Der Sportplatz war voll von jubelnden, lachenden oder frustrierten Fans – je nachdem, zu welcher Mannschaft sie hielten. Auf den Bänken und auf dem Boden lagen Flaschen, leere Pappteller, Getränkedosen, Wimpel, Fahnen, Plakate und buntes Bonbonpapier. Wie sollte man in diesem Chaos einen kleinen türkisfarbenen Wellensittich finden? Es war aussichtslos.
„Vielleicht ist sie schon nach Hause geflogen“, mutmaßte Zack.
Violet zuckte zweifelnd mit den Schultern. „Meinst du, sie ist so clever und findet den Weg?“
„Ich glaube, wir sollten uns trennen. Ich laufe zum Blumenladen und guck, ob sie dort ist. Und du hältst hier nach ihr Ausschau.“
Als Violet nickte, flitzte Zack los.
Violet suchte die Zuschauerbänke nach Lady Madonna ab. Wie viel Müll die Leute hinterlassen hatten, das war ja eklig!
„Mein Wellensittich ist weggeflogen. Haben Sie ihn vielleicht irgendwo gesehen?“, fragte sie ein paar Männer mit blauen Schals, die Bier tranken.
„Sei froh, dass er weg ist“, gab einer von ihnen zurück. „Sonst hättest du ja einen Vogel.“
Die anderen lachten grölend. Als ob das irgendwie lustig wäre.
Violet stiegen Tränen in die Augen. Hastig wandte sie sich ab und ging weiter. Tante Abigail schimpfte zwar immer, dass Lady Madonna ihr mit ihrem Geplapper auf die Nerven ging, aber wenn dem Wellensittich etwas zustoßen würde, wäre sie untröstlich. Und Violet selbst natürlich auch. Sie schüttelte den Kopf. Nur nicht dran denken!
Wie hatte das bloß passieren können, fragte sie sich. Warum hatte sie nicht besser auf den Vogel aufgepasst?
„Lady Madonna!“, rief sie verzweifelt. „Wo steckst du? Komm zurück!“
„Suchst du den hier?“, fragte jemand hinter Violet.
Als sie sich umdrehte, sah sie einen großen Jungen zwischen den Bänken. Und auf seiner Schulter saß Lady Madonna und putzte vergnügt ihr türkisfarbenes Gefieder.
„Da bist du ja!“ Violet stürzte so hastig auf den Jungen zu, dass der Wellensittich vor Schreck fast von seiner Schulter purzelte.
„Nicht schießen!“, piepste er panisch. „Hilfe, Polizei!“
„Was machst du denn für Sachen, Madonna?“, rief Violet. „Wir haben dich überall gesucht!“
„Madonna heißt der Vogel?“, fragte der Junge. „Lustiger Name. Sie saß da hinten unter der Bank und hat kalte Pommes gefressen. Ist wahrscheinlich nicht so ideal für einen Wellensittich.“
„Oh Mann!“ Violet streckte die Hand aus und ließ Lady Madonna auf ihren Zeigefinger hüpfen. „Danke, dass du sie eingefangen hast.“ Jetzt erst sah sie sich den Jungen genauer an und erkannte ihn.
„Du bist ja die Nummer 10!“, rief sie überrascht.
Es war der Stürmer der Blauen, der im Spiel eben vier Tore geschossen hatte. Violet war sich ganz sicher, obwohl der Junge inzwischen eine Trainingsjacke trug, sodass die Spielernummer auf dem Trikot nicht mehr zu sehen war.
„Eigentlich heiße ich Jordan.“ Der Junge lachte. „Und du?“
„Ich bin Violet.“
„Ihr habt uns gefilmt“, sagte Jordan.
Violet blieb die Spucke weg. „Wie hast du das denn gemerkt? Du hast doch die ganze Zeit Fußball gespielt.“
„Ich wurde ja erst später eingewechselt. Vorher hatte ich Zeit zum Gucken. Deine roten Haare sind mir aufgefallen. Na ja, und die Kamera natürlich auch. Warum habt ihr das Spiel gefilmt?“
„Ich … äh …“ Violet suchte nach Worten. Verflixt, warum sagte Lady Madonna nichts und verschaffte ihr ein bisschen Bedenkzeit? Sonst plapperte sie pausenlos, aber jetzt hatte sie nichts Wichtigeres zu tun, als sich zu putzen.
„Das Video ist für das Team von Rivenhoe“, sagte Jordan. „Stimmt’s?“
Violet spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Wahrscheinlich war es röter als ihre Haare. Mit einem Mal kam es ihr total gemein vor, dass sie die Blauen ausspioniert hatten. Aber Jordan winkte ab.
„Macht doch nichts“, sagte er großzügig. „Ich finde es total schön, dass du dich so für deine Mannschaft einsetzt. Solche Fans hätten wir auch gerne.“
„Bitte schön!“, piepste Lady Madonna, obwohl ihr Kopf unter ihrem linken Flügel steckte. „Danke schön!“
„Also … es ist so … ich hab das nur für meine Freundin gemacht“, stotterte Violet.
„Für deine Freundin?“ Jordan zog die Augenbrauen hoch.
Violet wurde noch roter. Sie durfte auf keinen Fall verraten, dass Jack in Wirklichkeit ein Mädchen war.
„Vergesst das mal ganz schnell“, hatte Mr Campbell, der Trainer, den anderen in der Mannschaft gesagt, als Jack zum ersten Mal zum Training gekommen war. „Solange er hier mitmacht, ist Jack ein Junge.“
„Ich meine natürlich: für meinen Freund“, verbesserte Violet sich hastig.
„Für deinen Freund?“ Die Nummer 10 grinste. „Wer ist denn dein Freund?“
„Ein Freund“, korrigierte Violet sich erneut. „Jack Dumpling.“
Da verschwand das Grinsen aus Jordans Gesicht und seine Augen wurden kugelrund vor Erstaunen. Den Namen kannte er natürlich, den kannte ja jeder. „Das ist jetzt ein Witz, oder?“, fragte er ungläubig.
„Nein.“
„Du bist mit Jack Dumpling befreundet?“
„Und wie“, sagte Violet stolz.
„Glaub ich dir nicht.“
„Er ist zufälligerweise sogar mein bester Freund. Und er hat mich zu seiner Geburtstagsparty am nächsten Samstag eingeladen, obwohl ich nicht in der Mannschaft bin.“
„Wow“, sagte Jordan. „Das ist ja ein Ding. Jack Dumpling würde ich auch gerne mal kennenlernen.“
„Schau doch mal!“ Lady Madonna hatte sich jetzt fertig geputzt und blickte mit schiefgelegtem Kopf zwischen Violet und Jordan hin und her. „Guten Appetit!“
Damit wollte sie Violet daran erinnern, dass sie immer noch Hunger hatte und endlich nach Hause wollte.
Auf einmal fiel Violet Zack wieder ein, der wahrscheinlich wie verrückt nach dem Wellensittich suchte.
„Ich muss los“, sagte sie hastig. „Noch mal danke, dass du Madonna gefunden hast!“
„Nichts zu danken“, sagte Jordan. „Dann bis bald!“
Als sie sich am Ausgang zu ihm umdrehte, stand er immer noch da und sah ihr hinterher. Nun hob er die Hand und winkte ihr zu, und Violet winkte zurück.
„Wie viele Tropfen braucht man von dem magischen Beifuß-Extrakt?“, fragte Tante Abigail. „Drei oder vier?“
„Vier“, erwiderte Violet und wusste sofort, dass es die falsche Antwort gewesen war.
Tante Abigails grüne Augen zogen sich nämlich zusammen. Nur ein winziges bisschen, aber das genügte.
„Ich meine natürlich drei“, sagte Violet hastig, doch es war zu spät. Die grünen Augen waren bereits dunkel vor Missbilligung.
„Schade, schade, jammerschade!“, piepste Lady Madonna, die in ihrem Käfig saß, der über der altmodischen Ladenkasse hing.
Tante Abigail verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte schwer. „Du hast nicht gelernt, Violet.“
„Hab ich doch“, sagte Violet, aber das war gelogen, das wusste sie so gut wie Tante Abigail. In letzter Zeit war einfach zu viel los gewesen. Für die Schule hatte Violet ein Referat über Singvögel in England vorbereiten müssen und dann all diese Fußballspiele, die man sich ständig ansehen musste!
Das Spiel gegen die Waltons hatten die Rivenhoes zehn zu null gewonnen. Jack hatte sieben Tore geschossen, Olli zwei, das letzte war ein Eigentor des gegnerischen Verteidigers.
Bei all dem Trubel hatte Violet es nicht geschafft, sich ordentlich auf Tante Abigails Unterricht vorzubereiten, und das rächte sich jetzt.
„Drei Tropfen Beifuß auf einen Teelöffel Beinwell verhindern Wadenkrämpfe“, erklärte Tante Abigail. „Vier Tropfen helfen gegen Hühneraugen. Das ist doch wirklich nicht so schwer!“
Violet unterdrückte ein Seufzen. Es war eben doch schwer – und wie!
Als Tante Abigail ihr damals versprochen hatte, sie zur Blumenmagierin auszubilden, obwohl Violet eigentlich noch viel zu jung dafür war, hatte sie vor Freude gejubelt. Jetzt stöhnte sie, weil die Blumennamen, Rezepte und Formeln so kompliziert waren, die in Tante Abigails magischem Blumenbuch standen.
Abigail war die liebevollste und netteste Tante der Welt, aber wenn es um Violets Ausbildung ging, verstand sie überhaupt keinen Spaß. Kopfschüttelnd nahm sie das zitronengelbe Buch, das vor ihnen auf dem Ladentisch lag, und blätterte ein paar Seiten weiter.
„Versuchen wir es mal mit etwas Leichterem“, sagte sie. „Wofür ist diese Pflanze gut? Weißt du das?“
Sie tippte auf eine leuchtend blaue Blüte, die über der Buchseite zu schweben schien, so klar und deutlich, als könnte man sie aus der Luft pflücken. Die zarten Blütenblätter verströmten einen scharfen Geruch nach Zahnpasta, der Violet ein bisschen schwindlig machte.
Nur Violet sah die Pflanze dreidimensional in der Luft stehen. Und auch den Duft nahm nur sie wahr. Für Tante Abigail und alle anderen Menschen war es eine gewöhnliche Abbildung in einem gewöhnlichen Pflanzenbuch.
Violet hatte diese Gabe von ihrer Mutter geerbt, die die Blumenzauberei allerdings wieder aufgegeben hatte, als Violet auf die Welt gekommen war. Sie hatte mit ihrer kleinen Tochter nämlich lieber ein ganz normales Leben führen wollen. Doch dann war sie bei einem Autounfall gestorben. Violet war damals noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen. Danach war Violet zu Tante June und Onkel Nick gekommen und das war ein Riesenglück, weil die beiden sie liebten wie ihr eigenes Kind.
Im Moment nützte Violet ihre Gabe aber überhaupt nichts. Sie kannte nämlich weder den Namen noch die Wirkung der blauen Zahnpastablume. Und auf den Text, der neben der schwebenden Blüte stand, hatte Tante Abigail leider ihre Hand gelegt.
„Wir haben letzte Woche über die Pflanze gesprochen“, sagte Tante Abigail.
Violet dachte so angestrengt nach, dass ihr Kopf fast zu rauchen begann. Sie wusste, dass sie die Blume in der letzten Unterrichtsstunde durchgenommen hatten, aber an mehr erinnerte sie sich nicht.
Hilfe suchend ließ sie ihren Blick durch den Blumenladen wandern. Wie immer standen überall Eimer, Vasen und Körbe, die mit leuchtenden Blumen gefüllt waren. Tulpen strahlten mit Anemonen und Osterglocken um die Wette, und Hyazinthen und Maiglöckchen verbreiteten ihren betörenden Duft.
Allerdings war es nicht so bunt in den Regalen und Vasen wie sonst. In diesem Frühjahr hatte Tante Abigail hauptsächlich pinke, rosa und lila Blumen in ihrem Laden. Zusammen mit dem Grün der Blätter und Stängel ergab das die Farben der Fußballmannschaft von Rivenhoe. Grün-Pink. Ob das ein Zufall war?
„Also?“, fragte Tante Abigail.
Violet gab sich einen Ruck. Die blaue Blüte im Buch. Sie brauchte eine Antwort auf die Frage – und zwar schnell! Ihr Blick fiel auf Lord Nelson, Tante Abigails honigfarbenen Kater, der auf dem Ladentisch lag.
Er schaute Violet nachdenklich an, dann zeigte er mit der Pfote auf die Glocke über der Ladentür. Nur ganz kurz und verstohlen, sodass Tante Abigail es nicht merkte.
Violet nagte an ihrer Lippe. Nun legte Lord Nelson seine Stirn in Falten, und plötzlich fiel Violet der Blumenname wieder ein.
„Die Runzelige Glockenblume!“, rief sie triumphierend.
„Sehr richtig“, lobte Tante Abigail. „Aber das war nicht die Frage. Ich will wissen, gegen was die Blume hilft.“
Wieder wanderte Violets Blick zu Lord Nelson. Der hielt sich mit beiden Pfoten die Augen zu.
„Gegen Erblinden?“, fragte Violet.
„Lass den Blödsinn, Nelson!“, wies Tante Abigail den Kater zurecht. „Hier wird nicht geschummelt!“
Lord Nelson miaute verlegen, sprang mit einem Satz vom Ladentisch und verzog sich nach oben in die Wohnung. Violet seufzte. Da ging sie hin, ihre letzte Hoffnung.
„Die Runzelige Glockenblume schenkt jungen Müttern einen besonders tiefen Schlaf und sorgt außerdem für zauberhafte Träume. Ein wunderbares Mittel und ganz ohne Nebenwirkungen. Die Spitzen der Blütenblätter werden im Mörser zerstampft und mit dem Öl der Schlummernden Schliere vermischt. Das ist genau das Richtige für Tante June, wenn dein Brüderchen erst mal auf der Welt ist.“
Violet sah Tante Abigail überrascht an. „Mein Brüderchen? Aber wir wissen doch noch gar nicht, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen wird.“
Doch bevor Tante Abigail antworten konnte, läutete die Glocke über der Tür und ein großer dunkelhaariger Junge betrat den Laden.
Violets Herz begann sofort aufgeregt zu hämmern. Es war nämlich die Nummer zehn der Blauen. Jordan.
„Hi, Violet!“ Im Gegensatz zu ihr schien Jordan kein bisschen überrascht zu sein, sie hier zu sehen.
„Willst du Blumen kaufen?“, erkundigte sich Violet.
„Nee. Ich wollte dich was fragen.“
„Woher weißt du denn, dass ich hier bin?“
Jordan grinste. „Ich hab die Frau in der Bäckerei gefragt. Die wusste, dass du mittwochs immer im Blumenladen bei deiner Tante bist.“
„Ja, ich helf ihr ein wenig.“ Erst jetzt fiel Violet auf, dass das magische Blumenbuch nicht mehr auf dem Tisch lag. Tante Abigail hatte es blitzschnell verschwinden lassen.
Es war nämlich streng geheim, dass Abigail eine Blumenzauberin war und dass in ihrem Garten hinter dem Haus lauter magische Blumen wuchsen. Und dass sie Violet ausbildete, war noch geheimer. Außer Zack und Jack wusste niemand davon, noch nicht einmal Tante June und Onkel Nick.
„Was wolltest du mich denn fragen?“, hakte Violet nach.
Jordan wirkte plötzlich verlegen. „Also, ich … Hast du vielleicht etwas Zeit? Wir könnten ein Eis essen gehen. Ich lad dich auch ein.“
Violet sah Tante Abigail an und dabei fiel ihr ein, dass sie ihr Jordan noch gar nicht vorgestellt hatte.
„Das ist Jordan“, sagte sie. „Er kommt aus Bluestedt und spielt für die Blauen.“
„Hallo, Jordan!“ Zu Violets Erleichterung lächelte Tante Abigail warmherzig, obwohl sie doch Rivenhoe-Fan war.
„Und das ist meine Tante Abigail“, fuhr Violet fort.
„Hallo“, sagte Jordan.
„Willkommen!“, zwitscherte Lady Madonna. „Bitte schön! Danke schön!“
Jordans Blick wanderte nach oben zum Käfig. „Du bist ja auch hier! Hallo!“
„Hereinspaziert!“, flötete der Wellensittich.
„Oder vielmehr hinausspaziert“, sagte Tante Abigail. „Wir machen Schluss für heute, Violet. Viel Spaß beim Eisessen. Dafür erwarte ich beim nächsten Mal ein bisschen mehr Einsatz.“
„Versprochen!“ Violet gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und rannte zur Tür. Sie war wirklich neugierig, warum Jordan gekommen war.