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Gabriele war dabei, unseren Gast mit Tee zu versorgen.

Ich begrüßte Herrn Falk und sah in die Runde »Habe ich was verpasst?«

»Nein. Wir haben uns gerade erst bekanntgemacht«, sagte Hans.

Ich nahm neben Maximilian Platz.

»Nett haben Sie es hier.« Falk blickte sich im Nebenraum des Ladens um. »Eine Kanzlei stellt man sich für gewöhnlich völlig anders vor. Sie haben etwas ganz Besonderes.« Er stockte, schien nach dem richtigen Begriff zu suchen. »Eine Art WG.«

»Mehr eine Art Familie«, erwiderte ich.

Gabriele, die noch neben mir stand, tätschelte meine Schulter und stellte mir ebenfalls einen Becher hin.

»Und Frau Scuderi, der die Hinterhäuser gehören, ist das Herz des Ganzen«, ergänzte ich.

Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und gesellte sich zu uns.

»Ich bin tief beeindruckt«, sagte Falk. Er sah von mir zu Maximilian. »Es gibt neue Entwicklungen in Rons Todesfall, meinten Sie am Telefon?«

Maximilian nickte. »Sie haben sicher Verständnis, dass wir Ihnen keine Details verraten können – schon allein aus rechtlichen Gründen nicht.«

»Natürlich!« Falk hob abwehrend eine Hand. »Ich kann Ihre Zurückhaltung vollkommen nachvollziehen.«

»Danke«, sagte Maximilian. »Im Zuge unserer Ermittlungen sind wir auf einen Perfomance-Künstler gestoßen.«

Falk runzelte die Stirn. »Performance?«

»Ja. Er firmiert unter dem Namen Slaughterhouse Boy.«

»Ach!« Falks Gesicht erhellte sich. »Aurelius! … Wie war sein Nachname … Moment … irgendwas mit von und zu …. Genau! Aurelius von Born.«

»Herr Bülent, der Betreiber der Urban Art Gallery, meinte, Sie würden den Künstler besser kennen.«

»Puh. Ein wenig.«

»Wir würden ihm nämlich gerne ein paar Fragen stellen, aber wir können ihn nicht erreichen.«

» Jetzt verstehe ich!« Falk lächelte. »Sie hoffen, dass ich Ihnen dabei behilflich sein kann, den Kontakt zu knüpfen.«

»Das ist der Plan«, bestätigte ich.

»Aurelius wohnt doch in Berlin oder zumindest in der Nähe.«

»In Potsdam«, konkretisierte Hans.

»Kann sein.« Falk machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ans Handy geht er nicht? Die Nummer steht doch auf der Homepage.«

»Es springt nur die Mailbox an«, sagte ich.

»Und bei ihm zuhause?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wir waren dort, aber Fehlanzeige.«

Falk schnalzte mit der Zunge. »Das tut mir leid … keine Ahnung, wo er stecken könnte.«

»Woher kennen Sie ihn denn?«, fragte Hans. »Von der Galerie?«

»Ursprünglich schon. Dann habe ich ihm geholfen, für seine Homepage einen kurzen Imagefilm anzufertigen. Der ist immer noch auf seiner Seite zu sehen. Ist ganz gut geworden. Aurelius hat früher mal bei den Babelsberger Filmstudios als Kabelschlepper und Filmassi oder wie man das nennt, gearbeitet. Aushilfsmäßig. Er hat sich da einige Kenntnisse angeeignet. Aber sich gleichzeitig zu filmen und zu performen ist schwierig. Und ich habe andere Kollegen bei ähnlichen Projekten hin und wieder mal unterstützt. Da ist er auf mich zugekommen. Ich mache sowas gern.«

»Slaughterhouse Boy ist sein Künstlername«, meinte Hans.

Falk sah ihn an. »Schon ein bisschen schräg, oder?«

»Nicht nur das«, gab ihm Hans recht. »Auch diese Fixierung auf die rote Farbe ist ungewöhnlich.«

Ein Schulterzucken. »Er ist damit ziemlich erfolgreich. Das ist seine Technik, wie ich Fotos an die Leinwand werfe und koloriere. Er arbeitet eben mit dem Medium rote Farbe. Ganz erstaunlich, wie es ihm gelingt, neue Akzente zu setzen.«

Gabriele musterte Falk. »Wissen Sie, wie er darauf gekommen ist?«

»Auf die Farbe oder auf den Namen?«

»Auf beides. Das scheint mir doch zusammenzuhängen.«

Falk verzog den Mund. »Ja … äh … schon.«

Gabriele lächelte. »Sie möchten es uns aber nicht unbedingt erzählen.«

»Ich weiß nicht so recht… es ist ein wenig persönlich. Er hat es mir anvertraut, als wir den Film geschnitten haben.« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Andererseits … ich meine … jeder Künstler hat ein Erlebnis, das ihn prägt und erst zu dem macht, der er ist. Was ist schon dabei, nicht wahr?«

Wir schwiegen und warteten.

Er seufzte. »Okay. Mal sehen, ob ich es korrekt hinbekomme. Es ist bereits eine Weile her, dass er mir davon berichtet hat. Es war Folgendes: Er kommt aus gutem Hause. Seine Familie hat Deutsche Doggen gezüchtet.«

»Faszinierende Rasse«, meinte Hans.

»Ja. Allerdings fressen die auch faszinierend viel. Und deswegen ist sein Vater regelmäßig zum Schlachthof und hat dort Schlachtabfälle besorgt. Die wurden vor Ort einmal in der Woche in Eimern sehr preiswert an Hundebesitzer abgegeben.«

»Aha! Daher stammt der Name«, sagte Maximilian.

»Nicht ganz. Die Geschichte geht weiter. Aurelius war fünf oder sechs, und der Vater hat ihn mitgenommen. Man stand dort recht lange an, bis man dran war und das Fleisch erhielt. Aurelius wurde langweilig. Er hat sich selbständig gemacht. Was Kinder eben so tun. Er ist unbemerkt in eine der Hallen geschlüpft…« Falk blickte uns nacheinander an. »Ich weiß nicht, ob Ihnen geläufig ist, wie das beim Schlachten in einem Großbetrieb abläuft.«

Wir schüttelten den Kopf.

»Die Rinder werden zuerst mit einem Bolzenschussapparat betäubt. Und dann wird ihnen die Kehle durchgeschnitten.«

»Oh!«, stieß Gabriele entsetzt hervor.

»Das noch schlagende Herz pulst das Blut durch die Wunde nach außen, bis das Tier dann stirbt.«

Schweigen machte sich breit.

Falk räusperte sich in die Stille hinein. »Der Vater hat lange nach dem Kleinen gesucht. Die halbe Belegschaft des Schlachthofs war mit auf der Suche. Sie haben ihn schließlich gefunden. Er hatte sich verkrochen und war über und über mit Blut bespritzt. Was in der Zwischenzeit geschehen ist, weiß Aurelius nicht genau.«

Ich merkte, dass ich mich während Falks Schilderung vorgebeugt hatte. Ich lehnte mich zurück. »Dieses Erlebnis war die Initialzündung für die künstlerische Prägung des Slaughterhouse Boys?«

Falk nickte. »Er hat mir mehrmals erklärt, dass er überzeugt ist, damit das Trauma zu verarbeiten, das er als kleiner Junge in dem Schlachthof erlitten hat.«