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Er

 

 

Er öffnet den Karton und betrachtet seine neueste Errungenschaft: schicke, teure Trail Runningschuhe. Giftig grün mit gelb und rot abgesetzten Streifen.

»Das sind sie?«, fragt Joey.

»Ja. Ich habe sie letzten Woche bestellt. Heute Vormittag hat sie der Postbote endlich gebracht.«

»Sei mir nicht böse«, Joey zögert. »Ich verstehe nicht ganz, warum du dermaßen auf dieses Trail Running stehst.«

»Warum? Weil das einfach super ist. Du bist draußen in der Natur. Du bist allein. Wenn du normal irgendwo joggst, sind da lauter Leute. Aber so, im Gelände, triffst du kaum jemanden. Du kannst dich voll auf den Sport konzentrieren.«

Joey legt den Kopf schief und zieht die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ich glaube, ich muss da mal mit.«

»Gerne! Morgen ist Sonntag. Da können wir das gleich machen.«

»Brauche ich da auch so teure Treter, wie du sie hast?«

Er schüttelt den Kopf. »Du besitzt doch sicher normale Turnschuhe.«

»Klar.«

»Das passt zunächst. Wir laufen nur, wenn es nicht regnet. Sollte es dir gefallen, und du bleibst dabei, kannst du dir die Schuhe immer noch zulegen.«

Joey betrachtet den Karton. »Die sind nicht billig, oder?«

»Zweihundert. Und ich habe sie schon günstiger gekriegt.«

»Puh«, macht Joey. »Was ist an denen denn so besonders?«

»Sie sind gepolstert, wasserfest und geben dir einen super Halt. Da schwebst du richtig.«

»Ich weiß, du machst das schon ewig«, sagt Joey. »Wahnsinn.«

»Wenn ich gewusst hätte, du magst gerne mal reinschnuppern, hätte ich dich längst mal mitgenommen«, erwidert er.

Joey zuckt mit den Schultern. »Ich dachte eben, du willst lieber deine Ruhe haben und ich störe dich nur, wenn ich neben dir her stolpere.«

»Von wegen! Du und stören! Du doch nicht.«

Joey lächelt. »Wann hast du damit angefangen?«

»Naja.« Er denkt nach. »Da war ich vielleicht sechzehn.«

»Und von einem Tag auf den anderen hast du damals beschlossen, durch den Wald zu rennen.«

»Quatsch!« Er lacht. »Ich habe für das Schulsportabzeichen trainiert.«

»In dem Alter ist sowas wichtig.«

»Stimmt.« Er nickt Joey zu.

»Wann hast du trainiert?«

»Du meinst die Uhrzeit?«

»Mhm.«

»Unterschiedlich. Vor oder nach der Schule. Wie ich eben Lust hatte.«

»Immer allein, oder mit Kameraden?«

»Du weißt doch, wie das ist. Am Anfang sind es viele, zum Schluss war ich der Einzige.«

Joey seufzt. »Die meisten Kids haben kein Durchhaltevermögen.«

»Du sagst es!« Er deutet mit dem Finger auf Joey. »Und meine Beharrlichkeit wurde belohnt.«

»Du hast das Sportabzeichen gewonnen.«

Er lacht. »In Gold. Aber das meinte ich nicht.«

»Was dann?«

»Das wird dir gefallen. Eines Tages renne ich durch den Wald. Es war morgens, ich hatte eine Stunde später Unterricht. Kein Mensch weit und breit. Die Gassigänger waren schon weg, die mussten zur Arbeit. Ich jogge so vor mich hin. Und da laufe ich um eine Biegung und da kommt mir doch ein Mädchen auf dem Fahrrad entgegen.«

»Hübsch?« Joey mustert ihn interessiert.

»Und wie! In einem geblümten Sommerkleid. Die langen Haare so locker hochgesteckt. Eine richtige Zuckerschnute.«

»Kann ich mir vorstellen. Hast du sie angesprochen?«

»Besser. Ich habe sie vom Rad geholt. Einfach angerempelt. Sie flog runter. Hat sich das Knie aufgeschlagen. Und hat geheult.«

»Ach! Und weiter?«

»Ganz der Gentleman habe ich ihr natürlich aufgeholfen. Mich entschuldigt. Wir sind ein Stück nebeneinander hergelaufen. Ich habe ihr angeboten, sie heimzubegleiten, und ihr beteuert, dass mir der Vorfall unheimlich leidtut. Dass ich über eine Wurzel gestolpert bin.«

»Das war überaus geschickt von dir.«

»Kann man so sagen.« Er nickt. »Dann erreichten wir einen Bach. Vielleicht drei Meter breit und achtzig Zentimeter tief. Wunderschönes klares Wasser. Da schwammen Enten herum. Sie fand sie putzig.«

»Enten sind schöne Tiere. Die kann ich auch stundenlang beobachten.«

»Besonders wenn sie mit ihren Küken unterwegs sind.«

»Die Bugwelle gefällt mir so gut«, sagt Joey. »Total drollig.«

»Ihr hat es ebenfalls gefallen. Sie war entzückt. Vergaß ihr schmerzendes Knie.« Er lacht.

Joey legt den Kopf schief. »Warum lachst du?«

Er lacht wieder.

»Du machst dich über mich lustig!«, sagt Joey.

»Nein.« Er winkt ab. »Ich musste nur daran denken, wie dumm sie geguckt hat, als ich sie ins Wasser geschubst habe.«

»In den Bach? Das hat sie sicher total überrascht.«

»Und wie! Ich bin ihr nachgesprungen, habe sie gepackt und ihren Kopf unter Wasser gedrückt.«

Joey befeuchtet seine Lippen mit der Zunge. »Konntest du ihre Augen sehen?«

»Überaus deutlich. Glasklares Wasser. Und ihr Mund … da kamen so lustige Blubberbläschen raus.«

»Und sie konnte nicht schreien.«

»Nö. Gar nicht. Total still. Die Füße haben gestrampelt.«

Joey zuckt mit den Schultern. »Das stört nicht sonderlich.«

»Nein, macht nur nass. Ich habe sie zwischendrin sogar ein paarmal Luft schnappen lassen.«

»Damit es nicht so schnell vorbei ist?«

»Genau. Irgendwann habe ich sie wieder runtergedrückt, bis sie schlaff wurde. Ich habe sie losgelassen. Sie ist ein Stück weitergetrieben und hat sich dann in Astwerk verhakt. Ich bin aus dem Wasser gestiegen und habe ihr Fahrrad einfach hinterhergeworfen. Dann bin ich heim. Ich hatte Hunger und musste zum Unterricht.«

»Das mit dem Rad war ne tolle Idee. Sicher haben die Bullen gedacht, sie ist unglücklich in den Bach gestürzt und ertrunken.«

»Das war das Ergebnis der Ermittlungen. Stand groß in der Zeitung.«

»Eigentlich perfekt.« Joey bedenkt ihn mit einem bewundernden Blick.

»Schon. Nur, es war zu schnell vorbei.«

Joey zwinkert ihm zu. »Das können wir mittlerweile besser.«

Er lacht. »Das kannst du laut sagen!«