Durchfall

Obwohl es natürlich total komisch war, dass Jordan so plötzlich verschwunden war, waren immer noch alle skeptisch, ob der Glückspunsch wirklich vergiftet war. Trotzdem wollte keiner mehr davon trinken.

Jacks und Zacks Dad holte Cola aus dem Keller, aber das konnte die Stimmung auch nicht mehr retten. Die Party war gelaufen.

„Sie wäre doch ohnehin bald zu Ende gewesen“, sagte Mrs Dumpling, als sie die Tür hinter Olli schloss, der als letzter der Jungs das Haus verlassen hatte. „Morgen ist schließlich ein wichtiger Tag für die Mannschaft. Da müssen alle ausgeschlafen sein.“

Violet nagte an einer knallroten Haarsträhne und schwieg.

Sie fühlte sich furchtbar. Bestimmt war Jordan ihretwegen so schnell weg. Er hatte ihre Anschuldigung gehört, und danach hatte es ihm gereicht, das konnte man ja verstehen.

„Meinst du, es war bescheuert, was ich gemacht habe?“, fragte sie Zack leise, als sie sich von ihm verabschiedete.

„Ach Quatsch!“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte denselben Verdacht. Ich hab mich nur nicht getraut, was zu sagen, weil ich mir nicht sicher war.“

Violet ließ den Kopf hängen. Sie war sich doch auch nicht sicher gewesen! Jetzt fühlte sie sich noch schlechter.

In der Nacht träumte sie von Lady Madonna, deren Federn grün-pink gefärbt waren und die ununterbrochen Olé, olé, olé, olé! piepste.

„Hör doch mal auf!“, rief Violet genervt. „Ich will endlich schlafen!“

„Aber es ist doch schon Morgen, Violet“, erwiderte Lady Madonna, nur dass es gar nicht Lady Madonna war, die das sagte, sondern Tante June.

Sie hatte gerade die Vorhänge in Violets Zimmer aufgezogen. Goldener Sonnenschein fiel auf das grün-pinke T-Shirt auf dem Stuhl, das Tante June am Vorabend für sie bereitgelegt hatte.

„Zieh dich schnell an und komm nach unten, Violet“, sagte sie. „Der Frühstückstisch ist schon gedeckt.“

Erst als Violet aus dem Bett sprang, fiel ihr wieder ein, was auf der Party passiert war. Im hellen Morgenlicht kam ihr der Verdacht gegen Jordan noch seltsamer vor als am Vortag. Nie und nimmer hätte er den Punsch vergiftet! Wie hatte sie nur so etwas Gemeines denken können?

„Guten Morgen, meine Prinzessin.“ Jetzt kam Onkel Nick ins Zimmer und streckte ihr das Telefon hin. „Hier ist Zack für dich.“

„Hallo?“ Violet klemmte sich das Teil zwischen Schulter und Ohr, während sie ihre Socken anzog, die grün-pink geringelt waren.

„Hallo.“ Zacks Stimme klang so düster, dass sie mitten in der Bewegung innehielt. „Totale Katastrophe.“

„Was?“

„Zwei Rivenhoe-Spieler sind krank und können heute nicht mitspielen. Haben wir eben erfahren.“

„Zwei Spieler?“ Violet wurde heiß und dann kalt und dann wieder heiß. „Wer?“

„Sunil und Finlay.“

Das war ein harter Schlag für das Rivenhoe-Team. Sunil war ihr Torwart und Finlay war ein super Verteidiger. Die Ersatzspieler waren eher unterdurchschnittlich.

„Und Mr Campbell hat’s ebenfalls erwischt.“

„Das gibt’s doch nicht!“, rief Violet.

„Alle drei haben gestern von dem Punsch getrunken. Und jetzt haben sie Durchfall.“

„Wenn sie alle drei Durchfall haben, dann bedeutet das …“ Violet unterbrach sich, weil sie schlucken musste.

„Dass du recht hattest“, ergänzte Zack. „Und dass Jordan ein gewissenloser Schurke ist.“

Violet nickte benommen. Sie fühlte sich total benebelt. Also doch. Jordan hatte nur so getan, als ob er sie nett fände. Und das mit dem Bowlen hatte er sich auch bloß ausgedacht, weil er hoffte, dass sie ihn dann zu der Geburtstagsparty einlud. Er hatte sie benutzt, um an Jack und die Mannschaft ranzukommen. Und sie war so blöd gewesen und auf ihn reingefallen.

„Das Schlimmste ist, dass wir die Sache nicht mal beweisen können“, fuhr Zack fort. „Mum hat den restlichen Punsch schon weggeschüttet und das Glas blitzsauber gespült.“

„So ein Mist!“, sagte Violet.

„Aber egal“, erklärte Zack. „Gott sei Dank hast du schnell genug reagiert. Jack ist fit und Olli auch. Und das sind unsere beiden Besten. Wir schaffen das, jetzt erst recht!“

Nachdem er aufgelegt hatte, spürte Violet, wie die Wut in ihr hochkochte, so heiß und rot wie der Hagebuttentee, den Tante Abigail manchmal machte.

„Alles klar, Violet?“, fragte Onkel Nick.

„Nichts ist klar.“ Violet erzählte, was geschehen war.

Onkel Nick und Tante June waren fassungslos.

„So eine Gemeinheit!“, rief Tante June. „Das ist ja wohl unfair hoch drei. Man sollte die Blauen disqualifizieren!“

„Das geht aber nicht“, sagte Violet. „Mrs Dumpling hat den Punsch weggeschüttet. Wir haben keine Beweise.“

Aber im gleichen Moment hatte sie eine Idee. Jordan wusste ja nichts davon, dass sie den Punsch weggeschüttet hatten. Vielleicht war das ihre Chance.

Sie suchte Jordans Nummer aus dem Telefonbuch und ging mit dem Telefon nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Nummer gewählt hatte, klopfte ihr Herz so wild wie Tante Junes Küchenmaschine beim Nüssehacken. Als Jordans Mum den Hörer abnahm, konnte sie sie kaum verstehen.

„Kann ich bitte mit Jordan sprechen?“, fragte sie über das Hämmern hinweg.

„Moment. Ich hole ihn ans Telefon.“

„Hallo?“ Als sie seine Stimme hörte, wurde das Herzklopfen noch schlimmer.

„Ich bin’s, Violet.“

„Was gibt’s denn?“, fragte Jordan.

„Och, eigentlich nichts“, sagte Violet. „Ich wollte nur Bescheid geben, dass wir gerade eine Probe von dem Punsch ins Labor gebracht haben.“

„Hä? Was für ein Punsch? Wovon sprichst du?“

Das war ja wohl die absolute Höhe! Violets Hände zitterten vor Wut. Fast wäre ihr das Telefon aus den Fingern gefallen.

„Von dem Punsch, den du gestern vergiftet hast“, zischte sie. „Onkel Nick hat ihn ins Labor gebracht und dort machen sie einen Schnelltest. Und wenn sie herausfinden, dass der Punsch vergiftet ist, dann fliegt ihr aus dem Turnier.“

„Wieso?“, fragte Jordan.

Violet schnappte nach Luft. „Weil es verboten ist, seine Gegner zu vergiften.“

„Selbst wenn der Punsch vergiftet ist, woher willst du wissen, dass ich das war? Da waren so viele Leute auf der Party.“

Vor Violets Augen begann es rot zu flackern. Sie war noch nie in ihrem Leben so wütend gewesen. Weil Jordan so unverschämt und so gemein war. Und weil er so verdammt recht hatte.

Es stimmte nämlich, was er sagte: Jeder hätte den Punsch vergiften können. Aber nur einer hatte einen Grund dafür gehabt: Jordan.

Es war eine bescheuerte Idee gewesen, ihn anzurufen. Was hatte sie erwartet? Dass er alles gestand und sich bei ihr entschuldigte? Und dass das Endspiel verschoben wurde, bis alle wieder fit waren?

„Bist du noch dran, Violet?“, fragte Jordan am anderen Ende der Leitung. „Ich muss jetzt leider Schluss machen. Ich muss zum Sportplatz …“

Wie ruhig und gelassen seine Stimme klang. Er hat überhaupt kein schlechtes Gewissen, dachte Violet.

„Du hättest dir die Aktion auch sparen können“, sagte sie aufgebracht.

„Was?“ Jordan klang verwirrt.

„Ihr habt keine Chance gegen Rivenhoe. Jack wird euch fertigmachen. Sie ist und bleibt die Beste.“

„Sie?“, fragte Jordan.

Violets Herz galoppierte noch schneller. Jetzt hatte sie sich auch noch verplappert!

„Ich meine natürlich: er“, korrigierte sie sich hastig. „Er ist der Beste.“

Aber sie hörte nur noch ein Tuten in der Leitung. Jordan hatte aufgelegt.

Als Tante Abigail hörte, was passiert war, war sie genauso fassungslos wie Tante June und Onkel Nick.

„So eine Riesengemeinheit!“, rief sie. „Da vergeht einem ja die Lust auf das Fußballspiel. Das ist doch kein Spaß mehr.“

„Nein, ein Spaß ist das wirklich nicht.“ Violet zögerte einen Moment. „Ich hab mir überlegt … vielleicht könnten wir den Rivenhoe-Spielern ja was geben.“

„Was meinst du damit?“, fragte Tante Abigail verständnislos.

„Na ja, irgendein Mittel, das sie aufbaut und stärker macht. Du kennst doch bestimmt einen guten Blumenzauber. Oder wir befragen das Buch.“

„Hurra, hurra! Schalalalala!“ Lady Madonna war bester Laune und konnte es kaum erwarten, dass das Spiel endlich anfing.

Tante Abigail sah Violet entgeistert an. „Ist das dein Ernst? Aber das wäre doch Doping. Das ist verboten.“

„Na ja“, sagte Violet. „Ich finde, es wäre nur fair. Immerhin haben die Blauen Sunil und Finlay aus dem Weg geräumt. Und Mr Campbell ist auch krank.“

Tante Abigail schüttelte den Kopf. „So was Unfaires mache ich aber nicht. Und du auch nicht. Es ist nur ein Spiel, Violet, vergiss das nicht.“

Violet seufzte. Warum konnte Tante Abigail nicht einmal ihre Prinzipien vergessen? Das würde alles so viel leichter machen.

Onkel Nick und Tante June hatten versprochen, Tante Abigail, Lady Madonna und die Blumensträußchen mit nach Bluestedt zu nehmen. Violet und Zack fuhren lieber mit im Mannschaftsbus.

Nachdem Violet Tante Abigail geholfen hatte, die Sträußchen in Körbe und Schachteln zu verpacken, rannte sie zum Parkplatz vor der Schule, denn dort fuhr der Bus ab. Als sie am Treffpunkt ankam, sprangen Jack und Zack gerade von ihren Fahrrädern. Und neben ihnen parkte ein Auto, aus dem Mr Campbell ausstieg.

„Mr Campbell!“, rief Jack und rannte zu ihm. „Ich dachte, Sie sind krank!“

„Bin ich ja auch“, krächzte der Trainer. „Aber das wird mich nicht daran hindern mitzukommen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

Er sah auch wirklich so aus, als ginge es bald mit ihm zu Ende. Sein Gesicht leuchtete im grellsten Rivenhoe-Grün und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

„Dieser verfluchte Punsch!“, stöhnte er. „Wenn ich bloß nicht davon getrunken hätte.“

„Das ist alles meine Schuld“, jammerte Violet. „Es tut mir so leid.“

„Du kannst doch nichts dafür, Violet.“ Mr Campbell winkte ab. „Im Gegenteil. Du hast unser Team gerettet. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten die anderen ebenfalls von dem Zeug getrunken. Und dann wäre alles aus. Aber so ist noch Hoffnung. Olli übernimmt das Tor, er hält jeden Ball. Und Jack …“ Mr Campbell straffte seine Schultern und blickte Jack an. „Du weißt, was du heute zu tun hast, Jack!“

Jacks Körper straffte sich ebenfalls. „Jawohl“, gab sie zurück. „Sie können sich auf mich verlassen, Mr Campbell.“

Ein schwaches Lächeln glitt über die grünlichen Züge. „Ich bin stolz auf dich.“ Dann wanderte sein Blick zu dem Bus, vor dem die Mannschaft wartete. „Ihr müsst leider ohne mich fahren. Ich komme mit dem Auto nach. Vermutlich werde ich auf der Strecke vierzehnmal anhalten müssen …“ Das Klingeln seines Handys unterbrach ihn. Mit gerunzelter Stirn fischte er es aus der Jacke.

„Hallo?“

Violet, Jack und Zack machten sich auf den Weg zum Bus. Doch dann blieben sie wie angewurzelt stehen, weil Mr Campbell einen lauten Schrei ausgestoßen hatte.

„Das ist nicht wahr!“, schrie er. Sein Gesicht hatte jetzt wirklich die Farben der Rivenhoe-Flagge angenommen. Das kränkliche Grün mischte sich mit einem wütenden Pink.

„Was ist nicht wahr?“, fragte Zack alarmiert.

„Aber das ist … Das können Sie doch gar nicht … Niemand weiß, dass Jack Dumpling ein …“ Mr Campbell unterbrach sich, zog ein grün-pinkes Stofftuch aus der Tasche und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. „Niemand weiß das.“ Wiederholte er leise und kraftlos.

„Was weiß niemand?“, fragte Jack, aber sie bekam keine Antwort.

Mr Campbell hatte aufgelegt. Einen Moment lang starrte er mit düsterer Miene auf sein Handy. Dann zuckte er zusammen und hastete an den Zwillingen und Violet vorbei.

„Ich muss mal eben …“ Auch diesen Satz beendete er nicht. Sie sahen ihm nach, wie er über den Parkplatz rannte und im Toilettenhäuschen verschwand.

„Was weiß niemand?“, fragte Jack noch einmal.

Zack zuckte ratlos mit den Schultern. Und Violet sagte ebenfalls kein Wort. Sie zitterte am ganzen Körper.

Im Gegensatz zu den Zwillingen war ihr vollkommen klar, was Mr Campbell gerade erfahren hatte. Jack war disqualifiziert worden, weil sie ein Mädchen war. Und natürlich wusste Violet auch, wer dafür gesorgt hatte, dass die Wahrheit über Jack ans Licht gedrungen war. Jordan hatte die Info an seinen Trainer weitergegeben und der hatte die Turnierleitung angerufen.

Aber die wahre Schuldige bin ich, dachte Violet. Wenn ich Jordan nicht angerufen hätte, hätte er nichts erfahren. Dann hätte Jack mitspielen dürfen und Rivenhoe hätte das Turnier gewonnen.

Doch nun hatte die Mannschaft keine Chance mehr.

„Jetzt ist alles aus“, flüsterte sie.