Wir hatten bei Starbucks drei Kaffee besorgt. Die Tür von Pardis‘ Büro war geschlossen. Maximilian und ich saßen vor ihrem Schreibtisch und sie dahinter.
Sie trank einen Schluck aus ihrem Becher. »White Chocolate Mocca.« Sie seufzte zufrieden.
»Schmeckt mir auch«, sagte ich.
»Unsinn«, brummte Maximilian. »Es geht nichts über einen guten schwarzen Caffè Americano.«
»Ohne Zucker«, ergänzte ich.
Er warf mir einen irritierten Blick zu. »Natürlich. Wie sonst?«
Pardis lachte. »Okay. Nun zur Arbeit.« Sie blickte auf ihre Notizen. »Das hat ein wenig gedauert, bis ich den zuständigen Kollegen an der Strippe hatte, der die Ermittlungen damals geleitet hat. Die Akten sind inzwischen im Archiv, aber er hatte ziemlich viele Details im Kopf.«
»War auch keine 08/15-Geschichte«, bemerkte Maximilian.
»Sicher nicht.« Pardis strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. »Bei der Berliner Kripo ist man ja einiges gewöhnt. Aber sowas sieht man dann doch nicht alle Tage … Was gut ist, wer will das schon.« Sie stockte und studierte ihre Aufzeichnungen. »Die Kollegen sind von Hausbewohnern informiert worden. Zuerst kam eine Streife und sehr schnell folgte die Kripo mit Spurensicherung et cetera pp. Das ganze Programm eben.«
Ich nickte.
»Es gab eine Verletzte auf der Treppe. Frau…«, ein erneuter Blick aufs Blatt, »…Rita Thiel. Die wurde vor Ort stabilisiert und mit ernsten Stichverletzungen im abdominalen Bereich in die Klinik gefahren. Dort hat man sie sofort operiert. In der Wohnung selbst lagen zwei Tote. Einmal einer der Einbrecher, Ron Eiger. Er hatte praktischerweise seinen Führerschein dabei. Bei dem anderen männlichen Opfer handelte es sich um Hajo Andersen, den Mieter der Wohnung. Seine Identifizierung gestaltete sich wesentlich komplizierter, denn er wies schwere Wunden auf.«
»Er hatte kein Gesicht mehr«, sagte ich.
»Ja. Die Gesichtshaut fehlte komplett.«
»Hat man die Haut am Tatort gefunden?«, fasste Maximilian nach.
»Nein.«
»Auch hinterher nicht?«, fragte ich.
»Nein. Die war und blieb verschwunden.« Pardis trank erneut von ihrem Kaffee.
Maximilian hatte sich vorgebeugt und hörte aufmerksam zu. »Was war mit dem Tatort selbst? Mit dem Appartement?«
»Keine Einbruchspuren«, sagte Pardis. »Hinten im Schlafzimmer stand das Fenster zum Hof offen. Die Kollegen sind davon ausgegangen, dass Täter Nummer zwei dort raus ist, und haben anfangs gehofft, dass sie am Rahmen Fingerabdrücke sicherstellen könnten. Aber Fehlanzeige. Und … ach ja … im Schlafzimmerschrank befand sich ein kleiner Tresor. Der war komplett leergeräumt. Übrigens auch am Safe keine Abdrücke. Lediglich die des Mieters.«
Maximilian lehnte sich zurück. »Das deckt sich im Großen und Ganzen mit dem, was uns unsere neue Klientin erzählt hat.«
Pardis sah von Maximilian zu mir. »Ihr habt euch bereits entschieden, für Frau Thiel zu arbeiten?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mal sehen. Erstmal für ein paar Tage.«
»Wie ihr das immer so handhabt.«
»Ja.« Ich grinste. »Maximilian knöpft niemandem Geld ab, wenn es nicht gewisse Erfolgsaussichten gibt.«
Maximilian ignorierte meine kleine Stichelei. Stattdessen wandte er sich an Pardis: »Dein Blick gerade wirkte ein wenig skeptisch, als du meintest, dass wir ihren Fall übernehmen. Hat sich dein Kollege zu Frau Thiel wohl negativ geäußert?«
»Hat er. Er meinte, sie sei schwierig gewesen. Emotional am Limit und gleichzeitig stur und bockig.«
»Sie hat in der Wohnung viel Schlimmes durchlitten«, gab Maximilian zu bedenken.
»Schon. Der Kollege war sich nur nie ganz sicher, ob sie ihre Gedächtnislücken nicht nur vortäuschte, auf die sie immer wieder verwiesen hat. Sie sprach von K. o.-Tropfen, die ihr verabreicht worden sein sollen. Aber in ihrem Blut konnten keinerlei Rückstände nachgewiesen werden.«
»Wieso sollte sie eine Amnesie vortäuschen?«, fragte Maximilian.
»Nun … der Einbrecher ist ums Leben gekommen. Nach den Spuren, die wir am Tatort und auf ihr sichergestellt haben, ist es am wahrscheinlichsten, dass sie ihn umgebracht hat. Blutspritzer, ihr versteht? Wie das aber genau abgelaufen ist, wissen die Kollegen nicht. Sie hatte ja diese schweren Bauchverletzungen … Und sie selbst gibt an, sich nicht zu erinnern.« Sie stockte. »Dazu noch dieses riesige Herz an der Wand – gemalt mit dem Blut des Opfers.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist schon irgendwie voll seltsam.«
»Der Fall wurde bislang nicht aufgeklärt, richtig?«, vergewisserte ich mich.
»Richtig.«
»Trotzdem ist er für abgeschlossen erklärt worden?«
»Was heißt hier abgeschlossen. Ihr kennt das doch inzwischen: Wir haben zu wenig Personal und täglich kommen neue Fälle hinzu … Die Kollegen haben die Ermittlungen irgendwann eingestellt. Sie ruhen sozusagen.«
»Und das mit dem fehlenden Gesicht?« Ich trank meinen Kaffee leer und warf den Becher aus dem Sitzen in den Papierkorb.
»Eine derartige Verstümmelung ist uns nie wieder untergekommen. Weder davor, noch danach. Falls es das ist, worauf du hinauswolltest.«
»Soweit euch das bekannt ist«, warf ich ein.
»Natürlich.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Die Eindringlinge werden Andersen gefoltert haben, um an den Safe zu gelangen. Wegen der Kombination … Blöd ist nur, dass wir nicht wissen, was im Tresor lag. Wenn uns Rita Thiel in dieser Hinsicht zumindest einen Hinweis hätte geben können, dann hätten die Kollegen vielleicht über diese Schiene den zweiten Täter doch noch zu fassen gekriegt. Zum Beispiel, wenn er Schmuck verkauft hätte, den er dort gestohlen hatte, oder Aktien oder was auch immer. Aber so … Sie sagt, sie hat keine Ahnung. Und … tja.«
»Hajo Andersen war nicht besonders vermögend, hat uns Frau Thiel erklärt«, sagte Maximilian.
»Diesen Punkt haben die Kollegen geprüft. Und ja: Er hat in einem Callcenter gearbeitet. Hatte nur wenig Ersparnisse. Ein ganz normaler Mensch eben.«
Das klang nicht vielversprechend. »Also keine Vorstrafen oder Kontakte zu Kriminellen?«
Pardis bedachte mich mit einem spöttischen Blick. »Als kleine Leuchte in einem Callcenter?«
»Hatte Hajo Andersen eine Familie?«, wollte Maximilian wissen.
»Eine ältere Schwester irgendwo an der Grenze zu Frankreich. Saarbrücken oder so. Sie hatten seit Jahren kaum Kontakt.«
»Was ist mit dem zweiten Toten? Diesem Ron? Ihn und sein Umfeld haben deine Kollegen sicher genau unter die Lupe genommen, nehme ich mal an«, sagte ich.
»Klaro. Da kam auch nicht viel raus. Er hat gekellnert, war Türsteher und lebte insgesamt von Gelegenheitsjobs. Eine Waise – seine Eltern sind früh verstorben. Er ist bei unterschiedlichen Pflegeeltern aufgewachsen. Wurde herumgereicht. Ich kann euch seine Adresse mitgeben sowie den Namen des Lokals, in dem er zuletzt beschäftigt war.«
»Super«, sagte ich.
»Da wollt ihr ansetzen?«
»Irgendwo müssen wir ja beginnen«, meinte Maximilian.
»Wenn das alles ist, was ihr habt, ist das aber echt dürftig.« Pardis runzelte zweifelnd die Stirn. »Ich denke, da seid ihr in spätestens zwei Tagen fertig und müsst eurer neuen Klientin absagen. Die Kollegen waren gründlich. Und frustriert, weil sie nicht weiterkamen.«
»Naja«, meinte ich gedehnt. »Ist ja nicht die einzige Spur, die wir haben.«
»Was noch?« Pardis horchte auf.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und zeigte ihr Rita Thiels Screenshot.
Pardis beugte sich vor und betrachtete eingehend das Bild. »Ein mit roter Farbe auf die Wand gemaltes Herz? Stammt das vom Tatort? Ich habe bislang keine Fotos gesehen.«
»Nein. Das ist das Logo eines Red Rooms.«
Sie musterte mich mit neuem Interesse. »Darknet?«
»Bingo.«
»Puh, Helena.« Sie verzog das Gesicht. »Da tummeln sich jede Menge Gestörte und Kriminelle. Ein El Dorado für Psychopathen und Perverse. Wie seid ihr darauf gekommen?«
»Seitdem Frau Thiel halbwegs auf den Beinen ist, sucht sie nach dem Mörder ihres Freundes. Sie hat den Red Room entdeckt. Sie meint, das Logo sei das gleiche Herz wie damals.«
»Ach!« Pardis schnaubte. »Alles ist weg, aber daran kann sie sich plötzlich erinnern!«
»Eines der wenigen Bilder, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben«, bestätigte Maximilian.
»Wenn du es sagst…« Pardis schien Zweifel zu haben. »Und was ist damit?«
»Sie ist überzeugt, dass der Administrator des Red Rooms und der flüchtige Mörder ein und dieselbe Person sind. Sie meint, wenn es gelingt, diesen Red Room auszuheben, haben wir den Täter.«
»Hm. War sie mit dieser Idee schon bei uns?«
»Ja«, bestätigte Maximilian. »Und jetzt wird es ein wenig komisch. Denn laut ihr wurde sie von deinen Kollegen einfach wieder weggeschickt. Sie sollen sich nicht weiter darum gekümmert haben.«
»Echt komisch«, murmelte Pardis. »Da fasse ich gerne noch mal nach.« Sie sah mich an. »Kann ich den Screenshot haben?«
»Sofort.« Ich hängte die Datei an eine WhatsApp-Nachricht und drückte auf Senden.
Ein Ping. Pardis schaute auf ihr Smartphone, das neben ihren Notizen lag. »Super.«
»Noch eins«, sagte Maximilian. »Die Akte kannst du uns nicht beschaffen. Aber ein paar Tatortfotos wären echt klasse.«
»Mal sehen, was ich tun kann.« Sie studierte den Screenshot auf ihrem Handy.
»Was hast du?«, fragte ich.
»Das ist doch nur eine ganz grobe Schmiererei. Wie kann sich Frau Thiel sicher sein, dass das mit dem Mord zusammenhängt?«
»Richtig erklären konnte sie uns das auch nicht«, erwiderte Maximilian. »Aber sie ist felsenfest davon überzeugt.«
»Schon mal auf die Idee gekommen, dass sie sich das einfach nur einredet?«
»Mag sein«, gestand ihr Maximilian zu. »Trotzdem werden wir dem nachgehen.«