Falk hatte Maximilien und mich zur Tür gebracht. Wir machten uns auf den Weg zum Auto.
»Netter Kerl«, sagte ich.
»Falk?«, fragte Maximilian.
Ich nickte.
»Du findest ihn nur sympathisch, weil er Künstler ist, wie du.«
Ich schnaubte. »Jetzt werde mal nicht eifersüchtig! Nett hin oder her, jedenfalls war Falk wegen Kaspar Bülent sichtlich betroffen.«
»So sehr, dass er sich mit seiner farbverschmierten Hose doch auf den hellen Sessel gesetzt hat.«
»Die ganze Situation scheint Falk zu belasten.«
»Tja. Was eine echte, sensible Künstlerseele ist, die…«, begann Maximilian mit deutlichem Spott in der Stimme.
Ein lautes Hupen hinter uns. Wir drehten uns um. Ein Laster. Dessen Fahrer gab uns mit einer Handbewegung zu verstehen, Platz zu machen. Wir gaben den Weg frei und sahen dem Lkw nach, wie er an uns vorbeirollte. Seine Ladefläche war mit blauen Fässern vollgestellt.
»Oh!«, sagte ich. »Guck mal!«
»Was?«, erwiderte Maximilian.
»Lauter blaue Fässer.«
»Ja. Und?« Er runzelte die Stirn. »Die findest du überall. Zum Beispiel an jeder Tankstelle oder bei Autowerkstätten. Falk betreibt hier doch neben dem Containerverleih auch eine Altöl-Sammelstelle. Da ist das normal.«
»Hm«, machte ich.
»Was schon wieder? Warum hm ?«
»Wahrscheinlich nichts«, erwiderte ich. »Mir ist nur der verwegene Gedanke gekommen … Kaspar Bülent hat doch für Falk gearbeitet.«
»Hat er.«
»Und wir vermuten, dass er derjenige ist, der die blauen Fässer bei Aurelius von Born abgeholt hat.«
»Die Fässer mit den Leichen.«
»Und? Wo hat er die hingebracht?« Ich sah Maximilian an.
Seine Augen wurden groß. »Du willst damit andeuten, er hat sie hierher gekarrt? Und Falk hat das nicht mitbekommen?«
Der Laster hatte inzwischen gehalten. Der Fahrer ließ die hintere Klappe herunter, und ein zweiter Mitarbeiter begann mit einem kleinen, wendigen Hubwagen, die Ladung zu löschen. Die auf Paletten geschnallten Fässer wurden zu einer Lagerhalle gebracht. Maximilian und ich traten näher und blickten hinein. Hunderte von blauen Plastikbehältern stapelten sich dort.
»Schau dir mal die Menge an«, sagte ich.
»Ein paar Fässer mehr oder weniger fallen da nicht auf«, murmelte Maximilian. »Und die da in der linken Ecke zum Beispiel, die sehen uralt aus. Die müssen hier schon eine ganze Weile herumstehen.«
Ich packte ihn am Ärmel und zog ihn mit mir mit. »Wir gehen auf der Stelle zu Falk zurück und fragen ihn, wie sein Gelände gesichert ist. Ob es sein könnte, dass Kaspar Bülent einen Schlüssel behalten hat, mit dem er sich außerhalb der Öffnungszeiten Zutritt verschaffen könnte.«
Eine Minute später. Erneut schellten wir bei Falks Wohnhaus.
Er öffnete uns sofort. Er hatte sich frische Sachen angezogen.
»Sie haben noch eine Frage?«, erkundigte er sich lächelnd.
»Ja.« Maximilian nickte.
»Dann kommen Sie doch bitte wieder rein.«
Erneut führte er uns in sein Wohnzimmer, und wir nahmen Platz.
»Sehen Sie?« Er wies auf den Sessel mit dem frischen grünen Schmierer auf der Armlehne. »Da erkläre ich Ihnen, warum ich mich besser nicht hinsetze. Und was habe ich vorhin gemacht?« Er schüttelte den Kopf. »Die Polsterreinigung wird sich freuen!«
Er gesellte sich zu uns, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Was gibt’s?«
»Sie sammeln Altöl«, sagte Maximilian.
»Richtig. Das kommt aus Berlin und der Umgebung zu mir und wird anschließend regelmäßig weitertransportiert. Warum fragen Sie?«
»Kontrollieren Sie, was sich in den Fässern befindet?«
»Nein.« Ein deutliches Kopfschütteln. »Da hätten wir viel zu tun. Wir erhalten detaillierte Frachtpapiere, in denen der Inhalt auf den Liter genau ausgewiesen wird. So wird das überall gehandhabt.«
»Ist es vorstellbar, dass jemand fremde Fässer darunter schmuggelt?«
Er runzelte die Stirn. » Fremde Fässer ?«
»Nun«, übernahm ich. »Fässer, die kein Altöl enthalten, sondern etwas anderes. Die auch nicht von Ihren Lieferanten stammen.«
»Nein, die Behälter sind doch abgezählt … Unmöglich…« Er stockte. »Ach! Sie meinen, Kaspar Bülent würde hier die Opfer…« Er brach ab.
»Wäre es theoretisch vorstellbar, dass er außerhalb der Öffnungszeiten unbemerkt aufs Gelände gelangen kann?«, fragte ich. »Er hat bei Ihnen gearbeitet. Er kennt die Abläufe.«
Falk wurde blass. »Mein Betrieb ist mit einem hohen Zaun umfriedet. Kaspar musste seine Schlüssel selbstverständlich abgeben.« Er senkte den Blick. »Andererseits … wenn er sie hat nachmachen lassen ... Ich bin nicht ständig vor Ort, die Fläche ist weitläufig…« Erneut schüttelte er heftig den Kopf. »Nein. Allein die Vorstellung, dass auf meinem Grundstück … das wäre … das wäre grässlich! Absolut entsetzlich!«
»Ich weiß, es ist viel verlangt. Aber könnten wir nicht nur zur Sicherheit ein paar der Fässer stichprobenartig kontrollieren?«, fragte Maximilian. »Öffnen, hineinsehen und wieder verschließen.«
»Ja … ja selbstverständlich«, stotterte Falk und sprang schnell auf die Beine. Er fuhr sich durchs Haar, nagte an der Unterlippe und holte schließlich entschieden tief Luft. »Ich gehe vor zum Büro und lasse den zuständigen Lageristen ausrufen. Bin gleich wieder zurück.«
Er eilte hinaus. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Wir warteten.
Drei Minuten, fünf Minuten… Maximilian und ich sahen uns an.
Auf einem Sideboard stand ein Tastentelefon. Ich ging hin. Die einzelnen Knöpfe waren beschriftet. Ich drückte Verwaltung .
»Lombard«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Ja hallo«, sagte ich. »Ist Herr Falk vorn bei Ihnen?«
»Der Chef? Nein. Der ist gerade mit seinem BMW weggefahren. Hatte es eilig.«
»Danke.« Ich legte auf.
Maximilian blickte mich fragend an.
»Falk ist abgehauen«, sagte ich.
»Unsinn«, meinte er.
»Kein Unsinn. Die Mitarbeiterin im Büro hat ihn gesehen.«
»Warum sollte er abhauen? Ich rufe ihn schnell mal auf seinem Handy an. Ich habe die Nummer gespeichert.«
Er tippte aufs Display seines Telefons, hielt es sich ans Ohr und runzelte die Stirn. »Mailbox. Was machen wir?«
»Egal, wo der Kerl steckt«, erwiderte ich. »Am liebsten würde ich jetzt ein paar der blauen Tonnen öffnen.«
»Du kannst doch nicht einfach … die sind versiegelt.«
»Du willst gar nichts unternehmen?«, gab ich aufgebracht zurück. »Hör mal! Der ist getürmt! Der hat was zu verbergen!« Ich stemmte die Hände in Hüften und überlegte kurz. »Dann schauen wir uns wenigstens im Haus um. Er hat uns reingebeten. Also dürfen wir das.«
»Juristisch betrachtet, stimmt das nicht«, meinte Maximilian. »Aber okay.« Er erhob sich.
Im Erdgeschoss fanden wir nichts. Der Keller entpuppte sich als ganz gewöhnlicher Keller.
Erster Stock: ein modernes Bad, extra WC. Ein Schlafzimmer mit begehbarem Kleiderschrank. Ein Raum voll mit kolorierten Gemälden. Ansichten von Berlin und Umgebung.
»Siehst du: Nichts«, meinte Maximilian. »Das Ganze ist ein großes Missverständnis.«
»Warte mal«, murmelte ich. »Irgendwie fehlt was.«
»Wovon redest du?«
»Na, wo ist sein Atelier? Wo ist seine Staffelei? Vorhin war er farbverschmiert. Aber hier ist nichts.«
»Ähm«, machte Maximilian.
»Und überhaupt«, fuhr ich fort. »Der erste Stock ist viel zu klein. Unten ist die Fläche wesentlich größer.«
»Das ist eine optische Täuschung. Das kommt uns nur so vor, weil das Erdgeschoss entkernt ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Da muss noch mehr sein.«
Ich rüttelte an den Einbauschränken. Der dritte ließ sich zur Seite schieben.
Wir traten durch die Öffnung.
Ein riesiges Zimmer. Es roch nach frischer Farbe. Eine Staffelei mit einem halbfertigen Bild. An den Wänden Dutzende von Gemälden. Aber andere Motive als nebenan. Keine Parks, keine Gebäude, keine Landschaften. Sondern Porträts von Frauen und Männern. Im Todeskampf. Grässlich verstümmelt, blutig, die Gesichter angst- und schmerzverzerrt.
Maximilian neben mir atmete scharf ein.
An der gegenüberliegenden Wand eine Tür. Wir öffneten sie und spähten hinein. Eine Art großer Abstellraum. Fensterlos. Zweisitzersofa, Couchtisch, ein gigantischer Bildschirm, eine Kommode.
Der linke Platz auf dem Sofa war belegt. Dort stand ein Styroporkopf. Er trug eine blonde Kunsthaarperücke. Ein brauner, ledriger Lappen war auf seine Vorderseite gespannt und mit Nägeln fixiert. Wir traten näher. Der Fetzen hatte Löcher. An den Stellen, an denen sich einst Augen, Nase und Mund befunden hatten. Ich erkannte die Überreste von Wimpern, Augenbrauen und Bartstoppeln. Wir blickten auf die Gesichtshaut eines Mannes.
Auf der kleinen Anrichte goldgerahmte Fotos von Falk und einer weiteren Person. Ein blonder junger Mann. Gutaussehend. Mit breitem Lächeln. Wir kannten ihn. Rita Thiel, unsere Klientin, hatte uns bei ihrem ersten Besuch ein Bild von ihm gezeigt: Hajo Andersen.
Ich sah zurück zum Styroporkopf. Wir hatten Hajo Andersens Gesicht gefunden.