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Ich trat hart auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Ford zum Stehen. Hastig sprang ich aus dem Auto.

Berlin Friedrichshagen im Bezirk Treptow-Köpenick. Eine breite, kaum befahrene Straße inmitten von Grün. Teure Einfamilien- und Appartementhäuser mit großzügigen, parkähnlichen Gärten. Zur linken Seite glitzerte in nicht allzu weiter Entfernung der Müggelsee in der Sonne.

Möglichst unauffällig, als wäre ich eine gewöhnliche Passantin, schlenderte ich den Gehsteig entlang und näherte mich der Villa, in dem sich Louis und der Asiate befinden sollten. Wenn denn Martins Informand recht gehabt hatte.

Martin … wo steckte er nur? Ich konnte ihn nirgends entdecken.

Mittlerweile war ich bei der weißen Villa angelangt. Mit ihren griechisch anmutenden Säulen im Eingangsbereich und ihrer umlaufenden Terrasse mit Steinbrüstung erinnerte sie mich an die Gebäude früherer amerikanischer Baumwollplantagen. Ein rund drei Meter hohes Metalltor aus massiven Stäben mit Überwachungskameras an den Seitenpfosten sicherte die Zufahrt. Der sich auf beiden Seiten anschließende Zaun war nicht viel niedriger, dahinter hohe Sträucher – strategisch verteilt, um neugierige Blicke auf das Haus zu erschweren, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, etwas zu verbergen.

Und jetzt? , dachte ich. Wie kommt man da rein? Drüberklettern? Unmöglich. Klingeln und sich den Weg freischießen? Hohes Risiko und äußerst geringe Erfolgsaussichten.

Mit einem Laster oder einem Bus konnte man die Umfriedung durchbrechen. Nur standen die entsprechenden Fahrzeuge nicht an jeder Ecke mit dem Schlüssel im Zündschloss herum und warteten darauf, dass Martin sie sich für eine Spritztour auslieh.

Ich bog auf einen unbefestigten Spazierweg ab, der zum Ufer des Sees führte. Im Wasser tummelten sich überraschend viele Ruderboote und Segler. Sonntag und schönes Frühlingswetter – ideal, um sich hier ein wenig zu erholen und Sonne sowie frische Luft zu tanken.

Ich blickte zur Villa. Sie besaß einen eigenen Landungssteg und einen recht ansehnlichen, privaten Strandabschnitt. Vermutlich hatte man den hellen Sand dafür extra herangekarrt. Schilf wuchs an den Rändern. Eine wahrhaftige Idylle. Dass ein solcher Ort in einer Großstadt wie Berlin existierte, grenzte schon fast an ein Wunder – half mir jetzt aber nicht weiter.

Martin war allein und nicht besonders fit. Wenn ich an seiner Stelle wäre, was würde ich tun, um möglichst unbemerkt auf das Anwesen zu gelangen?

Keine fünfhundert Meter entfernt sprang mir ein buntes Schild ins Auge: Tretbootverleih . Ich ging hin und ignorierte die Baracke, in der man die Schiffchen mieten konnte. Stattdessen begab ich mich auf den Steg. Die links und rechts festgebundenen Tretboote hatten die Form von Wasservögeln. Ich sah mehrere gelbe und braune Enten, einen grellpinken Flamingo und zwei Schwanenboote. Eine vierköpfige Familie legte soeben unter Jauchzen ab und zuckelte fröhlich strampelnd auf den See hinaus.

Im zweiten Schwan stand ein blasser Mann mit rötlichen Haarstoppeln. Er trug einen billigen Trainingsanzug und war dabei, das Tau vom Poller zu lösen.

»Hi«, sagte ich.

Martin blickte zu mir hoch.

»Ein Schwan«, sprach ich weiter. »Warum hast du keine gelbe Quietsche-Ente genommen? Aber andererseits … so ein weißer, majestätischer Vogel, der macht schon was her!«

In seinem Gesicht zuckte ein Muskel. »Du kannst mich nicht aufhalten.«

»Die Vans«, erwiderte ich. »Du nimmst an, die Kerle wollen verduften.«

»Ja. Jetzt oder nie. Morgen ist die Villa verlassen. Und Louis ist ein Meister darin, seine Spuren gründlich zu verwischen.«

Ich nickte. »Mindestens sechs.«

»Was?« Er runzelte die Stirn.

»Zwei Securities, zwei Fahrer für die Vans, der Asiate und dein Freund Louis. Das macht sechs, vielleicht sind es auch mehr.«

»Ist mir bewusst.«

Ich sah ihm direkt in die Augen. »Das schaffst du nicht allein. Schon gleich gar nicht in deinem jetzigen Zustand.«

»Ist mir egal.« Sein Ausdruck wirkte trotzig. »Ich muss und werde es erledigen.«

»Hm«, machte ich. »Du glaubst doch nicht im Ernst, wir haben dich aus diesem Loch in Kaliningrad geholt, dich gewaschen, gefüttert und aufgepäppelt, damit du dich hier sinnlos abknallen lässt?«

Er blieb mir eine Antwort schuldig und starrte mich an.

Ich seufzte. »Ich hasse das.«

»Was?« Er zog die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.

»Hoffentlich sieht uns niemand, wie wir in diesem lächerlichen weißen Plastikteil mit gelbem Schnabel quer über den See tuckern. Rutsch rüber, ich komme rein.«