Martin hatte in der Nacht ein heftiges Fieber entwickelt. Auch am nächsten Morgen waren seine Wangen unnatürlich gerötet und seine Augen glänzten. Der Beipackzettel des Antibiotikums, das Hans besorgt hatte, bestand aus chinesischen Schriftzeichen. Doch der Verkäufer hatte ihm die Dosierung mit Kuli auf die Verpackung gekritzelt: 3 x 2 tgl .
Das Medikament schien anzuschlagen. Martins Temperatur begann zu sinken, wenn auch langsam. Gabriele hatte für seine Wunde eine Creme angerührt, um den Heilungsprozess zu beschleunigen und eine Infektion zu verhindern. Und sie hatte ihm einen ihrer speziellen Tees gekocht. Darüber beschwerte er sich am meisten, trank das Gebräu aber dennoch mit todesmutiger Verachtung.
Ich hatte Martin morgens besucht, nachdem Maximilian zu Lea in die Charité aufgebrochen war. Ich hatte diesen Zeitpunkt ganz bewusst gewählt, um zwischen Maximilian und mir nicht einen erneuten Streit zu provozieren. Er war inzwischen dazu übergegangen, Martin völlig zu ignorieren. Der BND-Agent existierte für Maximilian einfach nicht mehr. Das zeigte mir, dass nur ein kleines Fünkchen genügen würde, um den schwelenden Konflikt erneut explosionsartig ausbrechen zu lassen. Also vermied ich es geflissentlich, Martin in Maximilians Gegenwart auch nur zu erwähnen. Ohne dass wir uns abgesprochen hätten, verhielten sich Gabriele, Hans und Wiebke ebenso wie ich.
Halb zwölf. Maximilian und ich saßen im kleinen Ford vor dem Wohnhaus von Aurelius von Born in Potsdam/Babelsberg. Das gesamte Anwesen war mit Absperrbändern gesichert.
»Tja«, murmelte Maximilian. »Der Slaughterhouse Boy hat zumindest schön gewohnt.«
»Und teuer«, ergänzte ich.
»Das bringt uns zu der Frage, woher er das Geld zum Mieten oder Kaufen hatte.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wasiljew hat uns ja erzählt, dass er ihn finanziell unterstützt hat. Möglicherweise sind die von Borns an sich ebenfalls vermögend.«
»Vergiss nicht den Red Room. Damit dürfte er ordentlich verdient haben, selbst wenn er mit einem Partner geteilt hat.«
»Geldsorgen hatte er jedenfalls nicht«, bestätigte ich.
»Für den Eintritt in einen solchen Red Room mit diesem perversen Angebot, muss man tüchtig blechen«, sinnierte Maximilian.
»Laut Wiebke gibt es da weltweit eine wahnsinnige Nachfrage. Das sind nicht nur zwanzig oder dreißig Spanner. Das sind tausende, die sich sowas Krankes reinziehen und bereit sind, dafür zu zahlen.«
»Schlimm, nicht wahr?« Maximilian sah mich an.
Ich nickte. »Total schlimm … Trotzdem hat Wasiljew beteuert, dass er damit nichts zu tun hat. Obwohl es bei ihm laut eigener Aussage immer nur ums Geldverdienen geht.«
»Zumindest hat er behauptet , dass er seine Finger da nicht mit im Spiel hatte. Letztendlich wissen wir es nicht genau.«
»Er wird uns doch aber kaum Dreißigtausend aufdrängen, damit wir weiterrecherchieren und ihn – wenn es blöd läuft – als Resultat bei Pardis ans Messer liefern.«
»Das wäre unlogisch.«
»Er hat verdeutlicht, wie beknackt er die Performance und die Bilder seines Schwagers findet. Mehr als einmal.«
»Ja, und?«
»Aber in seinem Haus hat er diese roten Schmierereien hängen und in seiner Firma ebenfalls.«
Maximilian schürzte die Lippen. »Das macht man eigentlich nicht, wenn man damit nichts anzufangen weiß.«
»Du sagst es.«
»Vielleicht denken wir viel zu kompliziert. Möglicherweise hat ihn seine Frau dazu gezwungen, die Gemälde auszustellen.«
»Oder es gibt andere Gründe und Verwicklungen, die wir im Moment noch nicht durchschauen«, warf ich ein.
»Möglich«, brummte Maximilian.
Wir schwiegen.
»Ich habe vorhin mit Pardis telefoniert«, sagte ich. »Ihre Leute haben die gesamte Nachbarschaft befragt und das Grundstück sowie das Haus abgesucht. Bislang gibt es keine weiteren Anhaltspunkte. Sie gehen tatsächlich davon aus, dass Aurelius von Born allein war. Die Spurensicherer sind noch mit der Auswertung beschäftigt. Aber sie rechnen nicht mit neuen bahnbrechenden Erkenntnissen. Pardis ist zuversichtlich, denn Fall bald als gelöst abschließen zu können.«
»Hm«, machte Maximilian. »So betrachtet hätten wir uns das Herfahren getrost sparen können.«
»Vielleicht.« Ich nickte. »Nur …, wenn wir zuhause bequem herumsitzen, kommen wir nicht weiter.«
»Du hast ja recht. Dann schauen wir uns das Grundstück doch mal näher an.« Er löste seinen Gurt und stieg aus. Ich folgte ihm.
Das Gebäude selbst wirkte nicht verändert. Bis auf das rotweiße Absperrband deutete nichts darauf hin, dass hier etwas geschehen war. Der Vorgarten wies einige frisch gegrabene Löcher auf. Das war aber auch schon alles.
Maximilian stemmte die Hände in die Hüften. »Das bringt nichts. Suchen wir uns lieber ein nettes Lokal und gehen Mittagessen.«
Von gegenüber winkte uns jemand zu. Die alte weißhaarige Frau war wieder bei den Mülltonnen zugange.
»Ignoriere sie einfach«, flüsterte Maximilian.
»Hallo!«, rief die alte Frau und winkte noch heftiger.
»Komm«, sagte ich. »Das ist gut fürs Karma.«
»Karma. Am Arsch«, murmelte er und begleitete mich widerwillig über die Straße.
»Da bist du ja!«, begrüßte mich die Alte, als wir bei ihr angekommen waren. Sie lehnte sich auf das metallene Gartentürchen. Heute trug sie eine wild geblümte Leggins und eine weite Strickjacke. Ihr weißes Haar war nicht echt. Es handelte sich um eine Perücke, wie ich jetzt feststellen konnte. Sie saß schief auf ihrem Kopf. Darunter konnte man etwas grauen Flaum erkennen.
»Edith!«, fuhr sie fort. »Wie schön, dass du mal kommst! Es ist schon sooo lange her! Ich würde dich ja reinbitten, aber ich habe dummerweise meinen Schlüssel verlegt. Siehst du?« Sie rüttelte am verschlossenen Gartentor.
Anscheinend hatte jemand vorsorglich zugesperrt, um zu verhindern, dass die alte Dame allein einen kleinen Spaziergang unternahm und sich verirrte.
»Ach!«, sagte ich lächelnd. »Macht doch nichts. Frische Luft tut gut.«
Sie strahlte noch mehr. Ihre wässrigen grauen Augen waren nur auf mich gerichtet. Maximilian ignorierte sie vollkommen. »Edith, du bist meine Heldin! Weißt du noch? Wir zwei beim Gröbnitz – das waren Zeiten.«
Maximilian neben mir verdrehte die Augen und seufzte kaum unterdrückt auf.
Ich hatte keine Ahnung, wovon die alte Frau sprach. Ich kannte keinen Gröbnitz. Also erwiderte ich möglichst unverfänglich. »Gröbnitz.«
»Soooo schöne Schuhe. So viele Schuhe. Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass es dermaßen viele Leute gibt, die sich die Schuhe kaufen, anziehen und damit herumlaufen. Erinnerst du dich an das Lager? Das nahm überhaupt kein Ende.«
Ich lächelte. »Ja. Natürlich. Riesig.«
»Und du warst eine Spitzenkraft. Du hattest ein Händchen dafür. Selbst aus der Mode geratene Modelle, die bereit Staub angesetzt hatten, hast du verkauft.«
Langsam begriff ich. Die alte Frau hatte zusammen mit einer Edith in einem Schuhgeschäft gearbeitet.
»Du warst aber auch eine tolle Verkäuferin«, sagte ich.
Die alte Frau lachte. »Verkaufen – das war unsere Leidenschaft.« Ihr Lächeln erstarb. Tränen traten ihr in die Augen. »Nur Sieglinde, der war das nicht recht. Sie war so neidisch. Ständig hat sie auf mir herumgehackt.«
»Oh ja«, sagte ich. »Das war richtig gemein.«
»Wenn du nicht gewesen wärst … Sie hätte es geschafft und der alte Gröbnitz hätte mich rausgeworfen. Wo wäre ich dann hin? So ein gutes Schuhgeschäft hätte ich nie wieder gefunden.«
»Ach, du übertreibst.«
»Nein, das ist die Wahrheit.« Sie atmete tief durch und wischte sich mit dem Handrücken die Wangen trocken. Ihr Blick fiel auf das Haus von Aurelius von Born. Sie deutete hinüber. »Warst du vorhin beim Bäcker?«
»Ja«, spielte ich mit.
»Der muss jeden Tag so früh aufstehen. Ich sehe das immer vom Fenster aus, wenn ich nicht schlafen kann. Drei Uhr, und dort ist Licht. Aber es muss ja sein. Brotteig anmischen, Brötchen backen. Das erledigt sich nicht von selbst.«
Maximilian, der sich die ganze Zeit über gelangweilt umgesehen hatte, horchte auf, sein Ausdruck plötzlich hellwach.
»Das frühe Aufstehen muss man mögen und können«, erwiderte ich, um sie zum Weiterreden zu animieren.
Sie nickte deutlich. »Besonders im Winter ist das hart. Alles ist noch dunkel und es ist kalt. Da muss er tüchtig schüren. Er braucht viel Kohle.«
Kohle – sie war dabei, wieder in ihre eigene Realität abzudriften.
»Ja«, versuchte ich, doch noch mehr zu erfahren. »Der ganze Keller ist sicher voller Briketts.«
»Und Wolfgang, dein großer Sohn, der muss für sein Geld auch richtig schuften.«
Keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Und wie der malochen muss«, sagte ich. »Mein armes Baby. Aber von nichts kommt nichts.«
»Kohlehändler ist eindeutig härter als Bäcker. Was dein Wolfgang allein in das Haus gegenüber rein- und rausschleppen muss…«
Oha , dachte ich.
»Die riesigen Säcke«, versuchte ich mein Glück.
Die alte Frau nickte. »Säcke rein, blaue Fässer raus. Viel Asche, vermute ich.«
»Natürlich, die Asche«, wiederholte ich.
»So ein tüchtiger Junge, dein Wolfgang.« Vertrauensvoll beugte sie sich vor. »Aber sag ihm, bitte … Diese Tätowierungen, die er hat. An den Unterarmen. Die soll er wegmachen lassen. Weißt du, er soll doch später ein anständiges Mädchen heiraten. So jemanden nimmt doch keine, die was auf sich hält. Nur Matrosen haben Tätowierungen. Und Seeleute taugen nichts.«
»Da hast du wirklich recht«, beeilte ich mich, zu sagen. »Ich werde ihm ins Gewissen reden. Seine Tätowierungen … hast du die mal von Nahem gesehen?«
Ein Stirnrunzeln und sie rückte sich die Perücke zurecht. »Du weißt doch, welche er hat. Ist schließlich dein Sohn.« Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Sie wandte sich Maximilian zu und starrte ihn misstrauisch an. »Wer sind Sie?« Und zu mir: »Das ist nicht dein Mann, oder? Dein Mann hat keine langen Haare und trägt bestimmt keinen Zopf. Das sieht auch nicht gut aus. Nicht ordentlich.« Sie konzentrierte sich erneut auf Maximilian. »Sie sollten schleunigst zum Frisör…«
Eine circa sechzigjährige rundliche Frau trat vom Wohnhaus ins Freie. »Mutti? Hier steckst du also!«
Die alte Frau deutete auf mich. »Ich unterhalte mich mit Edith. Sie hat mich besucht. Ihr Sohn soll sich endlich die Haare schneiden lassen.«
Die Sechzigjährige schenkte uns ein entschuldigendes Lächeln und beugte sich zu ihrer Mutter herunter. »Ja, Frisör ist wichtig. Aber jetzt komm bitte rein. Gleich gibt es Mittagessen. Und du musst dir vorher noch die Hände waschen.«
»Das mache ich.« Die alte Frau nickte. »Ganz sorgfältig. Mit Seife.«
Ohne sich zu verabschieden, ging sie zielstrebig ins Haus.
Ihre Tochter wandte sich uns zu. »Hat Sie Mutti belästigt?«
»Nein.« Maximilian schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Sie ist eine ganz reizende, alte Dame.«
Die Tochter lächelte. »Das ist sie. Und Sie hätten sie früher mal erleben sollen.«
»Demenz?«, fragte Maximilian.
»Im fortgeschrittenen Stadium.« Sie stockte. »Aber bislang kriegen wir das zusammen ganz ordentlich hin. Mutti ist glücklich. Wir sind es auch. Das ist die Hauptsache.«