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Nach vielleicht einer halben Stunde klopfte jemand an meine Tür. Mir wurde bewusst, dass ich noch immer vor dem geöffneten Fenster stand und den Baum anstarrte.

Ich warf einen Blick über die Schulter hinweg zum Eingang.

Ein erneutes Pochen.

Ich beschloss, das Klopfen zu ignorieren. Stattdessen schloss ich das Fenster, und begann an meinem Bild zu malen. Der Geruch der Ölfarbe, das leise Geräusch des Pinsels, wenn er über die Leinwand strich, die Notwendigkeit, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren … ich vergaß alles und verlor mich im Hier und Jetzt.

Klack – an meinem Fenster. Ich erschrak und hätte beinahe die Linie verrissen, die ich im Begriff war, zu setzen.

Klack – ein zweites Mal. Irgendwer schmiss Steinchen gegen die Scheibe.

Wie originell , dachte ich und widmete mich wieder dem Malen.

Peng – kein Steinchen, ein faustgroßer Brocken. Im Glas klaffte ein Loch.

Ich riss das Fenster auf. Unten erblickte ich Maximilian, der zu mir heraufschaute.

»Sag mal, spinnst du?«, brüllte ich. »Bist du komplett wahnsinnig geworden? Das sind Thermoscheiben! Das zu reparieren, kostet mehrere hundert Euro!«

»Ist mir egal«, gab er laut zurück. »Wir müssen reden.«

»Ach wirklich?«

»Ja!« Er drehte sich ab und setzte sich mit dem Rücken zu mir auf einen der uralten Gartenstühle aus vergilbtem Plastik.

»Da kannst du warten, bis du schwarz wirst!«, murmelte ich. »Du blöder, eingebildeter Idiot!«

Ich schmiss das kaputte Fenster zu, trat wieder an die Staffelei, wollte die Arbeit fortsetzen. Meine Finger zitterten vor unterdrückter Wut.

Kurzentschlossen pfefferte ich den Pinsel in das Einmachglas mit Terpentinersatz, wischte mir die Hände an einem Lappen sauber und stürmte nach unten.

Maximilian hatte einen zweiten Stuhl direkt neben sich gestellt, blickte jedoch nicht hoch, als ich den Hinterhof betrat. Meine Schritte wurden langsamer. Unschlüssig blieb ich vor ihm stehen, bevor ich schließlich bei ihm Platz nahm.

Ich zwang mich, ruhig zu werden, und wappnete mich auf die Vorwürfe, die er mir gleich an den Kopf schmeißen würde.

»Es war mein Fehler«, sagte er.

»Was?«, erwiderte ich überrascht.

»Ja.«

»Okay«, meinte ich lahm.

Er wandte sich mir zu. »Damit wir uns nicht missverstehen: Martin ist ein totales Arschloch. Ein blöder Wichser.«

»Ja. Das ist er«, bestätigte ich.

»Er hat dich die ganze Zeit über erpresst und ausgenutzt. Er hat dich in Gefahr gebracht und davon profitiert.«

»Stimmt«, sagte ich knapp.

»Und jetzt, da ihm das Wasser offenbar bis zum Hals steht, fällt ihm ein, dass ihm niemand anders helfen kann, außer dir.«

»Eine treffende Umschreibung der Situation«, meinte ich.

Er seufzte. »Am liebsten würde ich ihn verschimmeln lassen ... wo auch immer er ist. Aber was wären wir dann für Menschen? Wir wären die gleichen blöden Arschlöcher und Wichser, wie er einer ist, nur schlimmer.«

Ich lächelte kurz und wurde gleich wieder ernst. »Er hat geschrieben, dass er in Kaliningrad steckt.«

Maximilian nickte. »Wiebke hat auf meine Bitte hin das Haus über das Handy, von dem die Nachricht stammt, geortet.«

»Und?« Ich sah ihn an.

»Ein heruntergekommenes Gebäude zwischen lauter Lagerhallen am Fluss Pregel. Beim alten Königsberger Hafen gegenüber dem Museum der Weltmeere.«

»Dort wird er festgehalten?«

»Scheint so.«

»Kaliningrad liegt zwar zwischen Litauen und Polen, ist aber in russischer Hand. Eine Enklave«, sagte ich.

»Ich weiß«, gab er zurück.

Ich schüttelte langsam den Kopf und biss mir auf die Unterlippe. »Es ist nicht damit getan, dass ich hingehe und ihn mit welchen Mitteln auch immer befreie. Ich muss ihn auch aus der Stadt schaffen. Sonst kaschen sie mich schneller, als du do svidaniya sagen kannst.«

»Was das angeht, habe ich bereits mit Hans gesprochen. Er hat eine super Idee, auf die nur Juristen kommen können.«

Ich schnaubte. »Das wird keine kleine Spritztour. Das wird richtig gefährlich werden, wenn ich zu ihm fahre.«

»Das ist mir bewusst. Und du fährst nicht hin.«

»Wie? Ich nicht?« Ich verstand nicht. »Wer dann?«

»Wir beide. Entweder machen wir das gemeinsam, oder gar nicht. Wenn du schon ständig mit Martin irgendwelchen verbotenen Scheiß baust, bin ich ab sofort mit dabei.«

Das gefiel mir gar nicht. Er hatte ja keine Ahnung, worauf er sich da einließ. Ich schon. »Wirklich?«

»Ja. Wirklich. Ich bin mit von der Partie.«

Ich zögerte erneut. »Die Sprache ist kein Problem«, sagte ich mehr zu mir selbst. »Ich kann fließend Russisch ohne erkennbaren Akzent.«

»Na klar kannst du das. Als ehemalige KGB … äh …. Problemlöserin…«

» Problemlöserin

»Wie nennt ihr das? Auftragskiller? Sniper? … Egal. Jedenfalls gehört die Beherrschung der Sprache bestimmt zum kleinen Einmaleins dazu.«

»Sehr witzig«, sagte ich. »Wir brauchen Papiere, Ausweisdokumente.«

»Hans hat entsprechende Connections.«

»Ach!« Ich horchte auf. »Warum hat er mir das früher nie gesagt? ... Und was hat er insgesamt für eine Idee, wie wir da rein- und rauskommen? Wir müssen Martin unbemerkt über die Grenze schmuggeln, das ist euch doch klar?«

Maximilian verzog den Mund. »Lass dich überraschen. Das wird dir gefallen.«