Donnerstag, der 27. Mai

image Höhepunkte image

1) Habe in der Nacht eine grandiose Idee gehabt und sie heute früh auch gleich Scharina präsentiert. Mir ist nämlich eingefallen, dass sie vorerst zu uns ziehen könnte, bis die Sache mit ihrer Mutter und Kevin geklärt ist. Dann ist sie aus dem Schussfeld und ihre Mutter wird, wenn sie ihr das mit Kevin und dem Schlagen erzählt hat, vielleicht nicht so panisch, weil sie weiß, dass es Scharina bei uns gut geht. Erst hab ich befürchtet, Scharina zeigt mir gleich einen Vogel, aber dann hat sie mich plötzlich ganz doll umarmt. Und anschließend hat sie gesagt, sie würde es sich überlegen. Yeah!

2) Mama hat eben angerufen und Bescheid gesagt, dass sie wieder zu Hause ist und dass es ihr gut geht. Ottilie und Mumi sind auch da und für einen Moment war ich total erleichtert, weil Mamas Stimme nicht mehr so verloren klang, sondern fast normal. Gott sei Dank! (Ich hab mich nicht getraut, über Papas und ihren Streit zu reden, und sie hat das Thema auch nicht erwähnt. Keine Ahnung, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist …)

3) Bei dem ganzen Durcheinander habe ich ganz vergessen zu erzählen, dass ich gestern beim Auspacken ein Päckchen von Ben in meinem Rucksack gefunden hab. In dem Päckchen war ein kleiner selbst geschtutzter Detfin. Mein Lieblingstier! Ist das nicht supersüß??

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image Tiefpunkte image

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1) Wurde heute um 6.30 Uhr von grauenvollen Geräuschen geweckt. Vermutete im Halbschlaf, der Pinkler wäre zurückgekehrt, aber es war Jannick mit seinem Akkordeon. Scheinbar wollte er »Dancing Queen« von »Abba« spielen, aber es klang eher wie »Alle meine Entchen« auf Drogen. Frau Simbrinck hat ihn beim Frühstück für seine »originelle« Weckaktion gelobt, aber die Klasse sah das definitiv anders. Vermute, wenn er das morgen noch mal macht, wird er gelyncht.

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2) Oliver hat ein Heft mit nackten Frauen mit und die Hälfte der Jungs ist nach dem Frühstück ab in die Dünen, um sich das Teil gemeinsam anzugucken. Habe früher gedacht, dass es nichts Peinlicheres gibt als Jungs aus der Fünften, scheine mich aber geirrt zu haben. Jungs aus der Sechsten sind noch hundertmal peinlicher.

Laut Plan sollten wir heute eine Wattwanderung machen, aber die ist jetzt auf morgen verschoben. Stattdessen steht heute Vormittag die Dorfbegehung von Keitum auf dem Programm. Anschließend besuchen wir das Heimatmuseum und heute Nachmittag haben wir zwei Stunden zur freien Verfügung. Eigentlich würde ich die Zeit lieber mit Scharina verbringen, aber Sophie hat mich gefragt, ob ich mit nach Westerland ins Schwimmbad komme. Und obwohl ich genau weiß, dass Hanna dabei sein wird, habe ich zugesagt, weil sonst Sophie vielleicht glaubt, ich würde sie nicht mehr mögen, nur weil sie noch mit Hanna herumzieht.

Sophie war die Einzige, die zu mir gehalten und mir die Sache mit Ben erklärt hat, und das werde ich ihr NIE vergessen!!!!! Und deswegen gehe ich mit. Habe Scharina gefragt, ob sie nicht auch Lust hat, aber sie hat gesagt, sie würde lieber bei Jannick bleiben und sich um seinen verletzten Daumen kümmern. Habe nicht weiter nachgefragt, weil ich annehme, dass sie nur nach einer Ausrede gesucht hat. (Dass sie dabei rot geworden ist, kann unmöglich etwas mit Jannick zu tun haben. Schließlich ist Jannick ungefähr so erotisch wie Ottilies Schnuller …)

17.13 Uhr. Nach dem Schwimmen. Wieder im Zelt.

Mein Gott! Was für zwei Stunden!

WARUM LÄUFT IN MEINEM LEBEN NUR ALLES FALSCH??????

Erst mache ich mir wochenlang Sorgen, was ist, wenn Hanna nicht mehr meine Freundin sein will. Und jetzt, wo ICH sie gar nicht mehr will, kriege ich sie quasi aufgenötigt.

Der Besuch im Schwimmbad war einfach grauenvoll! Die ganze Zeit hat Hanna den anderen von unserer Freundschaft vorgeschwärmt, von wegen wie toll die wäre und was wir schon alles zusammen durchgestanden hätten, und sie hat überhaupt nicht kapiert, dass das längst Vergangenheit ist. Zuerst habe ich noch versucht, dagegen zu reden, aber das hat das Ganze nur noch schlimmer gemacht, weil sie plötzlich so getan hat, als hätte ich gerade meine Tage und sei deshalb nur ein bisschen gereizt. (Dabei weiß sie genau, dass ich die noch nicht habe!!) Irgendwann war ich so sauer, dass ich ihren Arm abgeschüttelt habe, richtig grob, und dann wollte ich ihre Armband-Lüge vor allen aufs Tablett bringen, aber da ist Herr Clausen auf uns zugeschwommen und ich hab mir die Sache doch wieder verkniffen. Ich mein, nicht dass sie es nicht verdient hätte, aber sie vor einem Lehrer bloßzustellen … Das ist dann doch etwas anderes.

Also habe ich mir vorgenommen, heute Abend, wenn wir beim Kartoffelschälen nur zu viert sind, reinen Tisch mit ihr zu machen. Entweder sie entschuldigt sich bei Scharina und nimmt alles zurück, was sie über sie gesagt hat, oder sie kann sich warm anziehen!

17.42 Uhr.

War eben bei Sophie und Hanna im Zelt und habe Bescheid gesagt, dass Scharina mit Kartoffeln schält. (Wir grillen nämlich heute Abend und jeder muss was mit vorbereiten.) Hanna hat mich erst ungläubig angeguckt und dann gemeint, sie könne unmöglich mit Scharina im selben Zelt Kartoffeln schälen, weil Scharina nach Schweiß stinken würde, und davon würde ihr schlecht werden. Ich habe Hanna erwidert, dass mir von ihren blöden Bemerkungen auch schlecht wird. Anschließend war Stille. Dann bin ich abgerauscht.

18.09 Uhr.

Hanna war eben bei uns im Zelt. Sie hat Scharina drohend angefunkelt und dann gemeint, dass es so nicht weitergeht. Ich wollte ihr gerade sagen, dass sie damit absolut recht hat, weil sie nämlich endlich aufhören soll, ständig irgendwelche fiesen Lügengeschichten über andere zu verbreiten, da hat sie sich zu mir umgedreht und theatralisch ihre Arme ausgebreitet.

»Du musst dich entscheiden. Entweder Schneewittchen – oder ich!«

Ich hab gedacht, jetzt dreht sie völlig durch. Schließlich hab ich mich ja längst entschieden, nur dass sie das nicht wahrhaben will. Gerade als ich ihr stecken wollte, dass wir uns hier nicht in einer ihrer bescheuerten Fernsehsoaps befinden, hat Scharina ihre Jacke genommen und ist in Richtung Ausgang gekrabbelt. Ich hab versucht, sie zurückzuhalten, aber sie hat meinen Arm einfach abgeschüttelt.

»Schon gut, Julie. Ist besser, wenn ihr das erst mal alleine regelt.«

Ich hab entgeistert den Kopf geschüttelt und dann gemeint, da gäbe es überhaupt nichts zu regeln. Und außerdem hätte Hanna ja vor allem ihr Unrecht getan und das würde jetzt ein für alle Mal geklärt werden.

»Du bleibst hier, das ist ja wohl klar. Und was Hanna anbelangt …«

Im selben Moment hat Hanna von hinten herübergezischt, ich solle Scharina bloß gehen lassen, dann würde die Luft hier drinnen auch besser werden, und da ist mir endgültig der Geduldsfaden gerissen. Ich bin herumgefahren und hab zu Hanna gesagt, wenn hier einer verschwindet, dann ja wohl sie. Meine Stimme hat richtig gezittert vor Wut. Hanna hat mich angestarrt wie eine Furie, aber ich hab einfach weitergeredet. »Immerhin weiß ich inzwischen, wer hier wem in der Grundschule das Armband geklaut hat! Und damit das klar ist: Scharina ist meine Freundin, kapiert? Und wenn du dich nicht sofort bei ihr entschuldigst, dann … «

Eigentlich wollte ich noch weiterreden, aber bei Hanna muss irgendwas ausgerastet sein. Plötzlich hat sie ausgeholt, als ob sie mir eine knallen wollte, aber zum Glück war ich diesmal schneller als auf dem Spielplatz und bin nach hinten ausgewichen, sodass sie das Gleichgewicht verloren hat und voll auf den Zeltboden geknallt ist. Krawumm!

Ich hab völlig perplex auf den Boden gestarrt, wo Hanna sich langsam wieder aufgerappelt hat. Scharina hat die Hand ausgestreckt, um ihr zu helfen, aber Hanna hat sie nur mit einem »Fass mich nicht an!« zurückgestoßen und ist aus dem Zelt gestürzt.

Unglaublich, oder? Meine Eltern wollen sich scheiden lassen, Scharina muss in zwei Tagen zurück zu einem Bruder, der sie schlägt, und Hanna hat nichts anderes zu tun, als die Dramaqueen zu geben. Ahhhhhhhhhhhhlhhhhhhhhhh!!!!!!

21.08 Uhr. Nach dem Abendessen. Wieder im Zelt.

Oh, Mann, ich sag dir. Das Grillen am Strand war echt anstrengend. Mumi hat mir mal was über die Aura eines Menschen erzählt. Aura ist quasi so etwas wie Ausstrahlung. Freundliche, zufriedene Menschen haben eine gute Aura und gereizte eher eine schlechte. Damals fand ich das etwas abgedreht, aber was eine schlechte Aura ist, ist mir nach dem heutigen Abend absolut klar. Dazu musste man sich nur Hanna angucken. Die hat eine so giftige Atmosphäre um sich herum verbreitet, dass selbst Katja sich von ihr weggesetzt hat.

Den anderen aus der Klasse scheint es ähnlich gegangen zu sein. Auf jeden Fall saß Hanna plötzlich ganz allein am Feuer und niemand hat sich mehr groß um sie gekümmert. Sophie hat Scharina und mich gefragt, ob wir nicht zusammen das Stockbrot auf die Stöcke drehen wollen, und Jette hat sich bei Scharina erkundigt, wie sie ihre Comicfiguren eigentlich genau zeichnet. Scharina hat uns mit einem Stock eine Figur in den Sand vorgezeichnet und alle waren schwer beeindruckt.

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Anschließend haben wir uns noch richtig nett unterhalten. Jette hat von ihrer Mutter erzählt, die ständig nur darüber redet, wie viel sie abnehmen müsste, um den richtigen BMI zu haben (das ist irgendeine Art Verhältnis zwischen Gewicht und Größe, genau kapiert hab ich’s nicht), und Sophie hat uns anvertraut, dass sie Marc, den Freund von Fiete und Ben aus der Band, total süß findet. Ja, du hast richtig gehört. Den bekloppten Marc. Findet sie »süß«. Na ja. Wie gut, dass Geschmäcker verschieden sind.

Hanna saß derweil ab vom Schuss und hat geschmollt. Ab und zu hab ich ihren hasserfüllten Blick im Rücken gespürt, fast so, als wär’s ein Laserstrahl, aber ich hab mich einfach nicht umgedreht. Ist schon erstaunlich, was man so alles ignorieren kann, wenn man es will.

23.14 Uhr nachts. Allein im Zelt.

Ich glaube, ich hab Mist gebaut. Scharina ist irgendwo draußen allein am Strand und ich liege hier in meinem Schlafsack und ärgere mich über mich selbst. Dabei hat der Abend so schön angefangen …

Nach dem Grillen sind Scharina und ich zurück in unser Zelt und haben es uns richtig gemütlich gemacht. Wir haben den Wecker für die Wattwanderung morgen gestellt und dann die Schlafsäcke bis ganz oben zugezogen und uns vors Zelt gelegt und der Brandung zugehört, die man vom Meer her hören konnte. Der ganze Himmel war rosa-gelb gesprenkelt und die Sonne war ein einziger roter Feuerball, der ganz langsam hinter den Dünen versunken ist. Als es ganz dunkel war, sind wir ins Zelt gekrabbelt und Scharina hat eine Kerze angezündet. Ich hab noch einen Rest Proviant von Mumi in meiner Tasche entdeckt und dann haben wir Kekse gegessen und dabei lauter Blödsinn gequatscht. Wen wir später wohl mal heiraten werden und all so was.

Je länger wir über Jungs und Verliebtsein geredet haben, umso mehr Sehnsucht habe ich nach Ben bekommen, und als Scharina noch mal rausgeklettert ist, um aufs Klo zu gehen, hab ich ihn heimlich auf seinem Handy angerufen. Ich hatte richtig Herzklopfen, weil mir erst während des Klingelns bewusst geworden ist, wie spät es schon ist. Zum Glück ist er aber gleich rangegangen, fast so als ob er auf meinen Anruf gewartet hätte. Ich hab gesagt »Hallo, hier ist Julie von Sylt« und er hat geantwortet »Hallo, hier ist Ben aus Hamburg« und dann mussten wir beide lachen. Ich hab gedacht, wenn ich ihm jetzt sage, wie sehr ich ihn vermisse, findet er das bestimmt schwülstig. Also habe ich ihm alles Mögliche über das Wetter erzählt: dass es heute den ganzen Vormittag leicht genieselt hat und so weiter. Ben hat gesagt, dass es in Hamburg auch genieselt hat, und dann hat er sich nach der Wassertemperatur von Westerland erkundigt. Ich hab ihm sämtliche Wassertemperaturen von Westerland, List und Hörnum genannt (darüber haben wir nämlich gestern im Museum geredet) und dann ist mir nichts mehr eingefallen. Für einen Augenblick herrschte eine total peinliche Stille. Ich hab verzweifelt nach irgendetwas gesucht, was ich sagen könnte, aber zum Glück hat Ben sich in dem Moment ein Herz gefasst und gemeint, das wäre doch alles Bullshit.

»Ehrlich gesagt, interessiert mich die Wassertemperatur von Sylt die Doppelnull. Es sei denn, sie interessiert dich. Weil das Einzige, an das ich ständig denken muss, bist nämlich du.« »Oh.«

Danach war Stille (aber gar keine peinliche, sondern eine schöne) und dann hat Ben mir erzählt, dass er heute sogar ein Foto von mir in seinen Gitarrenkasten geklebt hat. Ben hat mich gefragt, ob ich das kitschig finde (die anderen aus der Band haben nämlich gesagt, das wäre der totale Schmalz), aber ich habe geantwortet, nicht ein bisschen! (Erinnere mich daran, dass ich Ben in Hamburg unbedingt nach einem Foto von sich frage!!!)

Anschließend haben wir noch über Scharina geredet. Ben hat gemeint, dass wir endlich Nägel mit Köpfen machen müssen, damit Scharina nicht wieder zu ihrem Bruder zurückmuss, und ich habe ihm versprochen, gleich noch mal mit ihr darüber zu reden. Ben meinte, ich sollte damit besser bis zum nächsten Morgen warten, wenn wir alle ausgeschlafen sind, aber irgendwie war ich auf dem Trichter »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Na und das ist dann prompt nach hinten losgegangen.

Als Scharina vom Waschraum zurückgekommen ist, habe ich sie gefragt, ob das mit dem Zu-mir-Ziehen jetzt klargeht. Sie hat ein bisschen rumgedruckst und dann gemeint, dass sie nicht sicher sei, ob das wirklich so eine gute Idee wäre.

»Nach dem, was du erzählst hast, haben deine Eltern im Moment doch bestimmt keinen Bock auf Fremde im Haus.

Und außerdem … ich wette, die wären total geschockt, wenn du auf einmal mit jemanden wie mir ankommst …«

Scharina nestelte nervös an ihren Fingernägeln herum und ich hab gemerkt, dass ich jetzt schnell etwas sagen muss, wenn ich nicht will, dass sie sich wieder in ihr Schneckenhaus verkriecht. Also hab ich ihr erzählt, dass meine Eltern sie bestimmt sehr nett finden und dass sie sich darüber sowieso gar keine Sorgen machen muss, weil ich nämlich schon mit denen geredet hätte und von deren Seite alles klar sei. (Okay, das war eine Notlüge, aber manchmal braucht man die eben.) Ich hab gedacht, dass Scharina jetzt bestimmt erleichtert aufatmet, aber das hat sie nicht getan. Stattdessen hat sie wieder zu Boden geguckt und sich dabei auf die Lippen gebissen. Und da hab ich gemerkt, dass ihr noch etwas anderes auf der Seele liegt.

»He, ansonsten alles in Ordnung? Soll ich vielleicht dabei sein, wenn du mit deiner Mutter telefonierst? Falls du Schiss hast, kann ich ja einfach neben dir stehen und … Scharina?«

Ich hab Scharina fragend angeguckt, aber die hat nur auf ihren Schlafsack gestarrt und dabei nervös ihre Finger knacken lassen.

»Alles in Ordnung?!«

»Meinst du, dass das mit dem Telefonieren wirklich nötig ist?« Ich hab Scharina verdutzt angeguckt, aber sie hat meinen Blick nicht erwidert, sondern verlegen den Reißverschluss von ihrem Schlafsack auf- und wieder zugezogen.

»Ich könnte meiner Mutter doch einfach erzählen, deine Eltern hätten mich für ein paar Tage zu euch eingeladen, weil wir gemeinsam ein Referat vorbereiten müssen, und dann …«

»Und dann WAS? Dann gehst du nach ein paar Tagen wieder zu Kevin zurück?! Und alles bleibt so, wie es ist?!«

Scharina muss an meiner Stimme gehört haben, was ich von ihrer Idee gehalten habe, denn statt einer Antwort hat sie sich gereizt zur Seite umgedreht, sodass ich nur noch ihren dunklen Haarschopf sehen konnte. Und dann hat sie gemurmelt, dass das Ganze ja wohl noch immer ihre Sache sei.

»Vielleicht lässt Kevin mich ja in Ruhe, wenn ich erst mal eine Zeit weg bin. Vielleicht sollte ich das Ganze einfach nicht so hochkochen lassen, ich mein, das mit dem Stuhlbein hat er ja früher nicht gemacht, vielleicht war das nur so ’ne Art Ausrutscher …«

»Stuhlbein? Er hat dich mit einem Stuhlbein geschlagen?«

»Na ja, er hatte ein paar von seinen komischen Freunden da und wir hatten kein Bier mehr im Kühlschrank und da wollte er, dass ich was unten aus dem Laden hole, aber ich hatte keinen Bock und da …«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?? Der Typ verprügelt dich mit einem Stuhlbein, weil du ihm kein Bier holst, und du meinst, er hört damit auf, wenn du ein paar Tage weg bist? Wie blöd bist du eigentlich??«

Eigentlich wollte ich gar nicht so wütend werden und sie auch nicht anbrüllen, aber die Geschichte mit dem Stuhlbein war einfach eins zu viel. Plötzlich hab ich gewusst, dass sie sich nie trauen wird, irgendwas gegen ihren Halbbruder zu unternehmen. Und dass es immer so weitergehen wird mit den Schlägen und den Geschenken als Entschuldigung und dann wieder den Schlägen, es sei denn, ich würde es schaffen, sie jetzt wachzurütteln. Also hab ich meine Beine aus dem Schlafsack gezogen, mich kurz entschlossen aufgesetzt und sie an der Schulter gepackt.

»He, was soll denn das?! Lass mich los!«

»Du hörst mir jetzt zu!«

Scharina hat wie eine Wilde um sich gestrampelt, aber ich hab mich einfach auf sie draufgesetzt und dabei ihre Hände, mit denen sie mich abschütteln wollte, festgehalten. Und dann hab ich wie eine Geisteskranke auf sie eingeredet.

»Kapierst du’s nicht? Kevin wird nicht von allein damit aufhören! Es sei denn, du redest endlich mit deiner Mutter! Schließlich kann sie dir nur helfen, wenn sie weiß, was los ist …«

»Und wenn nicht? Wenn sie mir nicht hilft?«

»Aber wieso sollte sie dir nicht …«

Ich hab Scharina perplex angesehen, aber im selben Moment hatte sie mich schon von sich runtergeschubst und ist mitsamt ihrem Schlafsack zum Zeltausgang gestürzt.

»Du hast keine Ahnung! Kevin ist doch ihr beschissener Held. Der ihr immer so leidtut, weil er ja keine Mutter mehr hat. Und den sie deshalb sowieso viel lieber hat als mich! Scheiße …« »Scharina? Bleib hier! Bitte!!«

Ich bin, so schnell ich konnte, hinter ihr hergekrabbelt, aber draußen vorm Zelt bin ich über einen der Heringe gestolpert und das war’s dann. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, war von Scharina weit und breit nichts mehr zu sehen. Oh, Mann …

15 Minuten später.

Inzwischen hab ich den Campingplatz zweimal nach ihr abgegrast, aber nichts! So ein verdammter Mist! Ich bin echt der größte Idiot aller lebenden Idioten! Jetzt redet sie morgen garantiert kein Wort mit mir und das mit dem Bei-mir-Einziehen kann ich wahrscheinlich auch vergessen.

HERZINCHEN GLÜCKWUNSCH, julie. noch mehr verbocken kann man so eine Sache wohl nicht. Das war mal wieder eine Glanzleistung!

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