»Gut.« Rita Thiel atmete tief durch. »Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Es ist schwierig.«
»Beginnen Sie mit dem, was für Sie am wichtigsten ist«, erwiderte Maximilian.
Rita Thiel zog ein Foto aus ihrer Tasche und reichte es uns. Ein gutaussehender, blonder Mann sah uns entgegen. Er hatte ein gewinnendes Lächeln. »Hajo. Hajo Andersen. Wir waren befreundet. Mehr als das. Wir waren ein Paar. Wir wollten uns eigentlich nie…« Sie brach ab.
Wir warteten.
»Im Herbst vor zwei Jahren war ich bei ihm. In der Transvaalstraße.«
»Sie haben nicht zusammengewohnt?«, fragte Hans.
Ein Kopfschütteln. »Wir hatten darüber geredet. Aber … jeder von uns hatte sein eigenes Leben. So war es besser für uns. Manchmal waren wir bei ihm, manchmal bei mir. Und an diesem Tag, am elften Oktober, habe ich ihn in seiner Wohnung besucht. Es hat stark geregnet, das weiß ich noch. Die Sonne kam überhaupt nicht durch. Die Wolken hingen tief. Es war eigentlich zu kalt für Anfang Oktober.«
Sie senkte den Blick, verschränkte die Arme vor der Brust, als würde sie frieren. »Wir waren gerade in der Küche. Hajo kochte uns Kaffee. Da klingelte es an der Tür.« Sie stockte und sah auf. »Hajo ging hin, um zu öffnen. Ich blieb zurück, hörte undeutlich, wie er mit jemandem redete. Es wurde lauter. Ich dachte mir zunächst nichts dabei. Wirklich nicht. Dann vernahm ich seltsame Geräusche. Eine Art Gepolter … etwas wurde über den Boden geschleift. Ich stand auf, ging aus der Küche in den Flur, um nachzusehen … da erhielt ich auch schon einen Schlag, ich kann es nicht genauer sagen. Ich verlor das Bewusstsein.«
»Ein Überfall?«, vergewisserte ich mich.
»Zwei Männer. Sie trugen dunkle Skimasken und Lederhandschuhe. Als ich aufwachte, war ich an einen der Küchenstühle gefesselt, der von den Männern ins Wohnzimmer gebracht worden war. Hajo saß mir gegenüber, auf einem weiteren Stuhl. Er war bewusstlos und man hatte ihn ebenfalls festgebunden.«
»Was ist dann passiert?«, erkundigte sich Gabriele mit sanfter Stimme. Ihre großen Augen betrachteten Rita Thiel voller Mitgefühl.
»Sie hatten die Anlage im Wohnzimmer eingeschaltet. Laut. Ein Radiosender, er spielte Schlager. Zwischendurch kamen Verkehrshinweise.«
Ich wusste, was das bedeutete und welchen Verlauf ihre Schilderung jetzt nehmen würde. Keinen guten, so viel stand fest.
»Die Musik diente vermutlich dazu, verräterische Geräusche zu übertönen«, murmelte Hans. Er hatte die gleiche Schlussfolgerung gezogen wie ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Einer der beiden hatte ein Glas Wasser in der Hand, das flößte er mir ein. Ich trank in etwa die Hälfte, den Rest habe ich ausgespuckt oder er ging daneben. Doch das reichte.«
Maximilian runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
Natürlich verstand er das nicht. Er hatte ja noch nie jemanden gefoltert. Bei mir war das anders.
»Was ich damit meine?«, wiederholte sie. »Nun, es dauerte keine Minute und ich fühlte mich zunehmend seltsam. Zunächst unbeschwert, lustig, fröhlich. Wie nach zwei, drei Gläsern Wein. Doch dabei blieb es nicht. Mir wurde schwindelig und was dann geschehen ist, davon habe ich lediglich eine bruchstückhafte Erinnerung.«
Rita Thiel hatte gerade die Wirkung von K.-o.-Tropfen beschrieben. Die Angreifer hatten sie damit effektvoll außer Gefecht gesetzt und zusätzlich ihr Gedächtnis manipuliert. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
»Man hat Ihnen Drogen verabreicht«, stellte Gabriele fest.
»Ich bin überzeugt davon«, bestätigte Rita mit einem nachdrücklichen Nicken. Ihr Ausdruck verschattete sich. »Wenn ich zurückdenke, sind da lediglich ein paar Bilder. So sehr ich mich auch anstrenge. Wie aus einem Fiebertraum. Ich höre Hajos Schreie. Ich sehe sein Gesicht. Aber es ist gar kein Gesicht. Es ist … Es ist … alles rot. Eine rote Masse … Dann ist da das Herz an der Wand. Dieses riesige furchtbare Herz. Und irgendwie weiß ich ganz genau, dass es mit Hajos Blut gemalt worden ist.« Sie holte zitternd Luft. »Das ist alles. Mehr ist da nicht. Wie ein Filmriss.«
»Was ist das Nächste, an das Sie sich erinnern?«, fragte Hans.
»Ein Krankenzimmer. Ich liege im Bett und komme langsam zu mir. Ich hänge am Tropf. Jemand beugt sich hinab und sieht mich an. Eine Krankenschwester. Ich habe Schmerzen am Bauch. Ich will mich aufsetzen. Sie hält mich zurück und sagt, das darf ich auf keinen Fall, weil ich mehrere Stichverletzungen erlitten habe.«
Wir schwiegen.
»Einige Tage später kam die Polizei. Sie wollten meine Aussage. Aber ich konnte den Beamten beim besten Willen nicht mehr sagen, als ich Ihnen gerade berichtet habe. Sie erzählten mir schließlich, dass Hajo tot sei. Erdrosselt. Zuvor sei er schwer misshandelt worden.«
»Hatten die Polizisten eine Theorie, was passiert ist?«, fragte Maximilian.
»Sie meinten, es habe sich um einen Einbruch gehandelt, der aus dem Ruder gelaufen ist.«
»Ach«, bemerkte ich.
Rita warf mir einen schnellen Blick zu. »Ja. Hajo hatte einen Tresor im Schlafzimmer. Der Safe stand offen und war leer.«
»Was hatte Ihr Freund denn so Wertvolles bei sich zuhause?«, hakte ich nach.
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hajo war nicht vermögend.«
»Hm«, machte Maximilian.
»Ich war am Boden zerstört. Ich konnte es nicht begreifen. Aber das Schlimmste war, sie haben mir nicht geglaubt, dass ich mich an nichts Konkretes erinnern konnte.«
»Hat die Klinik denn keinen Bluttest bei Ihnen durchgeführt?«, fragte Hans. »Wegen der K.-o.-Tropfen?«
»Doch. Aber erst einen Tag, nachdem ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Das Labor hat nichts gefunden.«
»Das ist nicht weiter verwunderlich«, sagte ich. »Diese Vergewaltigungsdrogen lassen sich bereits nach einigen Stunden nicht mehr nachweisen.«
»Doch das war nicht alles, was ich von der Kripo erfuhr: Hajo war nicht der einzige Tote in dem Appartement.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. »Eine weitere Leiche?«
»Ja. Ein junger Mann. Sie nannten mir seinen Namen, doch der sagte mir nichts. Einer der Eindringlinge. Er trug noch die Skimaske und Lederhandschuhe. Er war verblutet. Die Schlagader unter seiner Achsel war mit einem Messer durchtrennt worden. Sie haben es neben ihm entdeckt.«
»Woher stammte das Messer?«, fragte Maximilian. »Aus der Wohnung Ihres Freundes?«
»Wohl eher nicht. Die Polizei nahm an, die Täter hätten es mitgebracht.«
»Sie haben vorhin berichtet, dass Sie selbst Stichverletzungen im Bauchbereich davongetragen haben«, fasste ich nach.
Sie nickte. »Auf dem Messer war Blut von mir, meine Fingerabdrücke, und Blut von dem toten Einbrecher. Auf meiner Kleidung befanden sich Blutspritzer des Fremden. Die Beamten schlossen daraus, ich hätte ihn mit der Waffe getötet, mit der man mich zuvor verletzt hatte. Wie ich das getan habe, das wussten sie auch nicht so genau.«
»Und die Schmiererei?«, fragte Maximilian. »Dieses riesige Herz an der Wand? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch … haben Sie sich das nur eingebildet, oder war das Realität?«
»Doch. Das gab es wirklich. Das ist auch sehr wichtig. Die Leute von der Kripo konnten nicht ausschließen, dass ich es selbst hingemalt habe. Mit Hajos Blut. In einer Art Schockzustand.«
»Sie haben keinerlei Erinnerungsfetzen daran?«, vergewisserte sich Gabriele.
»Nein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Hajo zu irgendeinem Zeitpunkt über die Wange streicheln wollte. Aber da war ja alles voller Blut. Es klebte an meinen Händen. Vielleicht hatte die Polizei recht. Vielleicht habe ich das Herz tatsächlich an die Wand gemalt. Aber ich kann das eigentlich nicht glauben. Warum sollte ich so etwas machen?« Sie schaute in die Runde, ihr Ausdruck wirkte verzweifelt. »Das ergibt doch keinen Sinn!«
Maximilian hatte sich vorgebeugt. »Wer hat denn damals die Polizei verständigt? Sie wohl kaum, oder? Nach Ihrer Schilderung, Ihren Verletzungen und dem Drogenrausch wären Sie dazu niemals in der Lage gewesen.«
»Zwei Hausbewohner. Die einzigen Zeugen, die zumindest einen Teil mitbekommen haben. Sie haben ausgesagt, dass ich plötzlich auf der Treppe erschienen bin, schwer verletzt, und vor ihnen kollabierte. Die Frau blieb bei mir und rief den Notarzt. Der Mann ging nach oben in Hajos Wohnung, wo er dann die schreckliche Entdeckung machte.«
»Der Tod Ihres Freundes ist ziemlich lange her«, stellte Gabriele fest.
»Rund zwei Jahre«, bestätigte sie.
»Wie ist es Ihnen seitdem ergangen?«, fragte Maximilian. »Wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft Klage gegen Sie erhoben?«
»Nein. Zu keiner Zeit. Die Kommissare haben mich wiederholt befragt. Aber ich habe immer dasselbe ausgesagt. Ich konnte ja gar nichts anderes berichten. Es war die Wahrheit. Irgendwann haben sie es aufgegeben und mich in Ruhe gelassen.«
»Sie sprachen von zwei Tätern«, sagte ich. »Wurde der zweite Einbrecher gefasst?«
»Bisher nicht. Sie haben nicht die geringste Spur.«
»Wie ist er aus der Wohnung gekommen?«
»Das Schlafzimmerfenster stand offen. Vermutlich ist er da raus. Hajo wohnte im ersten Stock, das wäre theoretisch möglich.«
»Und Sie selbst?«, fragte Gabriele. »Wie sind Sie mit all dem zurechtgekommen?«
»Die Stichverletzungen heilten vergleichsweise schnell.«
»Aber nicht die seelischen«, fügte Gabriele leise an.
Rita nickte. »Nein, die nicht. Ich hatte größte Probleme, unter Menschen zu gehen. Ich bekam ununterbrochen Panikattacken. Ein Therapeut hat mir schließlich geholfen. Es hat gedauert, aber es wurde besser. Im Moment bin ich immer noch bei ihm in Behandlung.«
»Dann waren Sie lange Zeit nicht arbeitsfähig?«
»Es hat gedauert, bis ich wieder so weit war. Aber relativ bald habe ich wieder angefangen. Sie müssen wissen, ich bin im Internetmarketing tätig. Als Selbständige im Homeoffice. Ich muss niemanden persönlich treffen, wenn ich nicht will oder kann. Und ich verdiene trotzdem meinen Lebensunterhalt.«
Sie sprach von dem, was sie durchgemacht hatte, ohne jede Spur von Selbstmitleid. Sie war eine Kämpferin, die sich nicht so leicht unterkriegen ließ.
»Sie haben uns viel von Ihren schrecklichen Erlebnissen berichtet«, meinte Maximilian. »Aber ich fürchte, uns ist noch nicht klar, warum Sie uns engagieren wollen. Wozu Sie uns brauchen.«
»Genau.« Rita Thiel nickte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, wischte übers Display und legte es in die Tischmitte. Wir alle beugten uns vor, um das Bild zu betrachten, das sich darauf befand.
Eine weiße Wand mit einer Art Graffiti. Ein rotes Herz, wie es schien, mit Blut gemalt.
Maximilian blickte sie scharf an. »Wo haben Sie das her?«
»Die Polizei kam nicht weiter. Ihnen gelang es nicht, den Mord an Hajo aufzuklären. Wenn ich nachfragte, blockten sie nur, erzählten mir was von laufenden Ermittlungen, von Datenschutz und ähnlichem Müll.« Ihr Ausdruck wurde bitter. »In meiner Verzweiflung schrieb ich an die Staatsanwaltschaft, an den Innenminister, an zig andere Stellen, sogar an den Bundeskanzler. Wenn ich überhaupt eine Antwort erhielt, dann nur allgemeines Blabla. Was blieb mir anderes übrig?« Sie sah uns der Reihe nach an. »Sobald es mir besser ging, nahm ich die Sache selbst in die Hand.«
»Sie begannen, eigene Ermittlungen anzustellen?«, vergewisserte ich mich ungläubig.
»Das war und bin ich Hajo schuldig«, gab sie trotzig zurück. »Wenn heutzutage jemand etwas macht, irgendetwas, was immer es auch sei, es landet über kurz oder lang im Internet. Man muss es nur finden.«
Maximilian deutete auf das Handy. »Das ist es, was Sie entdeckt haben?«
»Ja. Dieses Foto. Es ist das Logo eines Red Rooms.«
»Red Room?«, wiederholte Hans verständnislos.
»Im Darknet. Dort gibt es unzählige Red Rooms. In manchen werden Folterungen, sexueller Missbrauch und Schlimmeres gezeigt.«
»Sie sind mit diesem Foto und den Informationen zur Polizei gegangen?«
»Richtig«, bestätigte sie. »Sofort. Und ich war fassungslos. Die Kripo interessierte sich nicht weiter dafür und hat abgewunken. Sie schickten mich wieder nach Hause.«
»Obwohl Sie verdeutlicht haben, dass ein ebensolches Herz an die Wand der Wohnung gemalt war, in der Ihr Freund ums Leben kam?«
»Ja. Sie meinten, das sei irrelevant. Das war das Wort, das sie benutzt haben. Sie hätten alles im Griff. Das mit dem Herz sei Ihnen bekannt und ich sollte mich nicht weiter darum kümmern.« Sie holte tief Luft. »Also habe ich versucht, selbst in den Red Room hineinzukommen. Aber keine Chance.« Sie lachte bitter auf. »Unmöglich.«
»Sie sind davon überzeugt, dass man den Mörder Ihres Freundes in diesem Red Room aufstöbern könnte?«
Ein überdeutliches Nicken. »Das ist sein Markenzeichen. In dem Red Room trifft er sich mit anderen Kriminellen. Weiß Gott, was sie dort aushecken.«
»Sie erwarten von uns, dass wir den Mörder Ihres Freundes finden«, stellte Maximilian fest. »Darum sind Sie heute hier?«
»Ja. Er soll für seine Tat bezahlen. Vor Gericht.«
Maximilian lehnte sich zurück und sah mich an.
Ich nickte leicht.
Hans hob seine Hand, und Gabriele lächelte.
»Okay«, sagte Maximilian. »Das läuft jetzt folgendermaßen ab: Wir benötigen einen Vorschuss von Ihnen, den können Sie überweisen. Keine Angst, er wird zunächst mal nicht besonders hoch ausfallen. Dafür ermitteln wir ein paar Tage, maximal eine Woche. Wenn wir sehen, wir erzielen Fortschritte, machen wir weiter. Wenn nicht«, er vollführte eine wegwerfende Geste mit der Hand, »dann nicht.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Sie geben sich Mühe, versprechen Sie mir das?«
»Darauf können Sie sich verlassen«, sagte ich.
Sie nickte und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Einen Moment noch«, hielt ich sie auf.
Sie konzentrierte sich auf mich. »Ja, bitte?«
»Sie haben uns vorhin mehrfach das Gesicht Ihres Freundes beschrieben. Dass es ganz blutig war. Was genau meinten Sie damit? Wurde er derartig hart geschlagen?«
Ihre Schultern hoben und senkten sich. Zweimal setzte sie zu einer Erwiderung an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sagte sie: »Nein, so war es nicht. Die Kripo hat mir berichtet, dass die Täter ihm die Haut vom Gesicht geschnitten haben. Sie haben ihn gehäutet.«