Berlin, Prenzlauer Berg. Eine vielbefahrene, breite Straße, gesäumt von hohen Laubbäumen. Geschäfte und Lokale im Erdgeschoss der Vorderhäuser, die fast alle um 1900 erbaut worden waren. Jahrzehntelang waren sie nichts wert gewesen. Kaum einer hatte in den Gebäuden leben wollen. Niemand hatte sich um sie gekümmert, denn sie lagen zu dicht an der Berliner Mauer. Doch das gehörte der Vergangenheit an. Die Mauer war gefallen und mit ihr kamen Investoren. Und Geld. Jede Menge Geld. Gentrifizierung nannte man das. Die Ruinen wurden grundsaniert, frisch angestrichen und teuer verkauft oder vermietet.
Das Haus, vor dem ich stand, machte keine Ausnahme. Fünfstöckig, imposant, fast protzig teilte es seinem Betrachter mit: Du musst es dir leisten können, in mir zu wohnen .
Ich öffnete den rechten Flügel des rund einhundertfünfzig Jahre alten Tors, das sich zwischen einer Nobelboutique und einem indischen Restaurant befand, und betrat den sich anschließenden Durchgang. Der Bewegungsmelder reagierte prompt und die Jugendstillampen an der bestimmt vier Meter hohen gewölbten Stuckdecke sprangen an. Ihr Licht spiegelte sich in dem originalen, bestens restaurierten Granitboden wider. Die Sohlen meiner Dr. Martens quietschten leise bei jedem Schritt.
Eine weitere Tür, und ich erreichte den ersten Hinterhof – teils gepflastert, teils betoniert und etwas Asphalt war auch noch da. Dazwischen wuchs fröhlich das Unkraut. Nicht mehr ganz so üppig wie vor einem Jahr, doch immer, wenn ich eine Ecke gesäubert hatte, zwängten sich die Gräser an anderer Stelle umso ungehemmter durch die zahllosen Risse und Spalten des verwitterten Belags.
Vor mir erhob sich das erste Hinterhaus in einer Reihe von insgesamt dreien. Der Unterschied zu dem aufwändig sanierten Vorderhaus hätte größer nicht sein können. Kein Prunk, kein Pomp, dafür eine schmutzig-graue, nahezu schwarze Fassade im klassizistischen Stil mit weitflächig bröckelndem Putz, der das Mauerwerk frei gab. Aber, und das war auffällig: brandneue, doppelt verglaste Fenster. Sie waren überaus praktisch, man konnte sie nicht nur gefahrlos öffnen, ohne befürchten zu müssen, dass sie einem auf den Kopf fielen. Sie ließen sich sogar kippen. Welch ein Luxus!
In der Mitte des Hinterhauses – ähnlich wie beim vorderen Gebäude - befand sich ein weiterer Durchlass, von dem aus man das innenliegende Treppenhaus erreichte und der zum Hinterhof Nummer zwei führte. Doch dieser glich mehr einem Tunnel. Aber einem schönen Tunnel. Die Graffiti-Schmierereien waren verschwunden, ebenso die zahllosen Fahrradleichen und die drei verrosteten Kinderwagen, die man irgendwann an der Seite geparkt und vergessen hatte. Gemeinsam mit Darius, dem Sohn von Kriminalkommissarin Pardis Fleischmann, hatte ich die tristen Wände farbenfroh bemalt. Ein bunter, hinreißender Zoo war entstanden mit Elefanten, einer Giraffe, Zebras und Löwen. Wir waren noch nicht fertig, denn Darius ließ sich nicht hetzen. Er war ein überaus talentierter, hoch intelligenter Junge, und es bereitete mir großen Spaß, mit ihm zu arbeiten. Darius hatte seine eigene Art, die Welt zu sehen und mit anderen zu kommunizieren. Fremde und Ärzte mochten ihn als Autist bezeichnen. Ich schätzte mich glücklich, ihn und seine Mutter zu meinen Freunden zählen zu dürfen.
Als ich Pardis das erste Mal getroffen hatte, wollte ich ihr eine Kugel in den Kopf jagen. Doch manche Dinge ändern sich und gelegentlich zum Positiven. Bei Pardis war das definitiv der Fall.
Das Erdgeschoss des Hinterhauses beherbergte auf der linken Seite einen Laden. Madame Scuderi, Esoterik und mehr prangte auf einem mit Hand beschriebenen Brett über der schmalen Tür. Das Geschäft gehörte Gabriele Scuderi, die gleichzeitig die Eigentümerin der drei heruntergekommenen Hinterhäuser war. Ich musste lächeln, als ich an Gabriele dachte. Auch sie war Teil meines kleinen Freundeskreises. Ganz sicher.
Rechter Hand vom tunnelartigen Durchlass befanden sich frisch renovierte Büroräume. Seit einer Woche konnte man sogar erkennen, wer darin arbeitete. Storm & Partner, Rechtsanwaltskanzlei prangte auf dem schlichten nagelneuen Metallschild, welches neben dem Eingang hing.
Ich ging die wenigen Stufen hinauf und trat ein. Das erste Büro stand offen. Ursprünglich hatten wir es als Besprechungszimmer vorgesehen, denn es handelte sich um den bei weitem größten Raum. Doch daraus war nichts geworden. Wiebke Wondratschek stieß zu uns. Und mit ihr gefühlt Dutzende von Computern, Monitoren und anderem technischen Schnickschnack, von dem ich keine Ahnung hatte. Sie aber schon. Und wie! Hochoffiziell stellten wir sie stets als unsere Computerfachfrau vor. In Wirklichkeit war sie eine begnadete Hackerin, die bislang jedes System hatte knacken können. Sie beschaffte uns Informationen, an die wir sonst niemals herankommen würden.
Und Wiebke liebte Trolle. Diese kleinen abartigen Plastikfiguren mit ihren riesigen Köpfen, Kulleraugen und bunten, abstehenden Haaren. Sie sammelte sie mit Hingabe und legte Wert darauf, ihre Lieblinge bei ihrer Arbeit um sich zu haben. Ich konnte nicht sagen, wie viele dieser Monster sie besaß. Sie schienen sich ständig zu vermehren. Ihr Büro war voll davon.
Wiebke bemerkte mich und sah von ihrem Laptop auf. Sie strich sich ihr blondgefärbtes Haar aus der Stirn, rückte ihre kanariengelbe Brille zurecht und verschränkte ihre rundlichen Arme vor ihrem beachtlichen Dekolletee. Sie wusste genau, woher ich kam, doch sie fragte nicht nach. Stattdessen beschränkte sie sich auf ein »Hi.« Ihre großen Ohrringe wippten leicht.
Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung des zweiten Büros. »Sind die noch drinnen?«
»Ja.« Wiebke schnitt eine Grimasse. »Das scheint sich hinzuziehen. Vorhin wurde es etwas arg laut. Momentan sind sie zur Abwechslung mal ruhig.«
»Na«, meinte ich. »Das wird sich gleich wieder ändern.«
Wiebke grinste vielsagend. »Dann viel Spaß.«
Ich nickte und wandte mich dem nächsten Zimmer zu. Ohne anzuklopfen, machte ich die Tür auf, ging hinein und schloss sie hinter mir.
Ich lehnte mich an die Wand und ließ meinen Blick über den Raum schweifen. Ein moderner Arbeitsplatz. Regale mit Aktenordnern. Ein Schreibtisch, dahinter saß ein großer, gutaussehender Mann mit blauen Augen. Maßgeschneiderter Anzug, die blonden langen Haare sauber zu einem Pferdeschwanz gebunden. In diesem Outfit wirkte Maximilian beinahe seriös. Ihm gegenüber, in einem der Besucherstühle, hatte ein grauhaariger Mann Platz genommen. Um die fünfzig, ebenfalls mit einem maßgeschneiderten Anzug bekleidet, randlose Brille und an zwei seiner Wurstfinger fette goldglänzende Herrenringe jeweils mit einem noch fetteren Klunkerstein. Rupert König.
Maximilian und König hatten ihre Diskussion abgebrochen, sobald ich eingetreten war. Beide musterten mich. Maximilian mit kaum verhohlener Neugierde, König mit feindseligem Ausdruck im Gesicht.
Ich nickte Maximilian unmerklich zu und konnte beobachten, wie er sich augenblicklich entspannte. Ein mildes, zufriedenes Lächeln spielte um seinen Mund.
König blieb das nicht verborgen. Stirnrunzelnd sah er von Maximilian zu mir und wieder zurück.
»Darf ich vorstellen?«, begann Maximilian. »Das ist Frau Groß, meine Geschäftspartnerin.«
»So?«, erwiderte König knapp und musterte abschätzig meine abgewetzte Lederjacke, meine Jeans und meine Springerstiefel, bevor er sich darauf konzentrierte, mich niederzustarren.
Ich hielt seinem Blick stand.
»Hast du’s?«, fragte mich Maximilian.
»Ja«, gab ich zurück.
Königs linker Mundwinkel zuckte. »Darf ich fragen, was hier los ist?«
»Sicher«, sagte ich. »Auf dem Grundstück, das Sie unserem Klienten als Bauland verkauft haben, haben Sie jahrelang unsachgemäß Chemieabfälle entsorgt. Unserem Klienten ist dadurch ein enorm großer Schaden entstanden, für den Sie verantwortlich sind.«
König schnaubte verächtlich. »Nur weil Herr Storm«, er wies mit seinem dicken Zeigefinger auf Maximilian, »und jetzt Sie«, sein Finger wanderte in meine Richtung, »diese irrsinnige Behauptung gebetsmühlenartig wiederholen, wird sie nicht wahrer. Im Gegenteil: Es ist eine glatte Lüge. Ich habe beim Notar im Zuge des Verkaufs eidesstattlich angegeben, dass mit der Fläche, soweit mir bekannt, alles in Ordnung ist. Dass sich jetzt bei Grabungen etwas anderes herausstellt … Nun, das ist unangenehm für den Käufer, aber dafür kann ich wirklich nichts. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.«
»Sabino Gärtner«, sagte ich.
König war sicherlich geübt darin, seine Emotionen unter einem Pokerface zu verbergen. Doch diesmal gelang es ihm nicht vollständig. Seine Wangen wurden eine Spur heller.
Er räusperte sich. »Wer soll das sein?«
»Einer Ihrer stillen Kompagnons«, gab ich bereitwillig Auskunft. »Um genau zu sein: ein Ex-Kompagnon von Ihnen.«
König blieb eine Weile stumm und nagte an seiner Unterlippe. »Woher haben Sie diese Information?«
Ich lächelte breit. »Das war leicht.« Das stimmte sogar. Wiebke hatte mit ihren Computern und ihrem Hacker-Voodoo keine Stunde gebraucht, um den Namen aus den Untiefen des Internets zu fischen.
»Und?«, fragte König barsch.
»Sie und Herr Gärtner haben das Gelände als illegale Deponie für Sondermüll und gefährliche Chemieabfälle … wie heißt das? … an Dritte überlassen?« Ich sah zu Maximilian. »Habe ich das richtig ausgedrückt?«
»Perfekt«, erwiderte er.
»Danke«, sagte ich und fuhr an König gerichtet fort: »Sie, Herr König und Ihr Kumpel, Herr Gärtner, haben zugelassen, dass auf der Fläche Gift in großen Mengen vergraben wurde, und haben damit richtig viel Schotter gemacht.«
König atmete gepresst ein. »So eine Unverschämtheit lasse ich mir von Ihnen nicht gefallen. Das ist Rufmord! Ich werde gerichtlich gegen Sie vorgehen. Sie haben nichts in der Hand, um mir das nachzuweisen.«
»Na ja«, meinte ich gedehnt. »Ganz so ist es nicht.«
Ich griff in meine Jackentasche, zog ein Blatt Papier heraus und faltete es auseinander. Ich hielt es ihm hin.
»Was soll ich damit?«, herrschte er mich an.
»Sehen Sie diese Unterschrift da unten?« Ich tippte auf die Stelle am Ende des Dokuments.
König schwieg.
»Die stammt von Sabino Gärtner. Er hat mir vor nicht einmal einer halben Stunde alles gestanden. Und er war sogar so freundlich, meiner Bitte zu entsprechen und seine Aussage zu signieren.«
»Das hat Sabino nicht getan. Nie und nimmer!«
»Doch, doch!« Ich bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Er war ausnehmend hilfsbereit und zuvorkommend. Das können Sie mir glauben.«
Königs Gesicht färbte sich rot. Er holte zweimal tief Luft und richtete seine Aufmerksamkeit ruckartig auf Maximilian. »Ich hätte auf meinen Anwalt hören sollen! Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Sie … Sie sind nichts als ein schäbiger Erpresser!«
»Nein.« Maximilian schüttelte einmal den Kopf und beugte sich vor. »Das bin ich nicht. Ich vertrete lediglich die Interessen meines Klienten, den Sie, um es mal salopp zu formulieren, so richtig gerollt haben.«
»Das ist ein … äh … Missverständnis.«
»Nein«, wiederholte Maximilian seelenruhig. »Der korrekte juristische Begriff lautet vorsätzliche, arglistige Täuschung. Ganz zu schweigen von Ihrer falschen Versicherung an Eides statt. Von den gravierenden Umweltdelikten will ich gar nicht erst anfangen.«
König schluckte und senkte den Kopf. Nach einer Weile schaute er auf. »Was jetzt?«
»Zwei Möglichkeiten: Entweder, wir sehen uns vor Gericht wieder, waschen einen ganzen Berg Ihrer schmutzigen Wäsche in aller Öffentlichkeit. Oder…«
»Oder?«
»Für meinen Klienten ist es unerheblich, ob Sie sich wegen der Verstöße gegen den Umweltschutz verantworten müssen. Er will ein sauberes, bebaubares Grundstück, so wie Sie es ihm zugesichert haben. Das heißt, er fordert, dass Sie für sämtliche Kosten aufkommen, die im Zuge der fachmännischen Entsorgung der Giftstoffe anfallen, inklusive der Sanierung des Bodens selbst. Und selbstverständlich wird er nicht darauf verzichten, dass Sie ihm alle Unkosten, die ihm durch die von Ihnen zu vertretende Verzögerung bei der Bebauung entstanden sind, ersetzen, einschließlich der Rechnung meiner Kanzlei.«
»Ja aber…« König wirkte entsetzt. »Das beläuft sich auf mehrere Hunderttausend!«
»Mindestens«, gab Maximilian ungerührt zurück. »Immer noch besser als das, was Sie erwartet, wenn wir vor Gericht ziehen.«
König verstummte erneut. An seiner Schläfe pochte eine Ader.
»Okay«, sagte er schließlich. »Machen Sie die entsprechenden Papiere fertig.«
Er erhob sich abrupt.
»Soll ich Sie hinausbegleiten?«, säuselte ich.
»Bestimmt nicht!«, zischte er.
Ich machte einen Schritt zur Seite und öffnete ihm galant die Tür. Er rauschte an mir vorbei.
Ich beobachtete ihn, wie er mit gesenktem Kopf über den Hof eilte und im Durchgang des Vorderhauses verschwand. Dann gesellte ich mich zu Maximilian und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem König soeben gesessen hatte.
»Hier.« Ich schob Maximilian die unterschriebene Aussage zu.
Er warf einen kurzen Blick darauf, bevor er mich ansah. »Wie hast du dich soeben ausgedrückt? Der Kompagnon war ausnehmend hilfsbereit und zuvorkommend zu dir?«
Ich grinste. »Zunächst nicht wirklich. Aber nach einer Weile durchaus.«
»Nach einer Weile?« Maximilian grinste ebenfalls.
Ich zuckte mit den Schultern. »Anfänglich wollte er sich ein wenig … sträuben. Wenn ich jedoch unser Treffen Revue passieren lasse, dauerte diese Phase nicht lange.«
»Du hast aber nicht übertrieben, oder?«
»Ich?« Ich machte große Augen. »Nicht doch! Er ist nur dummerweise gegen eine Tür gerannt. Und das öfter. Wird wohl ein paar Tage dauern, bis er wieder voll gesellschaftsfähig ist.«
Maximilian seufzte. »So genau will ich das gar nicht wissen. Jedenfalls hat es keinen Falschen getroffen.«
»Ganz sicher nicht«, gab ich ihm recht.
Maximilian schielte auf seine Uhr.
»Du musst weg?«, fragte ich ihn.
»Nein. Aber wir haben gleich eine weitere Klientin.«
»Wow«, sagte ich. »Schlag auf Schlag … also, jetzt rein im übertragenen Sinne gesprochen … Das artet hier allmählich in richtige Arbeit aus. Deine Firma brummt.«
» Unsere Firma.«
Ich zog eine Grimasse. »Na wenn das so ist … Das zumindest ist ein gewisser Trost.«
Maximilian erhob sich. »Sie wartet drüben bei Gabriele.« Er griff sich eine schmale Mappe.
»Im Laden?«
Er nickte.
»Na, dann los«, sagte ich. »Time is money.«