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Sonntag

 

 

Maximilian war wie immer früh aufgestanden, um seine Frau zu besuchen. Lea lag seit dem Unfall, den Maximilian vor ein paar Jahren verschuldet hatte, im Koma. Kein Tag verstrich, an dem er nicht zur Charité fuhr, um einige Stunden mit ihr zu verbringen.

Sonntagmorgen – der Prenzlauer Berg schlief noch tief und fest. Ich nutzte die Pause und ging in die Boulderhalle. Auch dort war nicht viel los. Lediglich ein paar Hardliner übten an den Kletterwänden. Ich wählte wie immer den schwierigsten Aufstieg und genoss den Luxus, mich körperlich voll ausarbeiten zu können.

Anschließend duschte ich vor Ort. Nach einem Zwischenstopp beim Bäcker, um für Gabriele ein Mehrkornbrot zu kaufen, kehrte ich in unser Hinterhaus zurück. Sie selbst konnte wegen ihrer ausgeprägten Lichtallergie tagsüber nicht ins Freie. Und für mich war es eine Kleinigkeit, ihr das ein oder andere mitzubringen.

Gabriele saß im Nebenraum ihres Ladens. Die reich verzierte Schatulle stand offen, sie hielt ein Blatt Papier in der Hand und las.

Sie musste das Glockenspiel an der Tür gehört haben, denn sie sah mir entgegen.

»Ich habe das Brot dabei«, sagte ich.

»Prima.« Sie lächelte, nahm es mir ab und legte es neben sich auf den Tisch.

Ich setzte mich zu ihr. »Du stöberst in den Briefen deines Mannes?«

»Ja.« Sie nickte. »Eigentlich kann ich sie allesamt auswendig. Aber wenn ich sie lese und in der Hand halte, dann ist es so, als würde ein Stück meiner Vergangenheit zurückkommen. Als wäre Maurice noch am Leben. Ich sehe alles vor mir, wie es damals war. Es ist wie eine Zeitreise.«

Ich nickte. »Hans hat mir mal erzählt, wie ihr euch kennengelernt habt.«

Sie horchte auf. »Hat er?«

»Mhm. Er und dein Mann haben sich eine Studentenbude geteilt.«

»Oh ja!« Ihre Augen leuchteten auf. »In der Mansarde des Hauses, in dem meine Tante und mein Onkel damals zur Miete wohnten. Die Hinterhäuser waren ja wie auf einem anderen Planeten. Sie lagen in der DDR. Unerreichbar. Tante und Onkel lebten im Westteil Berlins.« Sie schmunzelte. »Hans und Maurice haben mich immer aufgezogen, weil ich damals gewohnheitsmäßig alle mit Grüß Gott angeredet und auch sonst mit breitestem bayerischen Akzent gesprochen habe.«

»Den hört man bei dir inzwischen fast nicht mehr heraus«, sagte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Durch das viele Reisen mit Maurice, wir waren ja nahezu überall auf der Welt, hat sich meine sprachliche Färbung mit der Zeit abgeschliffen. Wenn ich nach München zurückkehren würde ... ich denke, jetzt würde ich dort auffallen.«

»Jedenfalls finde ich es bemerkenswert, dass deine Freundschaft mit Hans so lange gehalten hat, obwohl du und Maurice ständig auf Achse wart.« Ich stockte. »Hans meinte, Maurice habe Hummeln im Hintern gehabt.«

Sie lachte herzlich. »Wir haben Hans stets Postkarten geschrieben. Und wenn wir uns in Berlin aufgehalten haben, das war ja auch regelmäßig mehrmals im Jahr der Fall, haben wir uns immer mit Hans getroffen. Dann ist Maurice gestorben, ich habe die Hinterhäuser geerbt, bekam meine Allergie … seitdem ich hier fest wohne, gehört Hans ganz einfach dazu.«

»Zu den Häusern?«

»Auch. Und zu mir.«

Ich blickte auf die Uhr. »Maximilian ist noch nicht zurück?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Dann wird er jeden Moment kommen.«

»Anzunehmen.« Sie stockte und runzelte die Stirn. »Ach, das hätte ich beinahe vergessen. Wiebke wollte mit dir reden.«

»Soll ich rauf in ihre Wohnung?«

»Nein. Sie ist drüben in der Kanzlei.«

»Geht’s ihr wieder besser?«

»Definitiv. Wiebke ist ein Stehaufmännchen. Die lässt sich so schnell nicht unterkriegen.«

»Da hast du recht.« Ich erhob mich. »Dann schau ich mal zu ihr rüber.«