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Wiebke drehte sich auf ihrem Bürostuhl um und wandte sich Hans und mir zu. Sie regte sich noch immer auf, war blass und hatte hektische rote Flecken im Gesicht.

»Das ist jetzt echt schwer für mich.« Sie machte eine Pause und fügte an: »Der Red Room.«

»Es geht wieder um den Red Room?«, wiederholte ich nicht sonderlich geistreich.

»Ihr hattet ja den Zugangscode besorgt. Du und Maximilian.«

»Richtig.«

»Und ich habe mir gedacht, es kann nicht schaden, wenn ich den Kanal ein wenig auf dem Schirm behalte … Wenn ich beobachte, was da abläuft … Vor allem, weil uns unsere Klientin, Frau Thiel, nun länger erhalten bleibt.«

»Kontrolle ist nie verkehrt«, beeilte sich Hans, zu erwidern. »Obwohl die Polizei bereits abgewunken hat und der Meinung ist, alles ist nur geschmackloses Theater im wahrsten Sinne des Wortes.«

Wiebke räusperte sich. »Darauf kommen wir gleich. Ich wollte mich einfach nützlich machen. Ihr rennt draußen rum, ihr befragt Leute, seht Gott und die Welt, während ich hier bei meinen Katzen und Trollen herumsitze … Was kann ich zu unserer Kanzlei sonst groß beitragen? Internetrecherche und … ähm … ähnliches. Das sind meine Spezialitäten.«

»Du bist unheimlich wichtig für uns«, beeilte sich Hans, ihr zu versichern.

»Und wie!«, pflichtete ich ihm bei.

Sie wischte sich eine verschämte Träne unter ihrer großen Brille ab. »Danke. Das ist supernett von euch und das kann ich gerade echt gut gebrauchen.« Sie atmete tief durch. »Ich habe also den Code benutzt. Und dann kam auf dem Red Room die Ankündigung, dass gestern Nacht wieder eine Vorführung läuft. Ich dachte mir, ich schau mir das an, wenigstens kurz mal, und nehme es auf.« Sie blickte von Hans zu mir. »Löschen kann man hinterher immer.«

»Was man hat, hat man«, erwiderte ich.

»Eben.« Sie hob einen Finger in die Höhe. »Ich habe mir nur den Anfang angetan, vielleicht eine Minute. Das war ein ähnliches Setting wie bei den anderen … Und ich bin schlafen gegangen, habe die Aufnahme einfach laufen lassen … Heute früh habe ich geprüft, ob die Aufzeichnung was geworden ist. Wie immer, bevor ich Dateien archiviere. Und ich klicke versuchsweise irgendwo in die Mitte…« Sie brach ab, atmete mehrmals durch. »Ich bemerke etwas und denke mir: Moment! …. Dann habe ich frame by frame ausgewählt. Also, die Funktion, wo man Bild für Bild angezeigt bekommt.« Erneut hielt sie inne.

»Und weiter?«, erkundigte ich mich.

»Ich zeige es euch gleich. Aber vorneweg: Das ist kein Fake. Das ist nicht gespielt!«

»Wie?« Hans bedachte sie mit einem verwirrten Blick. »Die Polizei war sich in dieser Beziehung doch hundertprozentig sicher. Und du bislang ebenfalls.«

»Ja.« Ihr Gesicht wurde rot. In ihren Augen bildeten sich erneut Tränen. »Mein Fehler. Und der der Kripo. Vielleicht wollte ich auch nur glauben, was sie erzählt haben. Dass es nicht echt ist. Weil das einfacher zu ertragen ist.«

Das klang nicht gut.

»Mach dir keine Vorwürfe«, versuchte ich, sie zu beruhigen. »An dem Red Room waren zig Spezialisten vor dir dran. Die haben nichts gefunden.«

»Das tröstet mich jetzt auch nicht. Das, was gestern Nacht lief, war echte Folter und ein echter Mord. An einer unschuldigen Frau.«

Ich konnte es nicht glauben. Wiebke musste sich täuschen.

»Spiel es mal vor«, bat ich sie. »Ich möchte mir das ansehen.« Und zu ihr und Hans. »Wenn euch das lieber ist, könnt ihr draußen warten.«

»Nein«, sagte Wiebke leise, aber bestimmt. »Ich habe es schon gesehen. Und zumindest das bin ich der armen Frau schuldig.«

»Ich schaffe das«, fügte Hans ruhig und gefasst an.

»Ich fange nicht von vorn an«, meinte Wiebke. »Es reicht, wenn ich kurz vor der ersten Stelle, an der es mir aufgefallen ist, reingehe.«

»In Ordnung«, sagte ich.

»Seid ihr bereit?« Wiebke musterte Hans und mich.

Wir nickten.

Sie klickte auf Play. Ein luxuriöses Wohnzimmer mit Ausblick auf einen Park mit angrenzendem See. Idyllisches Setting. Der OP-Tisch in der Mitte passte nicht dazu. Eine Frau war darauf festgeschnallt. Ein Mann mit der Anonymus-Maske beugte sich über sie. Ein Messer blitzte auf und ein markerschütternder Schrei…

Wiebke drückte auf Pause. Eigentlich schlug sie mit der Hand auf die Maus. »Ich mache den Ton weg. Das halte ich nicht aus und das muss nicht sein.«

»Selbstverständlich«, meinte ich.

Sie klickte wieder auf Play. Das Geschehen lief wie ein Stummfilm vor unseren Augen ab. Wir wurden Zeuge, wie ein Mann eine Frau bestialisch zu Tode quälte.

Endlich war das Video zu Ende. Im Büro herrschte Grabesstille.

Nach einigen Minuten zeigte uns Wiebke verschiedene Standbilder der Aufnahme, die sich direkt vor den jeweiligen Schnitten zwischen den einzelnen Szenen befanden. Wir konnten zweifelsfrei erkennen, dass der Täter wirklich zugestochen und andere unsagbare Dinge begangen hatte, bevor die Kameraperspektive wechselte.

Wieder blieben wir stumm.

Wiebke ließ ihren Tränen inzwischen freien Lauf. Hans hatte einen Arm um sie gelegt und hielt sie fest.

»Ich habe die anderen Videos, die wir haben, ebenfalls entsprechend überprüft«, brachte sie zwischen Schluchzern heraus.

»Und?«, fragte ich, obwohl ich eigentlich keine Antwort brauchte.

»Überall das Gleiche«, flüsterte sie. »Die Opfer sind wirklich gestorben. Sie alle.«