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Er

 

 

Vor ihm steht ein frisches Glas Bier. Bläschen perlen kontinuierlich in der goldenen Flüssigkeit nach oben. Er schaut längere Zeit hinein und dann hinüber zu Joey. »Danke, du denkst stets an mich.«

Joey grinst. »Na klar! Wozu hat man Freunde? Und ein Pils geht immer.«

Er bleibt ernst. »Wir sind viel mehr als Freunde.«

»So ist es.« Joey hält inne. »Du siehst sorgenvoll aus.«

»Man macht sich eben so Gedanken«, meint er.

»Worüber denn?«

»Manchmal überlege ich mir … Nachdem man tot ist … Du weißt schon, wenn man gestorben ist … Ob da nicht doch irgendwas ist.«

»Du redest von Himmel und Hölle? Wo man belohnt oder bestraft wird? Abhängig davon, wie man sich verhalten hat?«

Er zuckt mit den Schultern. »Könnte doch sein. Ist ja noch niemand mit einem Beweis des Gegenteils zurückgekommen.«

Joey schnaubt. »Mann! Das ist doch alles gequirlte Kacke! Du musst dir das wie beim Computer vorstellen. Sobald du den Stecker ziehst, ist es aus. Zack. Schwarzer Bildschirm. Da ist nichts mehr.«

Er verzieht den Mund. »Die Festplatte ist aber noch vorhanden, um bei deinem Bild zu bleiben. Die kann man reaktivieren. Doch ich verstehe, worauf du hinauswillst.«

»Wovor man wirklich Angst haben sollte, ist nicht die Zeit nach dem Tod, sondern das, was kurz davor geschieht.«

Er lässt die Worte auf sich wirken. »Mhm. Die letzten Minuten und Stunden können grausam sein, wenn man nicht zufällig im Schlaf einen Herzschlag erleidet oder beim Überqueren der Straße vom Bus totgefahren wird. Und wer wird das schon? Wer hat so viel Glück? Die wenigsten. Die meisten müssen eine lange, lange Phase durchschreiten, bis sie der Tod von ihren Qualen erlöst.«

»Boah.« Joey verdreht die Augen. »Alter! Du bist heute echt negativ drauf!«

»Möglich«, gibt er zu.

»Du musst dich im Leben immer aufs Positive konzentrieren!«

Er sieht ihn an. »Dir geht was Konkretes durch den Sinn.«

»Klaro!« Joey lacht herzlich. »Wir sind doch die Spezialisten für die letzten Stunden im Leben eines Menschen. Wir machen sie für Einige zu etwas ganz Besonderem. Auch wenn die Existenz unserer Opfer nur durchschnittlich war und nichts bedeutet hat … Schatten, die umherwandeln, sie kommen und vergehen, ohne dass sie jemand bemerkt oder vermisst. Aber…« Er hebt einen Finger in die Höhe. »Die letzten Stunden, die wir ihnen bereiten, die sind etwas Außergewöhnliches.«

»Okay…«, erwidert er langsam und wartet, dass Joey fortfährt.

Joey wackelt mit den Augenbrauen und flüstert: »Die Zwillinge.«

»Die Zwillinge?« Er versteht nicht. »Was soll mit denen sein?«

»Was wir ihnen angetan haben, war doch einzigartig.«

»Meinst du?«

»Sicher! Du musst nur eine andere Perspektive einnehmen, dann erkennst du es sofort.«

Er runzelt die Stirn, weil er immer noch nicht begreift, was Joey ihm sagen möchte. »War ganz nett, aber ich habe die Aktion nicht als dermaßen herausragend in Erinnerung behalten.«

»Weil dir bislang etwas Wichtiges entgangen ist.«

»Und das wäre?«

»Das liegt doch auf der Hand! Sie waren Zwillinge. Die jungen Kerle sahen gleich aus, hatten sich sogar ähnlich angezogen.«

»In dem Alter«, er schneidet eine Grimasse. »Das war schon ziemlich daneben.«

»Eben.« Joey nickt. »Und jetzt versetze dich mal in deren Lage. Andere Perspektive einnehmen, verstehst du? Wir haben beide gefesselt und haben geduldig abgewartet, bis sie ihr Bewusstsein zurückerlangt hatten. Und dann haben wir uns mit dem Einen beschäftigt. Sehr, sehr intensiv.«

»Das machen wir doch immer.«

»Ja.« Joey nickt. »Aber der andere hat zugesehen.«

»Wie bei den Paaren, um die wir uns kümmern.«

»Genau. Aber wenn du deinen Partner ansiehst, ist das nicht so, als würdest du dich selbst im Spiegel betrachten. Dein Partner ist nicht dein Ebenbild.«

Er lächelt. »Jetzt beginne ich zu begreifen! Eineiige Zwillinge sind ja nahezu identisch.«

»Du hast es erfasst. Nummer zwei hat Nummer eins angeschaut und hat genau gewusst, was ihm bevorsteht. Hundertprozentig. Wie er auf die Schmerzen reagieren wird, wie er dabei aussieht und so weiter.«

»Ach! Deshalb hast du damals darauf bestanden, zwischen den beiden ständig hin und herzuwechseln. Ich hatte mich gewundert.«

»Beide sollten in den Genuss kommen, ihre Folter quasi doppelt zu erleben.«

Er grinst bewundernd. »Das war genial! Wieso ist mir das bislang entgangen?«

Joey zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber jetzt weißt du Bescheid.«

»Oh ja!« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Und wie!«

»Und schwupps geht’s dir wieder gut. Das Herumgrübeln, diese Selbstvorwürfe und Ängste bringen nämlich rein gar nichts. Sie hindern dich nur daran, die Gegenwart richtig zu genießen und auszukosten.«

»Du hast recht.« Er greift nach seinem Glas. »Auf uns!«

Joey nimmt sein Bier ebenfalls in die Hand. »Auf uns!«