Zurück vom Bouldern stieg ich die Treppe im Hinterhaus empor. Wiebke kam mir summend entgegen.
»Hi!«, sagte sie, als sie mich erreicht hatte, und strahlte mich an. Sie schien bester Laune zu sein. »Hast du Martin gesehen?«
Ich runzelte die Stirn. »Nein. Ist er nicht oben?«
»Hätte ich dann gefragt? Vor einer Viertelstunde war er noch in seinem Zimmer. Jetzt wollte ich ihn holen und Fehlanzeige.« Sie zuckte nachlässig mit den Schultern. »Egal. Höchstwahrscheinlich hockt er bei Gabriele und sie bekocht ihn. Seit gestern Abend hat er wieder tüchtig Appetit. Und er weiß ja, wo er mich findet.«
Sie ging an mir vorbei und nahm die nächsten Stufen. »Ich bin dann mal im Büro, falls mich jemand braucht.«
»Willst du allen Ernstes am Sonntag arbeiten?«, fragte ich verwundert.
»Haha! Guter Witz! Nein – Netflix-Zeit. In der Kanzlei ist das Internet schneller.«
»Dann viel Spaß«, rief ich ihr hinterher.
Sie hob den Arm, winkte mir zu, ohne sich nach mir umzudrehen, und verschwand um den Treppenabsatz.
Ich stieg weiter hinauf. Gutes Zeichen, dass Martin anfängt herumzulaufen und auch wieder isst , dachte ich und stockte...
Ich drehte mich um und rannte die Treppe hinunter, hinaus in den Durchgang. Rechter Hand befand sich die Hintertür von Gabrieles Laden, die zu ihren Wohnräumen führte. Ich klingelte und fing gleich darauf an, gegen die Tür zu klopfen.
Gabriele öffnete. Der Geruch nach gebratenen Äpfeln stieg mir in die Nase.
»Helena?«, begrüßte sie mich leicht verwundert.
»Ist Martin bei dir?« Ich bemühte mich, möglichst beiläufig zu klingen.
»Nein. Der ist doch oben.« Sie trocknete sich die Hände mit einem Geschirrtuch ab.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Ach so!« Ich zwang mir ein Lächeln ab. »Wie dumm von mir.«
Gabriele runzelte die Stirn. »Alles okay?«
»Na klar!« Ich lächelte erneut. »Dann schau ich mal rauf zu ihm.«
»Super«, meinte sie. »Richte ihm aus, dass ich ihm nachher den Kuchen bringe, den er sich bei mir bestellt hat.«
»Du verwöhnst ihn viel zu sehr.«
»Ach was!«, erwiderte sie.
Ich wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, bevor ich ins Treppenhaus zurück hastete und die Stufen hinaufjagte.
Erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock… ich erreichte die vierte Etage. Der Schlüssel steckte wie immer von außen. Ich trat ein.
Kein Martin. Niemand anwesend.
»Verdammt«, murmelte ich.
Ich machte auf dem Absatz kehrt, und preschte wieder nach unten, erreichte den zweiten Stock … mein Blick fiel auf meine Wohnungstür. Ich hatte sie vorhin, wie üblich, sorgfältig abgeschlossen. Jetzt war sie lediglich angelehnt.
Ich rannte hin – der Rahmen gesplittert, die Klinke hing schief. Jemand hatte die Tür mit Brachialgewalt aufgebrochen.
Innen ein absolutes Chaos. Meine Sachen lagen überall verstreut herum. Die Schubladen der Kommode waren aufgerissen, die Kleidung hing durchwühlt heraus. Ein Profi hatte das gesamte Apartment gefilzt.
Mein Blick fiel zu Boden.
»Shit«, flüsterte ich. Der Einbrecher hatte mein Geheimversteck entdeckt.
Die lose Holzdiele befand sich nicht mehr an ihrem Platz. Stattdessen klaffte an der Stelle ein Loch. Ich kniete mich davor hin, griff hinein und zog die Schachtel heraus, die ich dort aufbewahrte. Die falschen Pässe waren vollzählig vorhanden, meine Luger samt Schalldämpfer und Ersatzmagazinen nicht angerührt. Die Banderole eines der fünf Geldbündel war aufgerissen. Ich war mir sicher, dass einige Scheine fehlten. Ebenso wie die Glock.
»Martin, du verdammter Narr!«, flüsterte ich. »Warum jetzt? Warum hast du nicht auf mich gewartet, damit ich dich begleite? Aus welchem Grund riskierst du so viel und willst diesen Louis allein stellen?«
Ich zwang mich, durchzuatmen, schloss die Augen und konzentrierte mich auf das letzte Gespräch, dass ich erst vor wenigen Stunden mit ihm geführt hatte. Gab es irgendetwas, das auf seinen Alleingang hingedeutet hatte? Auf diese irrsinnige Idee, nur auf sich gestellt und vollkommen geschwächt Rache zu nehmen? Nein. Nichts. Außer … Die gepanzerten Vans! Als ich die erwähnt hatte, hatte er seltsam reagiert und sich gleich darauf nach seiner Waffe erkundigt…
Und mit einem Mal wusste ich es. Louis und der Asiate planten mit den Vans wegzufahren und endgültig unterzutauchen. Wenn Martin die zwei erwischen wollte, blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Ich blickte auf das Schlüsselbrett neben der Tür. Der Schlüssel für den Ford hing an seinem Platz. Höchstwahrscheinlich hatte sich Martin mit dem Geld aus meiner Schatulle ein Taxi gerufen.
Ich steckte mir meine Pistole in den rückwärtigen Hosenbund. Schnell – ich musste mich beeilen. Martin hatte noch nicht allzu viel Vorsprung.
Mit dem Auto dauerte es eine Dreiviertelstunde bis zur Villa am Müggelsee. Hoffentlich kam ich nicht zu spät. Ohne mich hatte Martin nicht den Hauch einer Chance.