In Martins Räumen herrschte Ruhe. Er selbst saß auf einem Stuhl am Fenster, den Kopf nach hinten gelehnt, die Lider geschlossen und das Gesicht zum Sonnenlicht gewandt. Er schien eingeschlafen zu sein.
Ich beschloss, später wiederzukommen, und wandte mich leise ab, um wieder nach draußen zu gehen. Eine der alten Bohlen knarzte unter meinem Fuß.
Er schlug die Augen auf. »Helena?«
»Ja«, sagte ich.
Er drehte sich zu mir, stutzte und musterte die Trainingssachen, die ich trug. »Wie siehst du denn aus?«
»Sportlich«, erwiderte ich. »Ich will Bouldern gehen. Das mache ich sonntags gerne.«
»Maximilian ist bei seiner Frau in der Klinik?«
»Noch nicht.« Ich blickte mich um. »Er wollte in einer halben Stunde los. Du bist ganz allein?«
Er schnitt eine Grimasse. »Stell dir vor! Gabriele hat beschlossen, dass es mir besser geht. Sie ist der Meinung, ich brauche mehr Freiraum.«
»Und den nutzt du für ein kleines Sonnenbad.«
»Man muss ja schließlich was für sein Aussehen tun.« Er massierte sich den Nacken und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Dort waren dichte Haarstoppeln zu sehen, rostbraun, beinahe rot.
»Mensch!«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Du hast in Wirklichkeit gar keine Glatze!«
»Natürlich nicht!« Er musste husten.
Er mochte mit dem Gröbsten durch sein, aber der Entzug machte ihm noch immer zu schaffen.
»Warum rasierst du dich dann?«, beeilte ich mich, zu fragen, um ihn abzulenken.
»Cool«, sagte er und hustete ein letztes Mal. »Schaut cool aus.«
»Quatsch.«
»Ist in meinem Job eben praktischer.« Er wurde ernst. »Konntest du das für mich erledigen?«
»Du meinst, deinen Informanden aufsuchen?«
»Ja.«
»Gestern, spätabends war ich bei ihm.«
»Ah! Als Maximilian auf mich aufgepasst hat.« Das klang nicht begeistert.
»Vertragt ihr euch inzwischen?«
Er zog die Schultern hoch. »Geht so. Er ist ein ziemlich arrogantes Arschloch. Ich möchte ihm die ganze Zeit die Fresse polieren, damit ihm das dämliche Grinsen und seine besserwisserische Art vergehen. Ich weiß nicht, wie du es mit ihm aushältst.«
Ich musste an mich halten, um nicht loszulachen. »Er hat auch andere Seiten und Qualitäten, die dir verborgen bleiben.«
»Darauf kann ich gerne verzichten.« Er schnaubte. »Was hat dir mein Informand erzählt?«
»Er konnte es nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber seinem letzten Kenntnisstand nach sollen sich dieser Louis und ein Asiate in einem Haus am Müggelsee in Friedrichshagen aufhalten.«
»Sollen?«
Ich nickte. »Er war sich nicht völlig sicher.«
Martin nagte an der Unterlippe. »Sobald es mir besser geht, muss ich das checken.«
»Schon geschehen. Ich bin gestern Nacht gleich hin.«
»Und?« Er setzte sich aufrecht hin.
»Eine schneeweiße Villa. Nicht allzu weit vom Strandbad Friedrichshagen entfernt. Teure Gegend. Ein Neubau, klassizistisch, riesige Terrassen mit eigenem Zugang zum See.« Ich langte in meine Hosentasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das ich ihm reichte. »Hier ist die Adresse.«
Er nahm den Zettel und las ihn: »Ideale Lage, wenn man schnell abhauen muss.«
»Mein Gedanke. Gute Erreichbarkeit, ebenso gute Fluchtmöglichkeiten.«
»Übers Wasser«, sagte er.
»Straße, Wasser, Luft«, ergänzte ich.
»Sehr bewacht?« Martin wirkte hochkonzentriert.
»Ich habe zwei Securities gesehen. Sie patrouillierten. Ob und wie viele noch im Haus sind: keine Ahnung. Aber das Gebäude an sich ist nicht allzu groß.«
»Und Louis? Ist er da?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?«
»Zwei schwarze Vans sind gegen halb zwölf aufs Gelände gefahren.«
»Gepanzert?«
»Definitiv. Gut gemacht, sodass es nicht gleich auffällt.«
Martins Lippen wurden schmal.
»Was ist?«, fragte ich ihn.
»Nichts.« Er atmete tief durch. »Hast du meine Waffe holen können?«
»Leider nein. Dort war zu viel los. Ich versuche es in den nächsten Tagen erneut. Versprochen.«
»Nicht so wichtig.« Er winkte ab. »Du hast eine 7,65er Luger.«
»Meine Pistole kriegst du aber nicht. Die benutze nur ich.«
Er schüttelte ansatzweise den Kopf. »Das veraltete Ding will ich gar nicht haben. Wie ich dich kenne, hast du garantiert den Abzug überarbeitet. Damit läuft man Gefahr, sich selbst ins Knie zu schießen. Aber wenn ich mich recht entsinne, müsstest du noch eine Glock besitzen. Von unserem Einsatz, letztens im Hyatt Hotel.«
Er hatte ein gutes Gedächtnis. »Deine Erinnerung täuscht dich nicht. Die Pistole habe ich tatsächlich aufgehoben. Für alle Fälle. Man weiß ja nie.«
»Prima.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Ich sah zu ihm herunter. »Dann lasse ich dich wieder allein und gehe Bouldern. Ruh dich weiter aus, tanke Kraft, damit wir die Angelegenheit mit deinem Freund Louis nächste Woche in Angriff nehmen können.«
»Bis dahin bin ich sicher fit«, murmelte er schlaftrunken.
»Ganz bestimmt«, bestätigte ich leise.