Joey sieht ihm entgegen, als er mit dem großen Tablet ins Zimmer tritt.
»Soll ich dir helfen?«, fragt Joey.
»Nein, das schaffe ich gerade noch«, gibt er zurück und grinst. Er stellt den Teller mit den Minipizzas auf den Tisch, öffnet die beiden Bierflaschen, schiebt eine Joey hin. Die zweite behält er in der Hand und setzt sich zu seinem Freund.
Sie prosten sich zu und trinken.
»Mensch, das riecht echt gut. Ich habe einen Bärenhunger.« Joey beugt sich vor, greift sich eines der runden Stücke, beißt hinein und kaut genießerisch.
»Schmeckts?«, fragt er Joey.
»Super. Knusprig und scharf. Aber nicht zu scharf. Genau wie ich es mag.«
Für eine Zeitlang essen sie schweigend.
Er seufzt.
Joey sieht ihn an. »Schwerer Tag heute?«
»Mhm«, gibt er zurück.
»Du arbeitest zu viel«, sagt Joey.
Er zuckt mit den Schultern. »Muss halt sein.«
Joey verzieht den Mund. »Life sucks.«
Sie packen ihre Bierflaschen, stoßen an und trinken.
Joey mustert ihn mit schiefgelegtem Kopf. »Wir kennen uns jetzt schon echt lange, oder?«
»Aber hallo! Sechs Jahre sind es bestimmt«, erwidert er.
»Und trotzdem hast du mir noch nie von deiner Kindheit erzählt.«
Er lacht. »Weil es da nichts Spektakuläres zu berichten gibt.«
»Das glaube ich nicht.« Joey bleibt ernst. »Jeder hat so ein Ereignis in der Kindheit, das ihn rückblickend geprägt hat.«
»Nur weil du Scheiß Eltern hattest, die dich windelweich geprügelt haben und … so weiter … muss das nicht bei jedem so sein. Meine Alten waren vollkommen normal. Richtige Spießer.«
Joey mustert ihn noch immer. Wenn er sich was in den Kopf setzt, lässt er sich nicht davon abbringen. »Aber es muss etwas geben, was ganz wichtig für dich war. Das du dir besonders gewünscht hast. Das dir gezeigt hat, wer du wirklich bist.« Joey stockt. »Als Kind kennt man sich selbst ja noch gar nicht. Da will man Müllmann werden oder Astronaut. Doch dann geschieht etwas, und man merkt, das hat eine riesige Bedeutung für einen selbst.«
»Nein.« Er denkt kurz nach. »Da gibt’s bei mir nichts.«
»Unsinn! Ich bin mir sicher, du hattest ebenfalls ein solches Schlüsselerlebnis. Konzentrier dich mal.«
Bei jedem anderen würde er jetzt sauer werden. Jedoch nicht bei Joey. Ihm kann er nichts abschlagen. Nicht das Geringste. Er gibt sich Mühe, überlegt. »Okay. Da war schon was. Keine Ahnung, ob das so bedeutend ist.«
»Erzähl mal!« Joeys Augen leuchten.
»Gut. Wenn es sein muss.« Er holt tief Luft. »Damals war ich acht oder neun. Nicht älter.«
»Mhm.«
»Und hier nebenan«, er deutet in die ungefähre Richtung. »Das nächste Grundstück lag brach. Weißt du, was der Eigentümer da gezüchtet hat?«
Joey zuckt mit den Schultern. »Hühner?«
»Nein.« Er muss lachen. »Viel cooler. Da standen mehr als zehn Käfige mit Meerschweinchen. Das sind die tollsten Tiere überhaupt. Manche haben glattes, glänzendes Fell, andere so richtig kuscheliges. Und sie sind putzig. Sie machen auch keinen Lärm. Ein Quietschen ist das Höchste der Gefühle.«
»Okay«, Joey hat sich vorgebeugt und hört ihm gebannt zu.
»Ich habe mich immer am Zaun hinter einem Busch versteckt und habe hinübergeschaut. Wenn unser Nachbar, der alte Hofmann, die Ställe gesäubert hat, setzte er die Tiere in ein Laufgehege. Da sind sie fröhlich herumgehopst. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen.«
»Hat sicher Spaß gemacht.«
»Und wie! Ich bin zu meinem Vater und habe ihn gefragt, ob er mir eins kauft. Vom alten Hofmann. Der hat die Meerschweinchen gezüchtet. Und die, die nicht hundertprozentig irgendwelchen Vorgaben entsprochen haben, die hat er billig weggegeben. Aber mein Vater konnte Hofmann nicht leiden. Sie haben sich immer gefetzt.«
»Lass mich raten«, wirft Joey ein. »Dein Alter hat nein gesagt.«
»Richtig. Ich war wahnsinnig traurig. Ich habe sogar geheult. Aber … ging halt nicht. Also bin ich wieder zu meinem Platz am Zaun und habe sehnsüchtig rübergeblickt.« Er bricht ab und denkt an damals.
»Irgendwie voll deprimierend«, erwidert Joey nach einer Weile. »Das ist die ganze Story?«
»Nein. Was wäre das für eine Geschichte? Total blöd. Sowas würde ich doch nicht erzählen.« Er macht eine kurze Pause. »Eines Tages, der alte Hofmann hat die Meerschweinchen mal wieder ins Laufgehege gesetzt, da ist eins ausgebüxt. Er hat es nicht geschnallt. Zuerst hat das kleine Ding etwas Gras gefressen, dann ist es zum Zaun gehoppelt und schließlich durchgeschlüpft und zu mir gekommen.« Er sieht Joey an. »Alter! Ich habe es gar nicht fassen können! Es saß direkt bei mir. Sowas von reizend und hübsch! Ich war vor lauter Freude total neben der Kappe.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich habe es vorsichtig in die Arme genommen und bin damit in meinen Schuppen.«
Joey lächelt. »Der gute alte Schuppen.«
»So ist es! Dort konnte ich mir das Meerschweinchen genau anschauen. Es war rostrot. Hatte langes Fell. Bestimmt eine spezielle Züchtung. Kleine lustige Knopfaugen. Und dieses Schnuppernäschen. Die feinen Tasthaare an der Schnauze. Ich konnte mich gar nicht sattsehen.«
»Du hast es heimlich behalten, stimmt‘s? Das ist auch voll okay. Hätte wohl jedes Kind gemacht.«
»Mein Vater hatte es mir strikt verboten. Aber in diesem Fall konnte ich ihm einfach nicht gehorchen.«
»Sicher hast du mit dem Meerschweinchen gespielt.«
Er nickt. »Ja. Gespielt. Doch…«
»Was?« Joey horcht auf.
»Ich habe es gestreichelt, habe das kleine pochende Herzchen gespürt, das warme Körperchen. Und dann habe ich meine Hände um das Hälslein gelegt und zugedrückt … mit aller Kraft. Es hat gezittert, es hat gestrampelt, es hat mich echt übel gekratzt. Die winzigen Knopfaugen haben mich angestarrt. Und … von einer Sekunde auf die andere … nichts mehr.«
Joey lächelt breit. »Da hast du es gewusst!«
»Ja.« Er nickt. »Es gibt nichts Schöneres, als den Moment, wenn man ein anderes Lebewesen umbringt. Ich weiß, ein Meerschweinchen ist an sich nichts Besonderes, aber es war ein Anfang.«