leer gelacht waren.

Anschließend haben wir noch einen Moment still dagesessen. Man hat nur noch die Geräusche der Wellen und ein paar vereinzelte Möwenschreie gehört und dann hab ich gesagt, dass es mir leidtut, dass ich in den letzten Monaten so bescheuert zu ihr war, und sie hat genickt.

»Schon okay. Dabei fällt mir ein, vorhin in der Bahn … Ich hab gesehen, dass sie bei dir im Abteil war. Hanna, meine ich. Seid ihr jetzt wieder befreundet oder …?«

Scharina hat mitten im Satz abgebrochen und ich hab einfach nur den Kopf geschüttelt. Wieder war es ganz still und dann hat Scharina ein bisschen aufgeatmet.

»Übrigens, dass du dich letzte Woche getraut hast, noch mal bei mir vorbeizukommen, das fand ich ganz schön cool. Wo ich dir doch diesen Brief geschrieben hab. Ich war so froh, dass Kevin euch nicht mehr erwischt hat. Dich und deinen Freund, mein ich …«

Nicht mehr erwischt? Eine Sekunde war ich verwirrt, aber im selben Moment hat Scharina noch mal nachgehakt. »Er hat euch doch nicht mehr erwischt, oder?«

Scharina hat mich fragend angesehen und da habe ich erst begriffen, dass sie von der ganzen Keller-Einsperrgeschichte nichts mitbekommen hat. Einen Moment lang hab ich überlegt, ob ich ihr alles erzählen soll, aber dann hab ich mich dagegen entschieden. Schließlich würde sie sich bestimmt Vorwürfe machen und das bringt ja nun wirklich nichts. »Wie bist du eigentlich aus der ganzen Sache rausgekommen? Kevin war doch garantiert stocksauer, oder?«, hab ich schnell gefragt.

Scharina hat gelächelt. »Ich bin erst mal abgehauen, aber als ich abends wieder nach Hause gekommen bin, war er total nett zu mir. Das ist er eigentlich immer, wenn er mich vorher geschlagen hat.«

Durch die Dünen fegte ein Windstoß und mir ist auf einmal ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, so schrecklich fand ich ihren letzten Satz. »Du musst deiner Mutter die Wahrheit sagen, Scharina. Wirklich!«

Das ist mir einfach nur so herausgerutscht, aber im selben Moment habe ich gewusst, dass das die einzige Lösung ist. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Das geht nicht.

Scharina hat auf die Muscheln gestarrt, die überall um uns herumlagen, und als sie wieder hochgeguckt hat, hatte sie Tränen in den Augen. Eigentlich wollte ich sie in den Arm nehmen, aber im selben Moment haben sich ihre Gesichtszüge schon wieder verhärtet und sie ist aufgesprungen.

»Du denkst immer noch, dass alles ganz einfach ist, oder?«

Scharina hat ihre Stimme verstellt und dann in gespielter Aufregung mit den Händen geflattert.

»Mami, Mami, der Kevin hat mich geschlagen …«

Ich hab entnervt die Schultern gezuckt. Vergackeiern kann ich mich schließlich alleine.

»Na, und? Immerhin wüsste deine Mutter so, was los ist. Und vielleicht könnte sie dann einfach aus München kommen und sich Kevin mal so richtig zur Brust nehmen und dann …«

»Du kapierst es einfach nicht! Meine Mutter ist in Bayern noch in der Probezeit! Das bedeutet, dass sie keinen Urlaubsanspruch hat. Außerdem arbeitet sie da in zwei Schichten. Das heißt, sie hat nicht mal so eben ein Wochenende frei. Die Bahnfahrt nach Hamburg dauert allein fast acht Stunden. Sie hätte höchstens zwei, drei Stunden, bevor sie zurückmüsste. Es sei denn, sie riskiert ihren Job, was heißt, dass wir in der Gosse landen. Hast du schon mal von Hartz IV gelebt? Wenn Mama rausbekommen würde, dass das hier oben mit Kevin und mir nicht klappt, dann wäre alles umsonst gewesen.«

»Aber …«

»Wenn sie das halbe Jahr Probezeit schafft, dann holt sie uns nach Bayern nach und …«

»… und so lange willst du dich noch von Kevin schikanieren lassen?«

»Wenn’s sein muss, ja.«

Scharina hat mich böse angeblitzt und ich hab erst mal geschwiegen. Normalerweise hasse ich es, wenn jemand so tut, als wäre ich ein Landei, das von nichts eine Ahnung hat, aber diesmal habe ich mich anders gefühlt. Irgendwie komisch.

Ich glaub, ich hab mich geschämt. Wobei ich noch nicht mal richtig weiß, für was. Kann man sich dafür schämen, dass man in einer Reihenhaussiedlung in einem ziemlich guten Stadtteil groß geworden ist? Mit einer Mutter, die einen jeden Tag fragt, was man essen will (na ja, mal abgesehen von letzter Zeit), und einem Vater, der einem seit zwölf Jahren jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorliest? Und dass man deshalb keine Ahnung hat, wie es ist, allein mit seinem betrunkenen Bruder in einer zugemüllten Hochhauswohnung zu leben? Eigentlich doch nicht. Und trotzdem …

Im selben Moment hab ich einen stechenden Schmerz in meinem rechten Fuß gespürt und Scharina entgeistert angestarrt. AU! Das war mein Fuß!«

»Tut mir leid. Wenn ich sauer bin, muss ich einfach gegen irgendwas treten.« Scharina hat mich schluckend angesehen und auf einmal hat ihre Stimme gar nicht mehr wütend geklungen, sondern nur noch verzweifelt. »Ich versuch immer, mir das abzutrainieren, aber das klappt irgendwie nicht. Manchmal werde ich so sauer, dass mir das richtig selber Angst macht. Das kommt wie angeflogen und dann sehe ich plötzlich rot …«

Ich hab gesagt, dass ich auch manchmal tierisch wütend werde, so wütend, dass ich aus den Ohren rauche, aber das wollte sie mir nicht glauben.

Also hab ich ihr die Geschichte von der Kassiererin erzählt. Ich hab nämlich mal vor lauter Wut eine Frau an der Supermarktkasse ins Bein gebissen. Und die hat später behauptet, sie hätte gesehen, wie dabei Dampf aus meinen Ohren gequollen wäre. Okay, ich war damals erst drei Jahre alt und die Kassiererin trug eine ziemlich dicke Brille und glaubte an die Wiedergeburt Satans, aber immerhin. Scharina hat gelacht und gemeint, so etwas hätte sie mir gar nicht zugetraut.

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»Tja, kannst mal sehen …«

Ich hab gegrinst und anschließend haben wir uns wieder in den Sand gesetzt und die belegten Haferbrötchen, die Mumi mir eingepackt hatte, weggehauen. Die anderen aus der Klasse waren schon längst hinter der nächsten Kurve verschwunden, aber egal, von hier aus war es nicht mehr weit zum Zeltplatz und wir hatten Frau Simbrock nur versprechen müssen, zum Abendessen wieder da zu sein.

Scharina hatte keine Brote mit, aber dafür hab ich die Tüte Chips zur Verfügung gestellt, die ich an Mumi vorbei in meinen Rucksack geschmuggelt hab. Nach den Chips haben wir noch eine Tafel Vollmilchschokolade verputzt, die Scharina zu Hause bei sich gefunden hatte (war eine billige, die ich sonst nicht so gern mag, aber das habe ich Scharina natürlich nicht erzählt) und zwei Dosen Limonade. Anschließend war mir schlecht. Aber es war trotzdem schön! Scharina findet es toll, dass ich später nach Afrika gehen will, sie will nämlich auch ins Ausland, nach Japan und da Manga-Comics zeichnen und …

19.58 Uhr. Im Zelt.

Hatte eben ein Schreibkrampf in der rechten Hand. Mann, tat das weh! Ist ja auch kein Wunder. So viel am Stück hab ich wahrscheinlich noch nie geschrieben. Und gerade als der Krampf vorbei war und ich weiterschreiben wollte, gellte ein lauter Schrei über den Zeltplatz. Klang echt so, als würde gerade jemand abgestochen werden. Habe erst befürchtet, Scharina hätte sich jetzt doch noch Hanna wegen der Armband-Lüge vorgeknöpft, aber Sophie und Franzi, die eben bei mir im Zelt waren, meinten, es wäre nur Silbergebiss-Jannick gewesen, der sich beim Zeltaufbau mit dem Hammer auf den Daumen gehauen hat. Jannick kann einem echt leidtun (ich glaube, es gibt keinen Jungen, der so tollpatschig ist wie er), aber immerhin hatte sein Unfall auch was Gutes. Schließlich sind Sophie und Franzi extra zu mir ins Zelt gekrabbelt, um mir davon zu erzählen.

Scharina ist noch immer im Waschraum. Sie versucht, ihre Jacke sauber zu kriegen. Ob Sophie und Franzi auch zu mir ins Zelt gekommen wären, wenn sie da gewesen wäre? Ich glaube schon. Bei genauerer Betrachtung war eigentlich immer nur Hanna diejenige, die Scharina wie eine Aussätzige behandelt hat.

Wie auch immer. Auf jeden Fall bin ich dank Sophie und Franzi jetzt voll im Bilde über sämtlichen Klatsch in der Klasse und auf dem Zeltplatz und ehrlich gesagt – GOTT, hab ich das vermisst. Muss mir merken, dass ein Beruf mit Schweigepflicht für mich definitiv nicht infrage kommt. Dafür bin ich viel zu neugierig!!!

Okay, Folgendes gibt es zu berichten:

Ein paar Reihen hinter uns scheint eine siebte Klasse aus Kiel ihre Zelte aufgebaut zu haben. Katja findet einen der Jungs megasüß, was sie natürlich nur Sophie, Hanna und Franzi anvertraut hat, während Oliver gleich eines der Mädchen angebaggert hat. Meine Güte, dieser Typ hat WIRKLICH Triebstau. Unfassbar! Allerdings immer noch besser, als mit über vierzig mit einem Foto seines Haustiers in der Brieftasche herumzulaufen, wie Herr Clausen das tut. Im Ernst! Franzi ist vorhin beim Spaziergang neben ihm gegangen und da hat er ihr erzählt, dass er ein Foto von seinem Hasen dabeihat. Franzi meinte, sie hätte erst noch gedacht, was für bekloppte Kosenamen sich Männer manchmal für ihre Frauen ausdenken, aber dann hätte Herr Clausen ein Foto aus seinem Portemonnaie geholt und darauf war keine Frau Clausen, sondern – ein weißer Hase mit Puschelschwanz! Ohne Worte. Betrachte Männerbrieftaschen seit Franzis Enthüllung mit ganz neuen Augen. Wenn mein Lieblingslehrer einen Hasen mit sich in der Tasche herumträgt, wer weiß, was unser schauriger Biolehrer in petto hat. Vielleicht eine Vogelspinne?

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Gleich gibt’s Abendbrot. Unglaublich, aber ich hab schon wieder Hunger. Vermute, ich werde später mal furchtbar dick, wenn ich nicht aufpasse. Ob Ben mich dann noch mögen würde? Hoffentlich.

Bis nachher. Oder falls ich zu müde bin, bis morgen!

0.23 Uhr. Im dunklen Zelt mit Taschenlampe.

Bin aufgewacht, weil irgendein Idiot gegen unser Zelt gepinkelt hat. Wollte Scharina wecken, aber die ratzt so selig, dass ich sie schlafen gelassen hab. Bis ich mich aus dem Schlafsack geschält hatte, war der Pinkler natürlich schon wieder weg. Bin mir nicht sicher, ob es einer aus unserer Klasse war. (Unser Zelt steht etwas abseits, da kommen die anderen eigentlich nicht dran vorbei.) Wenn, war es garantiert Oliver. Oder Christian. So was ist immer einer der beiden. Bin jetzt auf jeden Fall hellwach und kann nicht wieder einschlafen. Außerdem muss ich wieder an Kevin denken. Und an Scharina und die Sache mit dem Comic damals.

Eigentlich lag Hanna nämlich nicht ganz falsch. Ich hab Scharina wirklich nur nach ihrem selbst gezeichneten Comic gefragt, weil sie mir leidgetan hat. Früher hab ich immer gedacht, Mitleid sei ausschließlich etwas Gutes, aber inzwischen denke ich, dass das wahrscheinlich zu einfach ist. Scharina sagt zum Beispiel, sie hasst es, wenn jemand sie bemitleidet, weil das ja eigentlich voraussetzt, dass dieser Jemand denkt, er wäre etwas Besseres. Oder er hätte es irgendwie besser.

Und das stimmt. Ich hab zwar damals nach ihren Zeichnungen gefragt, aber ich hätte mich nie mit Scharina verabredet. Nicht nur, weil es sich nie ergeben hat, sondern vor allem, weil Scharina in der Beliebtheitsskala bei uns in der Klasse ziemlich weit unten steht und ich relativ weit oben und weil ich mir deshalb immer einen Mini-Tick als was Besseres vorgekommen bin. Ganz schön herablassend, oder?

Zum Glück ist das mit dem Mitleid jetzt vorbei. Scharina ist nämlich richtig nett! Und witzig! Und ab heute ist es mir scheißegal, wo jemand in der Beliebtenrangliste steht. Hauptsache, ich mag ihn. Und ich mag Scharina!

Inzwischen haben wir auch richtig viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Sie findet Geometrie genauso blöd wie ich und bei Gummibärchen mag sie am liebsten die orangen, genau wie ich, und vor Spinnen hat sie auch Angst und deshalb hab ich ihr gleich das Fremdwort für unsere Phobie verraten! Gerade noch rechtzeitig, denn kurz vor dem Schlafengehen haben wir eine ganz fette im Zelt gefunden. Keine Phobie, sondern eine Spinne. Das war vielleicht widerlich! Als wir unsere Taschenlampen schon ausgemacht hatten, hab ich ihr im Dunkeln dann erzählt, was bei mir zu Hause los ist, von wegen Papas Auszug und so.

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Und dabei habe ich festgestellt, dass Scharina richtig gut zuhören kann. Anders als Sharon. Die kann das zwar auch super, aber bei Scharina hab ich mehr das Gefühl, dass sie haargenau nachempfindet, wie es mir geht. Keine Ahnung, woran das liegt. Obwohl … Vielleicht doch. Schließlich sind unsere Probleme ziemlich ähnlich. Zumindest ungefähr.

Was macht man, wenn man dringend Hilfe braucht, aber die Eltern nicht um Hilfe bitten kann, weil sie genügend eigene

Probleme haben? Ich habe in solchen Situationen immer Sharon angerufen, aber für Scharina ist das wohl nichts. Wahrscheinlich würde Sharon ihr nur raten, ihre Mutter zu informieren. Und damit wären wir wieder beim Hauptproblem: Kann man Scharinas Mutter sagen, was los ist? Und damit riskieren, dass sie sich aufregt und nach Hamburg kommt und deswegen ihren Job verliert?

Hm. Weißt du, was mir gerade auch noch einfällt? Was ist, wenn … Nee, das kann nicht sein, oder? Aber wenn doch … Also, was wäre, wenn Scharina sich endlich traut, ihrer Mutter die Wahrheit zu erzählen, und ihre Mutter ihr nicht glaubt, dass Kevin sie geschlagen hat? Und stattdessen sagt, dass Scharina sich das Ganze nur ausgedacht hat? Oder wenn sie Scharina zwar glaubt, aber sagt, dass Kevin bestimmt nur einen schlechten Tag gehabt hat und dass ein paar Schläge noch niemandem geschadet haben? Ich mein, eigentlich gibt es natürlich keine Entschuldigung für einen Siebzehnjährigen, der seine zwölfjährige Schwester grün und blau schlägt. Ist ja klar. Schließlich ist er zehnmal stärker als sie und groß gegen klein ist sowieso unfair. Und selbst wenn er das nur macht, wenn er betrunken ist – ich kann ja auch keinen umbringen und dann hinterher sagen, oh, tut mir leid, ich war ja betrunken.

Und außerdem lernt ja schon jedes Kind im Kindergarten, dass Schlagen keine Lösung ist, egal ob man nun was getrunken hat oder nicht.

Andererseits weiß ich, dass mindestens drei Kinder aus unserer Klasse ab und zu mal eine gelangt kriegen. Zwar nicht von ihren älteren Geschwistern, aber dafür von ihren Eltern. Und das ist fast noch schlimmer, finde ich. Oliver zum Beispiel. Und Christian auch. Obwohl seine Eltern früher selber in einem Kinderladen waren und es bei ihm zu Hause nur biologischdynamisches Essen gibt. Und Jana hatte neulich eine richtig rote Wange, weil ihrer Mutter die Hand ausgerutscht ist. (Eigentlich ein komisches Wort, oder? Ausrutschen. Klingt, als ob man gar nichts dafür kann. Dabei kann man ja sehr wohl etwas dafür.)

Oliver hat neulich im Klassenrat erzählt, dass er zu Hause nur eine Tracht Prügel kassiert, wenn er’s auch verdient hat. Das fand ich noch komischer. Ich hab gefragt, was man denn getan haben muss, um das zu verdienen, und er hat gesagt, zum Beispiel, ohne vorher Bescheid zu sagen, zu spät nach Hause kommen. Also, ich bin auch schon ein paar Mal zu spät nach Hause gekommen, aber meine Eltern sind noch nie auf den Gedanken gekommen, mir dafür Dresche zu verabreichen. Ich finde, überhaupt kein Kind auf der Welt hat es verdient, geschlagen zu werden. Egal, was es angestellt hat. Schlagen tut man einfach nicht.