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Montag

 

 

Maximilian hatte am Morgen Frau Thiel angerufen und sich mit ihr in unseren Kanzleiräumen für halb zwölf verabredet. Sie stand bereits Punkt elf bei Wiebke auf der Matte. Wiebke rief mich an und ich legte meine Pinsel weg, lief die Treppe hinunter, und war keine fünf Minuten später in unserem Büro. Es hatte definitiv Vorteile, wenn man lediglich zwei Stockwerke über seinem Arbeitsplatz wohnte.

Wiebke hatte Frau Thiel mit einer Cola light versorgt, und die beiden unterhielten sich über Wiebkes Katzen, die um Frau Thiels Beine strichen.

Ich begrüßte unsere Klientin, und wir nahmen vor Wiebkes Monitor Platz.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich eine halbe Stunde zu früh gekommen bin«, begann Frau Thiel. »Aber ich konnte nicht mehr länger zuhause herumsitzen. Das Warten macht mich krank.« Sie lächelte, als habe sie ihren letzten Satz nur so daher gesagt. Doch der Ausdruck ihres Gesichtes verriet mir, dass ihre Feststellung den Tatsachen entsprach.

»Herr Storm wird in ein paar Minuten zu uns stoßen. Ich würde vorschlagen, wir fangen einfach schon mal an«, sagte ich.

»Es geht um den Red Room, hatte Herr Storm am Telefon angedeutet?« Sie musterte mich erwartungsvoll. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Definitiv«, sagte ich. »Aber ich fürchte, dass Ihnen unsere Erkenntnisse nicht unbedingt gefallen werden.«

»Wieso das?«

»Der Red Room hat nichts mit der Ermordung von Hajo Andersen zu tun.«

»Unmöglich«, flüsterte sie.

»Leider doch«, erwiderte ich. »Und Frau Wondratschek und ich werden Ihnen das gleich anhand eines Videos erklären. Allerdings ist der Film, den wir Ihnen zeigen möchten, wirklich heftig. Sobald es Ihnen zu viel wird, sagen Sie einfach stopp und wir erzählen Ihnen den Rest.«

»In Ordnung«, meinte sie. »Ich will das sehen. Unbedingt.«

Ich musterte sie, um mich zu vergewissern, dass wir ihr damit nicht zu viel zumuteten. Sie wirkte mehr als entschlossen. Also nickte ich Wiebke zu und sie startete die Aufzeichnung der Kripo, die wir am Vorabend gemeinsam mit Hans gesichtet hatten.

Während der Präsentation drückte Wiebke immer wieder auf Pause und erklärte Frau Thiel die Perspektivenwechsel und die Schnitttechnik. Nach einigen Minuten brach sie ab und meinte: »Ich denke, das reicht und sie können erkennen, dass es sich weder um eine Liveübertragung gehandelt hat, noch wurde hier ein tatsächliches Verbrechen aufgenommen. Das sind lediglich Schauspieler, die gewisse perverse Neigungen ihrer Zuschauer im Austausch für viel Geld bedienen.«

Frau Thiel holte tief Luft. Ihre Lippen wurden schmal. »Zu dem gleichen Ergebnis ist die Polizei ebenfalls gekommen?«

»Ja«, bestätigte ich. »Wir haben es uns aber wirklich nicht leicht gemacht, sondern jedes Detail nochmals überprüft. Und wenn Sie möchten, können wir versuchen, Ihnen einen Termin bei der zuständigen Abteilung der Kripo zu vermitteln, damit Sie von der offiziellen Seite eine ausführliche Rückmeldung erhalten.«

»Das will ich auf alle Fälle«, gab sie zurück. »Dennoch bin ich felsenfest davon überzeugt, dass Sie sich irren. Das ist nie und nimmer eine Show. Wir wurden Zeugen eines echten, gemeinen Mordes. So, wie mein Hajo getötet wurde. Ich weiß das, ich habe das selbst miterleben müssen.«

»Ich kann Sie verstehen«, setzte ich an. Weiter kam ich nicht.

»Nein, Sie verstehen rein gar nichts!«, zischte sie. »Sie haben nicht den blassesten Schimmer! Ich kann genau spüren, dass das, was in dem Red Room gezeigt wird, nicht gespielt ist. Dort wütet ein Killer! Und es ist Hajos Killer! Ich werde nicht eher ruhen, bis ich ihn zur Strecke gebra…«

Die Tür öffnete sich und Maximilian trat ins Büro. »Guten Tag, Frau Thiel. Sie sind schon da?«

Sie warf ihm einen kalten Blick zu. »Ja. Das bin ich. Und Ihre Mitarbeiterinnen wollten mir gerade einreden, dass der Red Room eine Sackgasse ist.«

»Bedauerlicherweise«, meinte Maximilian und zog sich einen Stuhl heran. Er nahm Platz.

Sie schüttelte überdeutlich den Kopf. »Nein! Nein! Nein! Das akzeptiere ich nicht!« Sie stockte. »Sie haben nur diese alten Aufnahmen. Die haben Null Aussagekraft! Was ist mit dem Code? Sie sollten doch den Code beschaffen, damit wir uns selbst ein Bild machen können, was dort aktuell passiert.«

»Diesen Code…«, erwiderte Maximilian.

»…den haben Sie natürlich nicht!«

Maximilian blickte von Wiebke zu mir. Ich neigte ansatzweise den Kopf.

»Doch, es ist uns gelungen, den Code zu beschaffen.«

»Sie haben ihn?« Frau Thiel betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen. »Und damit rücken Sie erst jetzt raus, nachdem ich gezielt danach frage? Was ist denn hier los? Verbergen Sie etwas vor mir?«

»Im Gegenteil«, sagte Maximilian.

»Ich habe Sie dafür bezahlt und jetzt will ich den Code auch haben«, gab sie zurück. »Ich will sehen, was gerade im Red Room vor sich geht! Mit eigenen Augen!«

Maximilian seufzte. »Gut. Dann lassen Sie es uns gemeinsam herausfinden.«

Wiebke wandte sich ihrem Laptop zu und rief den Red Room auf. Der große Monitor vor uns zeigte die weiße Wand mit dem roten Herz.

Maximilian hatte in der Zwischenzeit sein Handy aus der Tasche gefischt. Er diktierte Wiebke die Zahlen- und Buchstabenfolge, die wir von Ganzer erhalten hatten.

Sie gab sie in das entsprechende Feld ein. Ihre Finger klapperten über die Tastatur. Die weiße Wand mit dem Herz löste sich auf. Ein Button mit dem Symbol eines Einkaufswagens erschien. Wiebke versuchte, auf die Fläche zu klicken.

»Sehen Sie?«, sagte sie zu Frau Thiel. »Der Button ist im Moment nicht unterlegt. Da gibt’s nichts zu sehen.«

»Sie täuschen sich! Probieren Sie es erneut!«, gab Frau Thiel zurück. »Das muss funktionieren!«

Wiebke tat ihr den Gefallen. Nach dem dritten Scheitern gab sie auf.

»Leider inaktiv«, sagte sie zu Frau Thiel.

Unsere Klientin senkte den Kopf.

Maximilian räusperte sich. »Frau Thiel. Das ist eine Gruppe von Darstellern. Die verdienen damit Geld. Das hat nichts mit dem Mord an Ihrem Lebensgefährten zu tun.«

Sie atmete schwer und sah auf. »Sind Sie sicher, Herr Storm?«

»Ganz sicher«, bekräftigte er.

Ihr Gesicht nahm einen sturen Ausdruck an. »Trotzdem! Ich möchte mit der zuständigen Abteilung bei der Kripo reden. Sie müssen das verstehen, Herr Storm. Ich will nichts unversucht lassen.«

»In Ordnung«, erwiderte Maximilian. »Ich kann Ihnen zwar nichts versprechen, aber wir tun unser Möglichstes.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.

»Nun«, sagte ich. »Wir verfolgen noch die Spur mit den Drogen.«

»Das ist alles?« Ihre Wangen wurden rot. »Das kann doch nicht wahr sein! Ich…«

»Frau Thiel.« Diesmal war es Maximilian, der sie unterbrach. »Ich hatte Ihnen von Anfang an erklärt, dass wir Ihren Fall probeweise übernehmen, und sollten wir nach ein paar Tagen merken, dass wir nicht weiterkommen, hören wir auf. Und so werden wir es auch handhaben.«

Sie setzte zu einer Antwort an, schloss ihren Mund und erhob sich ruckartig. »Das wird sich noch zeigen! Ich höre von Ihnen!«

Ohne sich von uns zu verabschieden, rauschte sie aus dem Büro und warf die Tür hinter sich zu. Wir sahen ihr nach, wie sie schnellen Schrittes den Hinterhof überquerte und im Durchgang des Vorderhauses verschwand.

»Die ist ja mal so richtig angepisst«, stellte Wiebke fest und trank ungerührt von ihrer Cola.

»Ist ja irgendwo verständlich«, sagte Maximilian. »Sie möchte eben den Mord an ihrem Partner aufklären. Die Situation belastet sie.«

»Deshalb muss sie uns doch nicht so blöd anmachen!«, empörte sich Wiebke. »Wir haben sie auch nicht von der Seite angeredet, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Mir ist das egal. Fakt ist, in dem Fall kommen wir nicht wirklich voran. Wir besuchen noch den russischen Drogenboss, und dann ist aber endgültig Schluss.«

Ein helles Ping ertönte. Ich blickte mich stirnrunzelnd um. »Wo kam das her?«

Wiebke deutete auf ein anderes Laptop. »Das ist der Tracker, den ich eingerichtet habe.«

»Tracker?«, fragte Maximilian.

Wiebke blickte betreten zu Boden.

Auf dem kleineren Monitor erschien eine Schrift, die in der unteren Hälfte des Bilds langsam durchlief:

Katinka, Hilfe, schnell! Museum der Weltmeere, Kaliningrad. Gegenüber. Du musst! Marti…«

Maximilian beugte sich vor und las die Nachricht. Er drehte sich zu mir um. »Du stehst noch immer mit dem BND-Kerl in Kontakt?«

»Andersrum«, sagte ich. »Nicht ich mit ihm, sondern er mit mir.«

»Das soll ich dir abnehmen?«

»Helena hat damit nichts zu tun«, beeilte sich Wiebke, klarzustellen. »Diese Texte kommen von ganz allein.«

Maximilian sah von Wiebke zu mir.

»Ich habe Wiebke lediglich gebeten, einen Tracker einzurichten, falls eine erneute Nachricht kommt«, erklärte ich ihm.

»Und warum ist dir das wichtig? Der Kerl kann uns doch egal sein! Der hat dich nur gequält!«

Ich atmete tief durch. »Wie soll ich dir das erklären? Es ist … kompliziert.«

»Natürlich!«, zischte Maximilian. »Das ist es doch bei dir immer!«

Ich senkte den Kopf und stand auf.

»Was ist los?«, fragte er.

Ich wandte mich ihm zu. »Was soll sein? Du willst, dass wir das ignorieren? Dann tun wir das eben.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ ich die Kanzleiräume. Ich hatte keine Kraft mehr, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich wollte nicht schon wieder mit ihm streiten.

Ich ging in meine kleine Wohnung, versperrte die Tür sorgfältig hinter mir, stellte mich ans Fenster und betrachtete den großen Baum, der bei Maximilians Werkstattschuppen wuchs. Einige der Knospen an den knorrigen Ästen waren aufgeplatzt, und ich konnte erstes zartes Grün erkennen.