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Kurz nach elf Uhr abends. Hans, Maximilian, Wiebke und ich hatten in ihrem Büro vor dem großen Bildschirm Platz genommen. Gemeinsam lasen wir seit rund einer halben Stunde den umfangreichen Abschlussbericht der Kripo-Abteilung gegen Internetkriminalität zu dem Red Room. Inzwischen waren wir beim Fazit angelangt:

 

1)
Bei den Darstellungen handelt es sich nicht um Live-Übertragungen.

2)
Die angeblichen Folterungen und Morde finden nicht an den gezeigten Orten statt, sondern werden vor einem Bluescreen gefilmt.

3)
Die Handlungen werden aus drei unterschiedlichen Kameraperspektiven gezeigt. Immer dann, wenn ein Perspektivenwechsel erfolgt, erfolgt auch ein Schnitt. Das bedeutet, dass das gesamte Filmmaterial nachträglich bearbeitet wurde – hauptsächlich wegen der Dramaturgie und um die vermeintlichen Opfer entsprechend maskenbildnerisch zu präparieren. Dadurch soll beim Zuschauer der Eindruck erweckt werden, dass er die Zufügung von Wunden und schließlich die Tötung des Opfers live mitverfolgt.

4)
Die Aufnahmen zeugen von hoher Professionalität. Es steht eindeutig fest, dass in dem Red Room mit dem roten Herz als Logo keine tatsächlichen Folterungen und Morde stattfinden.

 

Wiebke schloss das Dokument. Ihr Bildschirmschoner sprang an – Abba in ihren blauen Waterloo-Kostümen lachten uns entgegen.

Sie räusperte sich. »So weit, so gut. Wollen wir jetzt mal in die Aufnahmen selbst reinschauen?«

Wir nickten, und sie öffnete eine der Filmdateien…

 

Ein Straßenschild. Die Fassade eines schicken Einfamilienhauses. Die Kamera fährt hinein, durch den Flur bis in ein Wohnzimmer. Die Perspektive wechselt. Im Raum sitzt neben einem Obduziertisch eine Frau. Sie ist gefesselt und geknebelt. Ihre Augen sind vor Panik weit aufgerissen. Rotz läuft ihr aus der Nase und sie gibt Angstlaute von sich…

 

»Moment«, sagte Maximilian.

Wiebke drückte auf Pause.

»Leute«, Maximilian sah in die Runde. »Sorry, aber ich kann das nicht. Ich kann mir auch diese Art von Horrorfilmen nicht anschauen. Ihr müsst das allein machen.«

»Kein Problem«, erwiderte Hans. »Warte einfach so lange nebenan in deinem Büro. Wir holen dich, sobald wir fertig sind.« Und zu Wiebke: »Du musst auch nicht bleiben. Es genügt, wenn Helena und ich das grob sichten.«

»Ach Quatsch!« Wiebke winkte ab. »Das ist kein Problem für mich. Ich weiß ja jetzt, dass das alles nicht echt ist. Dann macht es mir auch keine Angst.«

»Sicher?«, fasste Hans nach.

»Ich fühle nur immer so intensiv mit den Opfern mit. Aber das hier sind ja lediglich Schauspieler. Die kriegen dafür sogar Geld. Das ist zwar voll krank, aber in Wirklichkeit passiert denen gar nichts.«

»In Ordnung«, meinte Hans.

»Also, bis später!« Maximilian öffnete die Tür und verließ uns.

Wiebke drückte auf Play.

 

Die gleiche Frau aus anderer Perspektive. Ein Mann mit einer weißen Anonymos-Maske steht vor ihr. Er schlägt sie und zerrt sie bis zum Obduziertisch. Dort zurrt er sie mit Lederriemen fest. Er holt sich ein Skalpell, hebt es in die Höhe. Licht bricht sich auf der rasiermesserscharfen Schneide.

Die Frau beginnt zu wimmern…

 

Die Aufnahme dauerte bestimmt dreißig Minuten. Wir sahen sie uns nicht in allen Einzelheiten an, sondern Wiebke spulte immer wieder etwas vor, um uns die schlimmsten Szenen zu ersparen.

Der Folterknecht ließ sich Zeit mit seinem Opfer. Er quälte, verletzte und erniedrigte die Frau auf unsägliche Art und Weise. Vor uns spielte sich eine regelrechte Blutorgie ab, die mit dem Tod des Opfers endete. Schließlich malte der Folterknecht ein Herz mit roter Flüssigkeit an die Wand. Während der gesamten Übertragung liefen an der Unterseite des Bilds Kommentare und Geldwetten in einem Textbanner mit, wie lange die Frau durchhalten würde.

Wiebke klickte auf Stopp.

Ich atmete erleichtert aus und lehnte mich zurück.

»Gut, dass wir vorspulen konnten«, sagte Wiebke. »War trotzdem heftig, obwohl es nur Show ist. Die Leute, die sich das freiwillig angucken und dafür bezahlen, sind Monster.«

Hans räusperte sich und rückte seine Krawatte zurecht. »Ich glaube, die anderen Aufnahmen müssen wir nicht sichten. Wir haben genug angeschaut. Was in den Köpfen dieser Spanner vorgeht … Unglaublich.«

»Die Schlussfolgerungen der Polizei stimmen«, meinte ich. »Diese Perspektivenwechsel mit Filmschnitten sind vorhanden. Und nicht zu knapp.«

»Wenn man weiß, worauf man achten muss, kann man sie nicht übersehen«, gab mir Wiebke recht. »Das war nicht live. Das war alles gestellt.«

»Tja«, murmelte Hans. »Kommen wir zur spannenden Frage: Was machen wir damit?«

»Nun«, ich zuckte mit den Schultern. »Wir müssen es Frau Thiel erklären. Das ist keine Spur. Der Red Room hat nichts mit dem Mord an ihrem Partner zu tun. Sie wird enttäuscht sein.«

»Andererseits ist es doch gut, dass dort nicht wirklich Menschen sterben«, warf Wiebke ein. »Das sind nur widerliche Gewaltpornos, mehr nicht.«