Lars Ganzer. Wiebke hatte sich noch über eine Stunde mit seiner Person beschäftigt. Er war Leiter des Standesamtes von Berlin Steglitz. Einundfünfzig, geschieden. Keine Kinder. Ein äußerst geschätzter Beamter, der mehrmals für sein Engagement ausgezeichnet worden war. Außerdem, und das war interessant: Er spielte Keyboard auf Hochzeiten und sonstigen Familienfeiern. Wahrscheinlich lernte er diese Kunden über seinen Brotberuf kennen. Wenn junge Paare in seinem Amt ihr Aufgebot bestellten, konnte er sich gleich als musikalische Untermalung des Festes empfehlen. Ähnlich lief es vermutlich bei Taufen von Neugeborenen ab.
Er besaß sogar eine, wenn auch einfach gestrickte, Homepage, auf der er seine Dienste als Musiker anbot – samt Fotos und Referenzen glücklicher Kunden.
Sobald Maximilian aus der Charité zurückgekommen war, brachen wir auf, um dem Entertainer vom Standesamt einen Besuch abzustatten.
Er wohnte in einer Seitenstraße in Steglitz. Ein wunderschönes, fünfstöckiges Mehrfamilienhaus, an die hundert Jahre alt und bestens renoviert. Hellgelb gestrichene, reich verzierte Fassade. Davor üppige Laubbäume.
Jede Wohnung schien über eine Loggia zu verfügen. Und die Appartements selbst mussten im Hinblick auf die übersichtliche Klingel- und Briefkastenanlage groß sein.
Das Haus war nicht abgesperrt. Maximilian und ich traten ein. Schwarzweiße Kacheln am Boden in einem Rautenmuster verlegt. Marmorsockel und weiße Wände mit antiken Ornamenten sowie hohe Stuckdecken. Das Treppenhaus war aus Eichenholz und mit einem dunkelroten Sisalteppich belegt. Es existierte sogar ein altertümlicher Aufzug mit einer dieser Metalltüren zum Zuschieben.
Ganzer residierte im vierten Stock. Wir entschieden uns für den Lift.
Auf seiner Etage gab es nur zwei Wohnungstüren. Wir klingelten bei ihm.
Wenig später wurde uns geöffnet. Ein schlanker Mann in Stoffhose und weißem Hemd blickte uns erwartungsvoll entgegen.
»Herr Ganzer?«, fragte Maximilian.
»Ja?«
»Mein Name ist Storm und das ist Frau Groß. Bitte entschuldigen Sie die Störung am Sonntag«, fuhr Maximilian mit einem gewinnenden Lächeln fort. »Sie sind doch der Leiter des Standesamtes. Und Leni, meine Lebensgefährtin, und ich wollen endlich heiraten.«
Leni , dachte ich und bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck.
»Oh!«, erwiderte Ganzer. »Herzlichen Glückwunsch. Aber … wie Sie soeben richtig festgestellt haben: Es ist Sonntag. Kommen Sie doch bitte morgen ins Amt. Wenn es Ihnen wichtig ist, kümmere ich mich persönlich um Ihr Aufgebot. Ab neun stehe ich Ihnen zur Verfügung.«
»Das ist überaus freundlich«, beeilte sich Maximilian zu sagen. »Aber darum geht es uns gar nicht.«
»Nein?«
»Nein«, übernahm ich. »Mäxchen und ich haben nämlich gehört, dass Sie bei Hochzeiten für den musikalischen Rahmen sorgen. Und das auf außergewöhnlich hohem Niveau.«
Ganzer strahlte.
»Wie gesagt, Leni und ich wollen endlich heiraten. An unseren Festtag sollen sich die Gäste noch lange erinnern. Und unsere Freundin Laila Wittig, die war so begeistert von Ihnen.«
Laila Wittig - dieser Name tauchte in den Referenzen auf Ganzers Homepage auf.
»Oh ja! Frau Wittig. Das war eine gelungene Hochzeit!«
»Genauso möchten wir das ebenfalls haben«, sagte ich. »Mäxchen und ich waren gerade in der Nähe und dachten spontan…«
Er zögerte nur kurz. »Aber gerne. Dann kommen Sie doch rein.« Er machte einen Schritt zur Seite und öffnete seine Tür noch weiter, um uns eintreten zu lassen.
Seine Wohnung war wunderschön und wirkte, wie aus einem Hochglanzprospekt. Ein riesiges Wohnzimmer mit Fischgrat-Vollholzparket. Barockmöbel, Ölgemälde mit Goldrahmen. In einer Ecke stand ein imposanter Flügel. Im ebenfalls antiken Bücherschrank reihten sich leinen- und ledergebundene Romane dicht an dicht.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Ganzer wies auf vier Sessel, die um einen ovalen Tisch mit kunstvollen Intarsien gruppiert waren. Wir folgten seiner Einladung und er gesellte sich zu uns.
»Wann möchten Sie denn heiraten?«, erkundigte er sich und zückte sein Handy.
»Nun«, erwiderte Maximilian. »Das kommt ganz auf Sie an. Im August. Entweder am ersten Samstag im Monat oder am letzten.«
Ganzer tippte auf dem Display seines Telefons herum. »Dann der erste Samstag. Da habe ich Zeit.« Er sah auf. »Wie soll die Feier denn ablaufen?«
»Ach.« Ich zog eine Schnute. »Ein kleiner Rahmen. Nur etwa zweihundert Personen. Nicht wahr, Mäxchen?«
»Nicht mehr«, bestätigte Maximilian. »Nur die engste Familie und meine Geschäftspartner.«
»Oh! Doch so groß!«, meinte Ganzer. »Da habe ich andere Tarife.«
Maximilian schüttelte den Kopf. »Geld spielt keine Rolle.«
»Wir heiraten nur einmal im Leben«, ergänzte ich.
Ganzer lächelte. »Was schwebt Ihnen musikalisch vor? Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht?«
»Haben wir und unsere Überlegungen auch gleich aufgeschrieben«, sagte Maximilian. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und holte ein zusammengefaltetes Blatt heraus. Er öffnete es sorgfältig und schob es Ganzer zu.
Ganzer beugte sich vor und blickte auf den Screenshot vom Logo des Red Rooms mit dem roten Herz auf weißer Wand. Er erstarrte, fing an zu zittern und fegte den Zettel mit seiner Hand vom Tisch.
»Aber, aber«, sagte Maximilian tadelnd.
Ich bückte mich, hob die Seite auf, glättete sie sorgfältig und legte sie wieder vor Ganzer. »Die haben Live-Performances«, sagte ich. »Für den besonderen Geschmack. Wirklich einzigartig.«
Ganzer atmete mehrmals durch. »Verschwinden Sie aus meiner Wohnung«, zischte er. »Sofort!«
Ich nickte. »Das könnten wir durchaus tun. Aber du Schwein, du musst wissen, dass wir dann schnurstracks zu deinem Vorgesetzten gehen werden, um ihm brühwarm zu erläutern, wo du dich nach Feierabend verlustierst und was für kranke Scheiße du dir reinziehst.«
Er schluckte. »Ich werde alles abstreiten. Sie haben keinerlei Beweise.«
»Beweise?«, übernahm Maximilian. »Die haben wir. Wie glauben Sie denn, dass wir Sie gefunden haben?«
Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Was wollen Sie für Ihr Schweigen haben?«
»Redest du von Geld?«, fragte ich.
»Ja. Geld.«
»Geld wollen wir nicht.«
»Was dann? Es gibt einen Grund, warum Sie hierhergekommen sind.«
»Stimmt«, sagte ich. »Wir brauchen den Code.«
Er gab sich verwundert. »Welchen Code?«
»Stell dich nicht so an!« Ich schnaubte. »Gib uns den Code, mit dem du in den Red Room gelangst.«
Seine Lider zuckten. »Das kann ich nicht machen.«
»Warum?«, fragte Maximilian.
»Wenn die das spitz kriegen, dann ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Die kennen keinen Spaß.«
»Wir auch nicht«, sagte ich.
Er wurde blass. »Das können Sie mir nicht antun. Haben Sie doch Mitleid!«
»Mitleid?«, herrschte ihn Maximilian an. »Sowas aus Ihrem Mund? Sie wissen doch gar nicht, was das ist!«
»Du Arschloch gibst uns jetzt den Code«, sagte ich. Langsam war ich mit meiner Geduld am Ende.
Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. »Sie müssen mir garantieren, dass Sie nicht gegen mich vorgehen oder mich nicht bei den Behörden melden.«
»Ich kann und will das nicht versprechen«, gab Maximilian zurück.
Ganzer hob den Kopf und blickte uns an. »Bitte! Versuchen Sie doch, zu verstehen! Ich bin krank! Diese Sucht, sich das anschauen zu wollen … zu müssen … ich kann dem nichts entgegensetzen. Immer wieder lande ich da drinnen und kann mich von den Bildern nicht losreißen.«
»Was ist mit den Opfern, die gefoltert und umgebracht werden?«, herrschte ich ihn an. »Und du holst dir dabei vermutlich noch einen runter? Das sollen wir verstehen und als Krankheit entschuldigen? Ist das dein Ernst?«
Er schwieg, und ich hatte Mühe, mich zurückzuhalten.
»Gib mir den verdammten Code«, drängte ich. »Sofort!«
Ganzer atmete tief durch. Er nickte ansatzweise.
Maximilian holte seinen Kuli aus der Jackentasche und hielt ihn Ganzer auffordernd entgegen. Ich schob ihm den Ausdruck mit dem Herz zu. »Hier drauf.«
Ganzer setzte an, zu schreiben. Seine Hand begann zu zittern.
»Los! Mach!«, sagte ich.
Er gehorchte. Ungelenk kritzelte er Zahlen und Buchstaben auf das Papier.
»Das war‘s?«, fragte ich.
Er nickte stumm.
»Gut.« Ich nahm den Zettel an mich.
Maximilian und ich erhoben uns. Ganzer blieb sitzen, die Arme auf den Tisch gestützt, das Gesicht in seinen Händen verborgen.
Wir verließen ihn, fuhren mit dem Lift nach unten und traten ins Freie, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Wir beide wollten nur möglichst schnell und möglichst weit weg von diesem abartigen Menschen.
Draußen atmete ich tief durch und reichte Maximilian das Blatt Papier. Er verstaute es wieder in seinem Jackett.
»Der Kerl hat so eine makellose Wohnung«, murmelte ich. »Er macht auf angesehener Beamter und auf Kunst und Kultur. Aber in Wirklichkeit ist er durch und durch verdorben.«
»Ein perverses, sadistisches Schwein«, gab mir Maximilian recht. »Von der schlimmsten Sorte.«
»Ich hätte ihn doch rausprügeln sollen«, sagte ich. »Dann hätte er gesehen, wie es ist, selbst Schmerzen zu haben, anstatt anderen dabei zuzusehen, wie sie gequält werden.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Maximilian. »An dem machen wir uns die Hände nicht schmutzig. Wir geben unsere Beweise an Pardis weiter. Ihre Kollegen und die Staatsanwaltschaft werden ihn schon zur Rechenschaft ziehen. Da bin ich mir sicher.«
Ein Schatten über uns. Ich blickte nach oben.
Etwas krachte dicht neben uns auf die Steinplatten. Ein menschlicher Körper, mit dem Kopf voran. Es knackte, und Gewebe und Blut verteilten sich um die Leiche, rote Flüssigkeit floss träge auf uns zu.
Lars Ganzer hatte sich seiner Strafe und der Ächtung durch die Gesellschaft feige entzogen. Er hatte sich lieber selbst gerichtet.