17
Samstag, gegen halb zwölf

 

 

Agnetha hatte es sich auf der Fensterbank bequem gemacht. Die hellbeige Perserkatze ließ ihren Blick gelangweilt über Pardis, Maximilian, Wiebke und mich schweifen, bevor sie wieder nach draußen sah. Anni-Frid, ihre rostbraune Schwester, war anders gestrickt. Mit einem Satz sprang sie auf meinen Schoß, drehte sich einmal um die eigene Achse und rollte sich zusammen. Sie begann leise zu schnurren.

Wiebke bedachte ihre pelzigen Lieblinge mit einem liebevollen Lächeln und wandte sich dann uns zu. Wir hatten uns Stühle herangezogen und uns um ihren größten Bildschirm versammelt.

»Gut«, meinte sie. »Ihr wisst, was das Darknet ist?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz ehrlich, nicht wirklich.«

»Darknet«, murmelte Maximilian. »Was man eben so hört und liest.«

Wiebke grinste. »Und was hört und liest man so?«

Maximilian räusperte sich. »Dies und das. Vieles.«

»Anwälte!« Wiebke verdrehte die Augen.

»Zu seiner Ehrenrettung«, meldete sich Pardis zu Wort. »Ich weiß vielleicht ein wenig mehr. Aber eine Fachfrau bin ich deswegen noch lange nicht.«

»Hab ich mir schon gedacht.« Wiebke wedelte mit ihren bunt lackierten Nägeln in der Luft herum. Sie rückte sich die Brille zurecht – heute mit kobaltblauem Rahmen – und atmete tief ein. »Also … Dann fange ich ganz von vorne an und bemühe mich, es allgemeinverständlich zu halten.«

»Vielen Dank«, sagte Maximilian trocken.

Wiebke nickte. Ihre runden Creolen tanzten. »Das Internet, das wir … äh … das ihr tagtäglich nutzt, also mit Google und Amazon und Ebay et cetera, das nennt man Clearnet. Das macht vielleicht fünf Prozent des Internets aus.«

»Fünf? Nicht mehr?« Pardis runzelte die Stirn.

»Maximal. Das müsst ihr euch wie einen gigantischen Eisberg vorstellen, der am Nordpol im Wasser treibt. Ihr kennt diese Bilder? Ihr bewegt euch nur in dem Teil, der sich über der Wasseroberfläche befindet. Doch der weitaus größere Teil, den ihr noch nie gesehen habt, liegt versteckt darunter. Das ist das Darknet.«

»Netter Vergleich«, meinte Maximilian. »Und da tummeln sich alle Kriminellen.«

Wiebke schüttelte den Kopf. »So stimmt das nicht.«

»Wie denn dann?«, erkundigte ich mich.

»Dort sind nicht nur Verbrecher unterwegs. Im Gegenteil. Da sind auch viele User wie du und ich. Und das aus guten Gründen. Ein wichtiger ist: Es gibt jede Menge Länder – leider – in denen die freie Meinungsäußerung verboten ist. In denen zum Beispiel kein unabhängiger Journalismus existiert. In denen Schwule als abartig gelten und so weiter. Wenn du einem solchen Staat wohnst, wenn du dich da objektiv informieren oder austauschen willst …, wenn du mit anderen kommunizieren möchtest, ohne dabei dein Leben zu riskieren, gibt es für dich nur die Möglichkeit, ins Darknet abzutauchen.«

»Denn im Darknet surft man inkognito«, fügte Pardis sichtlich zufrieden mit sich selbst an.

»Angeber«, murmelte ich.

Pardis grinste.

»Genau! Im Darknet surft man ohne Zensur, ohne Überwachung und – wie gesagt – anonym«, bestätigte Wiebke. »Denn im normalen Internet wird man ausspioniert.«

»Wiebke!« Maximilian lehnte sich zurück. »Jetzt mach mal halblang. Was du da behauptest, mag vielleicht für Diktaturen zutreffen. Aber bei uns ist das doch kein Problem. Wir haben Datenschutzrichtlinien, und…«

Wiebke bedachte ihn mit einem gönnerhaften Lächeln. »Träum weiter! Das glaubst du nur. Das sollst du auch glauben.«

Maximilian schüttelte den Kopf. »Du übertreibst.«

»Tue ich nicht. Hast du zum Beispiel eine Ahnung, wie viele Apps du auf deinem Handy hast?«

Maximilian zuckte mit den Schultern. »Nicht viele. Vielleicht zehn oder zwölf?«

»Das ist deine Schätzung?«

»Ja.«

»Nun, da irrst du dich gewaltig. Der durchschnittliche Handy-Nutzer hat zwischen sechzig und hundert Apps auf seinem Telefon.«

»Wenn du es sagst.« Er runzelte die Stirn. »Aber was hat das mit dem Darknet beziehungsweise mit dem Ausspionieren übers Internet zu tun?«

»Sehr viel.« Wiebke musterte ihn ernst. »Wie vielen deiner Apps hast du Zugriff auf deine Daten, auf deinen Standort, auf deine Kamera und auf anderes gegeben?«

»Den meisten.«

»Den meisten«, wiederholte sie. »Wie es wohl so ziemlich jeder tut. Und all diese Apps sammeln jetzt fleißig Daten über dich. Ganz legal.« Sie stockte. »Hast du schon mal nach irgendwas gegoogelt und dann hast du anschließend ständig Werbung auf deinem Smartphone gehabt?«

»Ja. Schon. Erst neulich. Meine Sonnenbrille hat sich verabschiedet. Ich habe nach einer neuen im Netz gesucht. Wirklich nicht lange … Für Wochen wurde ich zugespammt mit entsprechenden Angeboten. Das hat genervt, vor allem, weil ich schon längst eine neue Brille habe.«

»Siehste!« Wiebke deutete mit dem Finger auf ihn. »So läuft das. Das funktioniert nicht nur bei Sonnenbrillen. Das funktioniert überall nach dem gleichen Prinzip. Algorithmen lesen bei dir mit und sammeln automatisch Infos über dich. Was du im Internet suchst, welche Seiten du anklickst. Wie viel Zeit du da verbringst. Wo du dich gerade aufhältst, was du kaufst und für wieviel du dafür bezahlst. Und nach und nach wird alles von dir bekannt.«

»Mag sein«, gab Maximilian zurück. »Aber mir ist ehrlich gesagt egal, ob jemand weiß, dass ich eine Sonnenbrille besitze.«

»Schon. Aber überleg mal, du lebst in irgendeinem dieser Drecksländer. Und du gehst auf Facebook oder du willst CNN angucken. Das machst du ein-, zweimal und dann klingelt es an deiner Tür und die kassieren dich ein.«

»Okay. Das ist ein Problem. Das verstehe ich natürlich. Dann ist man froh, wenn man aufs Darknet ausweichen kann.«

»Um ins Darknet zu gelangen, braucht man einen speziellen Browser, nicht wahr?«, erkundigte ich mich.

»Richtig. Und der ist vollkommen legal. Der TOR Browser . Funktioniert genauso wie Firefox, oder Google Chrome oder Microsoft Edge. TOR wurde ursprünglich vom US-Militär und dem Geheimdienst entwickelt, um anonym Nachrichten im Verborgenen austauschen zu können. Nach wenigen Jahren haben sie es für alle freigegeben.«

»Bestimmt!« Maximilian kräuselte spöttisch den Mund. »Warum sollten die das für alle freigeben? Das ist doch Blödsinn.«

»Nichts da!« Wiebke schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das mussten sie machen. Denn sonst hätte jeder Seiteninhaber gewusst, wann der Geheimdienst oder das Militär die Inhalte abruft, wenn die Anfrage von TOR kam. Aber jetzt…«

»Ach so!«, unterbrach sie Maximilian. »Na klar! Jetzt gehen die Geheimdienstleute in der Masse der Nutzer unter.«

»Bingo! TOR steht für The Onion Routing . Also, dass deine Anfrage vereinfacht ausgedrückt über viele Zwischenstationen einmal um den Erdball gejagt und bei jedem Stopp extra verschlüsselt wird. Deine Identität wird so hinter zig Schichten verschleiert – wie bei einer Zwiebel, die hat auch ganz viele Schichten. Zwiebel – onion. Ihr versteht? Daher der Name.«

»Es ist also unmöglich, eine Anfrage bis zu der Person zurückzuverfolgen, wenn sie mit TOR surft?«, vergewisserte ich mich.

»Möglich ist alles. Aber das wäre super schwer und ein riesiger Aufwand.« Sie wandte sich ihrem Computer zu und gab etwas ein. Eine Seite erschien. Sie war mit TOR überschrieben. »So viel zum Hintergrundwissen.« Sie tippte auf der Tastatur herum, ihre Facebookseite erschien. »Du erreichst alle gewöhnlichen sozialen Medien über TOR, wenn du das möchtest. Ganz tolle Sache. Ich nutze TOR ständig. Ich surfe nicht anders. Aber wo viel Licht ist…«

»Da ist auch viel Schatten«, meldete sich Pardis zu Wort. »Kriminalität.«

»Richtig«, bestätigte Wiebke. »Was ihr euch vorstellen oder nicht vorstellen könnt, ist hier erhältlich. Ein El Dorado für…« Sie suchte nach einem Begriff. »Alle. Mir fällt nichts anderes ein.«

Sie rief eine Seite auf. »Hier. Eine Verkaufsplattform a la Ebay«, sagte sie.

Ich beugte mich vor. »Lauter Waffen! Die neuesten Sturmgewehre!« Ich nahm ihr die Maus weg und scrollte weiter. »Seht mal! Sogar schon das neue Sig Sauer! Und voll günstig! Mit Munition!«

»Voll günstig oder nicht«, meinte Pardis trocken. »Der Erwerb ist hierzulande verboten.«

»Aber so toll!«, rief ich. »Das musst du doch zugeben!«

Wiebke holte sich die Maus mit einem resoluten Griff zurück. »Der Verkauf erfolgt anonym. Es wird mit Kryptowährung bezahlt und an ein Postfach geliefert.« Sie rief die nächste Seite auf. »Hier könnt ihr Drogen wie bunte Gummibärchen kaufen. Gleiches Prinzip. Einfach in den Einkaufswagen legen. An die Kasse gehen. Bitcoin zücken und fertig.«

Sie klickte weiter. »Jede Menge Pornografie, Menschenhandel. Auftragskiller kann man auch ordern.«

»Ach was!« Ich deutete auf den Monitor. »Einen Journalisten umbringen zu lassen, kostet fünfundsechzigtausend Dollar. Ein Politiker ist etwas günstiger.«

»Nicht viel für ein Menschenleben«, murmelte Maximilian.

»Mhm«, gab ich ihm recht.

»Frage ist nur, ob dann wirklich ein Auftragskiller erscheint, oder ob du nur ausgenommen wirst. Du kannst denjenigen ja schlecht anzeigen, wenn er den Vorschuss kassiert und dann nicht liefert«, meinte Pardis.

»Mag sein«, bestätigte Wiebke. »Aber viele dieser Anzeigen sind echt. Da bin ich mir ganz sicher. Und die Leute, die das öfter mal ordern, wissen, was fake ist und was nicht. So…« Sie blickte in die Runde. »Das war der Einstieg. Und nun zu den wirklich abartigen Dingen: den Red Rooms.«

»Rita Thiel, unsere Klientin, meinte, da würden Folterungen, sexuelle Handlungen und sogar Tötungen gefilmt und gezeigt«, sagte ich.

»Das hat sie treffend beschrieben.«

»Das will ich eigentlich gar nicht anschauen«, meinte Maximilian.

»Wirst du auch nicht«, erwiderte Wiebke. »Diese Red Rooms sind Lifestreams. Life-Übertragungen. Du musst bezahlen, um reinzukommen. Was du sofort sehen kannst, sind lediglich kurze Beschreibungen mit Bild, was im jeweiligen Raum los ist. Teaser.«

Sie scrollte schnell durch ein paar Fotos. Geknebelte Frauen mit angstverzerrten Augen, blutige Folterwerkzeuge, aufgehängte Körper…

»Hast du den Red Room mit dem roten Herzen gefunden?«, fragte Pardis.

»Natürlich.« Wiebke nickte. »War genau da, wo unsere Klientin gesagt hat.«

Eine Darstellung erschien auf dem Monitor. Eine weiße Wand, auf die jemand mit dunkelroter Farbe und grobem Pinsel ein überdimensionales Herz geschmiert hatte. Die Farbe tropfte an mehreren Stellen herunter. Ich hoffte zumindest, dass es sich um Farbe handelte.

Und dazu der Text:

Sieh sie sterben! Du stehst auf Folter bis zum Tod? Du willst zusehen? Dann bist du hier richtig! Gib deinen Einladungscode ein!

Im Büro war es still. Keiner von uns sprach mehr. Anni-Frids Schnurren wirkte überlaut.

»Okay«, durchbrach Wiebke unser Schweigen geschäftsmäßig. »Bis dahin bin ich gekommen. Weiter nicht.«

»Weil du keinen Einladungscode besitzt«, mutmaßte ich.

»Wie soll das funktionieren?« Maximilian wies auf den Bildschirm. »Ich nehme doch mal an, für diese spezielle … Show muss man bezahlen. Die Betreiber des Red Rooms wollen Geld verdienen. Je mehr zuschauen, desto besser, oder?«

Wiebke schüttelte den Kopf. »So läuft es hier aber nicht. Du kommst da nur rein, wenn jemand, der bereits Mitglied ist, also jemand, der zuschaut und mitmacht, dich einlädt und dir einen Code schickt. Dieses Mitglied bürgt quasi für dich. Der Code ist deine Eintrittskarte.«

»Das klingt ganz schön umständlich«, sagte ich.

»Und das spricht meiner Meinung nach dafür, dass es da drinnen wirklich zur Sache geht. Sonst bräuchte man diese hohen Hürden nicht.«

Maximilian wandte sich Pardis zu. »Du wolltest doch bei deinen Kollegen nachfragen, was die uns dazu mitteilen können.«

Pardis machte eine entschuldigende Geste mit der Hand. »Ich habe die entsprechende Spezialistin gestern zweimal angerufen und ihr auf Band gesprochen. Sie hat sich bislang noch nicht zurückgemeldet. Ich schätze mal, sie macht das am Montag.« Sie drehte sich zu Wiebke. »Was willst du in der Zwischenzeit machen?«

»Nun…« Wiebke kaute an der Unterlippe herum. »Da wir niemanden kennen, der sich einen solchen Content reinzieht … oder, das hoffe ich zumindest stark … werde ich versuchen, mich reinzuhacken. Der Code ist aber kaum zu knacken. Aber ich probiere es trotzdem. Wenn es auf diese Weise nicht klappt, brauche ich einen Umweg.«

»Welchen denn?«, fragte ich mehr aus Neugierde.

»Das sehen wir dann«, wich sie mir aus. »Ich habe da schon ein paar Ideen, würde aber nur ungern davon Gebrauch machen.«

Die Tür ging auf. Ein schmächtiger Junge mit blassem Gesicht, riesengroßen dunklen Augen und einem hellbraunen Wuschelkopf erschien auf der Schwelle. Er blickte uns nicht an, sondern starrte schweigend an die Wand.

»Ah!«, sagte ich. »Darius! Wie schön! Ich glaube, das Essen ist fertig. Richtig? Was gibt’s denn heute?«

Darius vermittelte nicht den Eindruck, als hätte er mich gehört. Doch wir alle kannten ihn und warteten einfach ab.

»Toast«, meinte er nach beinahe einer Minute. »Hawaii.«

»Hawaiitoast!« Pardis lächelte. »Das klingt super. Hast du Gabriele und Hans geholfen?«

Darius lächelte zum Fenster hinaus und nickte einmal.

»Gut!« Maximilian erhob sich. »Ich habe wirklich Hunger.«

»Ich auch«, schloss sich Wiebke an. »Ich habe heute früh nur Kaffee getrunken. Jetzt kracht mir der Magen.« Sie ging zu Darius und blickte zu ihm hinunter. »Führst du mich rüber?«

Darius verharrte kurz, dann packte er ihre Hand und sie setzten sich in Bewegung. Maximilian folgte ihnen.

Pardis wollte sich ihnen anschließen. Ich hielt sie zurück. »Warte kurz. Maximilian und ich brauchen noch eine Auskunft.«

»Welche denn?« Sie hatte die gleichen Augen wie ihr Sohn. Dunkel und riesig.

»In Friedrichshain bei der Partymeile...«

»Da hatte dieser Ron Eiger zuletzt gearbeitet«, meinte sie.

»Mhm. Dort verkaufen unter anderem Russen ihr Dope.«

Sie schnaubte. »Da verkauft so ziemlich jeder.«

»Ich müsste wissen, wer der Chef der Russen ist.«

»Oh! Das ist schwierig. Die Vernetzungen sind ziemlich undurchsichtig.«

»Aber wir brauchen die Info, weil es sein könnte, dass Ron Eiger mit denen zusammenhing.«

»Bist du dir da sicher? Der Einbruch und sein Tod könnten mit Drogengeschäften in Verbindung stehen?«

»Keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber so viel haben Maximilian und nicht rausbekommen, als dass wir diese Spur unberücksichtigt lassen können.«

»Okay.« Sie seufzte. »Ich schaue, was ich tun kann.«

Schritte, und Darius stand wieder in der Tür. Schweigend streckte er uns seine Hände entgegen.

Ich musste lachen. »Du bist sowas von hartnäckig! Wie deine Mama! Wir kommen.«