»Ach! Hallo, Frau Groß!« Rita Thiel stand in ihrer offenen Haustür und sah mich überrascht an.
»Schöne Grüße von Herrn Storm«, sagte ich. »Ich bringe Ihre Rechnung.«
Sie runzelte ansatzweise die Stirn. »Er hat es wohl nicht geschafft, selbst zu kommen?«
»Er ist momentan in der Charité wegen eines Krankenbesuchs. Und damit Sie nicht warten müssen, habe ich das schnell übernommen. Vom Prenzlauer Berg bis zu Ihnen nach Neukölln ist es mit den Öffis ja ein Katzensprung.« Ich stockte. »Hoffentlich ist das für Sie in Ordnung.«
»Aber natürlich! Kommen Sie doch rein.«
In ihrer Küche roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Eine Kaffeemaschine blubberte vor sich hin. Daneben stand ein Kuchen.
Wir nahmen am Tisch Platz, und ich reichte ihr das Kuvert mit der Rechnung.
Sie legte es ungeöffnet neben sich. »Vielen Dank.«
»Gern«, erwiderte ich. »Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, abzuschließen. Der anstehende Besuch bei Ihrer Mutter wird Ihnen sicher guttun. Heute ist bereits Donnerstag. Das heißt, sie fahren morgen?«
»Ja.« Sie nickte. »Gegen Abend. Ich will momentan einfach nicht allein sein.«
»Familie ist was ganz Tolles«, sagte ich.
»Und in meiner jetzigen Situation überaus wichtig.«
»Hm«, machte ich. »Erinnern Sie sich noch, als Sie mit Frau Kriminalkommissarin Fleischmann und mir gesprochen haben? An dem Tag, an der der Tote an Ihrer Gartenmauer lehnte?«
»Ja. Selbstverständlich. Wie könnte ich das jemals vergessen?«
»Da haben Sie uns geschildert, wie wichtig die Beziehung zu Hajo Andersen für Sie war.«
Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. »Wenn Sie Ihren Seelenverwandten finden, oder glauben, ihn gefunden zu haben … Das ist einfach einzigartig.«
Ich ließ mir mit der Antwort Zeit. »Mag sein, ich irre mich. Aber haben Sie uns damals nicht erzählt, dass Sie Ihre Eltern sehr früh bei einem Autounfall verloren haben?«
»Nur meinen Vater«, sagte sie und fügte an: »Aber was bin ich doch für eine schlechte Gastgeberin!«
Sie erhob sich, holte zwei Tassen aus einem der Küchenschränke und goss uns Kaffee ein. Sie stellte die Becher auf den Tisch, platzierte den Kuchen samt Messer in der Mitte, versorgte uns beide mit Tellern und Gabeln, und nahm wieder Platz. Lächelnd schnitt sie mir und sich ein großzügiges Stück des Marmorkuchens ab.
»Wo waren wir?«, fragte sie.
»Ihre Eltern«, sagte ich. »Sie meinten damals, Sie seien in Heimen und bei Pflegeeltern aufgewachsen.«
Sie schüttelte deutlich den Kopf. »Da müssen Sie sich wirklich täuschen. Da spielt Ihnen Ihre Erinnerung einen Streich.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, erwiderte ich. »Sie erklärten uns in dem Zusammenhang, dass Sie gedacht hätten, niemandem vertrauen zu können, bis Hajo Andersen in Ihr Leben trat.«
»Das stimmt schon«, bestätigte sie. »Aber das hatte nichts mit meinen Eltern zu tun.«
Ich ließ das so stehen.
»Hajo muss ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein«, bemerkte ich.
»Oh ja!« Sie lächelte. »Das war er.«
Ich sah sie an. »Ich fand das so schön, als Sie erklärten, Sie und er waren wie ein Mensch mit gleichen Interessen und gleichen Wünschen.«
»Mhm«, machte sie und trank von ihrem Kaffee.
»Hajo Andersens Wünsche und Interessen konzentrierten sich aufs Foltern und Morden.«
»Was möchten Sie damit ausdrücken?« Sie hatte ein wunderschönes Gesicht. Vielleicht etwas blass, eingerahmt von diesen schwarzen, üppigen Locken.
»Gestern, Sie waren bereits gegangen … Und Sie taten mir sehr leid … Ich blickte aus dem Fenster in den Innenhof, dachte über Ihre Worte nach, über Ihre Mutter, die doch nicht verstorben ist … Dann über Hajo, wie sehr er Ihnen fehlt und wie nahe Sie sich standen … Und plötzlich, mit einem Mal, kam mir der Gedanke, dass Sie vielleicht auch seine dunklen Interessen und Vorlieben geteilt haben. Das Foltern, das Morden…« Ich lächelte Sie an.
Sie blieb ernst. »Haben Sie sich darüber mit Herrn Storm ausgetauscht?«
»Ich? Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch, wie das mit vagen Gefühlen ist. Die behält man besser für sich.«
Sie nickte und sah auf meinen Becher. »Sie haben noch gar nichts getrunken.«
»Oh! Das stimmt. Habe ich nicht«, bestätigte ich. »K.-o.-Tropfen sind nicht mein Ding.«
Ihre Augen glitzerten. »Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen K.-o.-Tropfen in Ihr Getränk gemischt habe?«
»Nun, weil das Ihre Masche ist. Und die von Hajo Andersen. Sie haben doch alles miteinander geteilt. Deswegen konnten Sie uns die Wirkung der Droge so gut beschreiben. Weil Sie bei zig Opfern miterlebt haben, was das Zeug bei einem Menschen anrichtet.«
Meine Worte schienen sie zu amüsieren. Sie lachte herzlich auf.
»Du wirst hier nicht rauskommen«, sagte sie leise.
»Werde ich nicht?« Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Nein. Drüben, im Nebengebäude, da gibt es eine Senkgrube. Darunter befindet sich ein uralter, längst aufgelassener Brunnen. Den kennt niemand mehr außer mir. Und weißt du, was da drinnen liegt? Die vermoderten Überreste derjenigen, die ich zuerst allein und später mit Joey getötete habe. Ich bringe dich jetzt um, und dann schmeiße ich deinen Körper zum Verrotten da rein. Und deine Knochen werden für ewige Zeiten mit den der anderen dort verbleiben.«
»So?«, sagte ich.
»Ja.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Sie bewegte sich blitzschnell. Schneller, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie packte das Küchenmesser, kam über den Tisch und schlitzte mir durch das Leder meiner Jacke in die Innenseite meines linken Oberarms. Ein metallisches Geräusch erklang, durchdringend, sodass es in den Ohren schmerzte.
Verwundert blickte sie mich an, holte erneut aus und stach ein zweites Mal zu. Fast an die gleiche Stelle.
Erneut dieser grässlich durchdringende Laut.
Ich erhob mich, stieß sie zurück auf ihren Stuhl und nahm selbst wieder Platz.
Sie starrte mich noch immer ungläubig an.
Ich hob den linken Arm, packte einen der herunterhängenden Lederstreifen, zog ihn zur Seite und legte den Schnitt frei. Metall glänzte darunter.
»Ein Stück von irgendeinem alten Rohr oder einer Rinne. Keine Ahnung«, sagte ich. »Es lag bei Herrn Storm in seinem Werkstattschuppen. Er schraubt für sein Leben gern an Autos herum. Und als er heute früh ins Krankenhaus aufgebrochen ist, dachte ich, ich greife mir seine Flex, schneide mir ab, was ich brauche, und klebe mir auf jeder Seite ein Stück des Rohrs in die Innenseite der Ärmel. Nur für alle Fälle.«
»Woher wusstest du das?«, zischte sie.
Ich langte mir an den Rücken und zog meine Luger heraus. Ich richtete den Lauf auf sie. »Damals, der Einbrecher bei Hajo, der dich umbringen sollte, ist durch einen Schnitt in die Oberarm-Schlagader gestorben. Das warst eindeutig du. Und vor ein paar Tagen, der Slaughterhouse Boy … unser guter Aurelius von Born, einer der Nachfolger von Hajo, der ist in diesem Haus, da vorn in deinem Flur, ebenfalls durch einen Schnitt in die Schlagader seines Oberarms verblutet. Auch da geht auf dein Konto.«
»Zufall«, sagte sie.
»Ach komm schon! Zufall! Wem willst du das weißmachen? Um die Arterie zu treffen, braucht man viel Übung und Routine.« Ich legte den Kopf schief und musterte sie. »Wenn ich es genau bedenke, warst du gar nicht schlecht.«
»So?«, meinte sie.
»Mhm. Du wolltest unbedingt den Mörder von deinem Hajo aufspüren. Du wusstest, dass Hajo vor dir schon gemordet hat. Aber nicht, mit wem. Und du hattest vor, dich an dem rächen, der dir deinen Partner genommen hat.«
»Das habe ich auch erreicht.« Ein zufriedener Ausdruck glitt über ihr Gesicht. »Hajo und ich haben uns kennengelernt, als wir beide auf der Jagd waren. Jeder von uns wollte den anderen klarmachen. Ihn abschleppen, um dann...« Sie lachte. »Keine fünf Minuten, und wir haben gewusst, wer oder was der andere ist … Ich bin stets davon ausgegangen, ich wäre mit meiner Veranlagung allein und müsste es immer bleiben.« Sie sah mir in die Augen. »Ich habe dich nicht angelogen, als ich dir das geschildert habe. Dieser Teil ist wahr.« Sie atmete tief durch. »Hajo hat mir von dem anderen erzählt. Aber was ich auch versucht habe, er hat mir nie dessen Identität verraten. Das Geheimnis zu hüten, sei er seinem früheren Partner schuldig.«
»Was war mit dem Red Room?«, fragte ich. »Den hast du tatsächlich bei deinen Recherchen gefunden?«
»Nein. Hajo hat ihn mir gezeigt. Von ihm wusste ich, dass sein ehemaliger Partner diesen Video-Channel im Darknet betreibt ... Sieh sie sterben ...« Sie presste kurz ihre Lippen zusammen. »Hajo hat sich das auch das eine oder andere Mal angeschaut. Ich fand das nicht so gut.«
»Du hattest das Gefühl, er betrügt dich damit«, stellte ich fest.
Ein Muskel zuckte in ihrer Wange. »Es handelte sich lediglich um eine Phase. Das wäre vorübergegangen.«
»Phase. Klar«, sagte ich. »Als Hajo tot war, hast du lange versucht, den Betreiber des Red Rooms selbst aufzuspüren. Hat aber nicht geklappt. Deshalb hast du dir zwei Idioten aus einem heruntergekommenen Hinterhaus gesucht, nämlich Maximilian und mich, die die Aufgabe für dich erledigen sollten.«
»Ihr beide habt das super hinbekommen.«
»Nur zwischendrin wollten wir aufgeben. Deshalb hast du ein wenig nachgeholfen, nicht wahr?«
Sie deutete mit dem Finger auf mich.
»Du hast gefordert, Maximilian müsse die Polizei zwingen, weiterzuermitteln«, fuhr ich fort. » Zwingen … das hast du dann gemacht. Du hast den Kassierer von der Tanke umgebracht und seine Leiche vor deiner Tür drapiert.«
Sie schenkte mir ein breites Lächeln. »Das hat die Sache doch unheimlich befeuert, nicht wahr? Und anschließend mein Interview … Letztendlich ist alles so ausgegangen, wie ich es geplant und erhofft hatte.«
»Tja«, sagte ich. »Jetzt sitzen wir hier. Gemütlich in deiner Küche.«
»Was hast du mit mir vor?«, fragte sie. »Willst du mich der Polizei übergeben?«
Ich schnalzte mit der Zunge. »Meine Freundin, Pardis Fleischmann, die Kriminalkommissarin, die wäre darüber sehr glücklich. Und Maximilian, Herr Storm, der ist ganz versessen auf Gesetze, Gerichte und Urteile. Hängt mit seinem Beruf zusammen. Bei mir ist das anders.«
»Inwiefern?«
»Naja … Ich regle das selbst. Ich jage dir einfach eine Kugel in den Kopf, schleppe dich in die Garage und finde den aufgelassenen Brunnen. Dann schmeiße ich dich da rein und du wirst diejenige sein, die dort verwesen wird. Deine Knochen werden dort mit den anderen bleiben bis ans Ende aller Tage … Nicht meine.«
Kein Ausdruck eines Gefühls in ihrem Gesicht. Lediglich ihr Mund wurde eine Spur schmaler.
Ich blickte auf meine Pistole, legte sie vorsichtig auf dem Tisch ab und ließ sie los.
Sie sah mich an. Ihre Augen veränderten sich, ihre Pupillen wurden größer. Dann sprang sie erneut mit dem gezückten Messer auf mich zu. Wie von einer gigantischen Feder katapultiert, zielte sie auf meine Halsschlagader.
Sie war noch schneller als vorhin. Viel schneller.