23

 

 

Es war zwei, vielleicht drei Uhr nachts. Genau konnte ich es nicht sagen. Ich hatte endlose Zeit in meiner Wohnung gehockt und vor mich hingestarrt. Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, ohne dass sie einen Sinn ergaben. Und ich wusste nur eins: Ich musste das klären. Jetzt.

Ich klopfte an Maximilians Tür. Das Pochen klang überlaut in dem ansonsten ruhigen Hinterhaus. Keine Reaktion aus dem Inneren.

Ich pochte erneut. Diesmal härter und drängender.

Schlurfende Schritte, Maximilian öffnete. Er hatte geschlafen. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und sein Ausdruck war der eines Mannes, den man gerade geweckt hatte.

Wortlos drängte ich mich an ihm vorbei, begab mich in das Zimmer, in dem sein Bett stand. Ich lehnte mich neben den Durchgang an die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust. Maximilian folgte mir und sah mich abwartend an.

»Okay«, begann ich. »Martin hatte Infos über das, was ich vor Jahren gemacht habe. Die wollte er weitergeben. Damit hat er mich unter Druck gesetzt.«

In meinem früheren Leben hatte ich für Gruber gearbeitet. Er hatte mich als kleines Mädchen zu sich geholt und ausgebildet. Ich hatte ihn auf zahllosen Einsätzen begleitet. Gruber löste Probleme. Für die SED, später für den KGB und schließlich äußerst erfolgreich und lukrativ für jeden, der es sich leisten konnte, ihn zu bezahlen.

Und er kannte keinerlei Skrupel. Wer in sein Visier geriet, war so gut wie tot.

Das war das Leben, das ich geführt hatte. Das war das einzige Leben, das ich kannte. Bis ich wegen Gruber mein ungeborenes Kind verlor und er mich zum Sterben zurückließ.

Das war der Punkt gewesen, an dem ich beschlossen hatte, als bezahlte Auftragskillerin auszusteigen. Das war der Punkt, an dem aus Katinka Helena Groß wurde. Ein neuer Name, eine neue Identität. Ich versteckte mich in einem schäbigen Hinterhaus Berlins, wo ich Gabriele Scuderi, Hans Wuttke und diesen verrückten Ex-Anwalt kennenlernte, der nicht müde wurde, allen Bewohnern mit seiner Flex den letzten Nerv zu rauben: Maximilian.

Und alles wurde anders. Plötzlich hatte ich, ohne es zu wollen, etwas, das einer Familie verdammt nah kam. Ich, ein Waisenkind unbekannter Herkunft, gehörte zu einer Gemeinschaft, für die ich bereit war, alles zu tun, was ich konnte.

Das machte mich verwundbar. Ein Umstand, den der BND-Mann Martin für sich weidlich auszunutzen wusste.

»Aha«, sagte Maximilian. Mehr nicht. Normalerweise redete er wie ein Wasserfall. Anwälte können das. Aber jetzt, wo es wirklich wichtig war, brachte er nicht mehr als dieses läppische, bescheuerte Wort über die Lippen.

»Ja«, gab ich zurück. » Aha. Ich habe Martin bei einigen Einsätzen geholfen. Zwangsweise. Das war’s. Er hat mir nach dem letzten Mal sämtliche Unterlagen überlassen, die er über mich gesammelt hat. Wir sind quitt. Das Kapitel ist damit abgeschlossen.«

Maximilian schwieg eine Zeitlang. »Warum hast du mir davon nicht schon früher erzählt?«

Ich schnaubte. »Was hätte das geändert? Es ging nicht anders. Martin hat es von mir verlangt, also musste ich es machen.« Ich sah ihn direkt an. »Ich würde jederzeit wieder so handeln.«

Sein Mund wurde schmal. »Ich habe recht gehabt. Du hast mir nicht vertraut. Und du vertraust mir noch immer nicht.«

»Wenn du das nicht verstehst…« Ich war es leid. »Ich habe das nur für uns gemacht. Wenn es lediglich um mich gegangen wäre, wäre ich nie darauf angesprungen.« Ich schüttelte den Kopf. »Warum erzähle ich dir das überhaupt? Du begreifst das eh nicht!«

Ich wandte mich ab und wollte gehen. Ein paar schnelle Schritte hinter mir. Er packte mich, drehte mich um. Ein kurzer Blick von ihm und er küsste mich.

Ich schob ihn von mir weg. »Es ging nicht anders. Wirklich. Es ging nicht anders.«

Er zog mich wieder an sich, und wir küssten uns erneut.