Jack tobte vor Wut.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, schrie sie. „Nur weil ich ein Mädchen bin, darf ich nicht mitspielen? Das ist voll ungerecht und gemein.“
„Mädchen dürfen nur in Mädchenteams spielen“, erklärte Mr Campbell, der wieder vom Klo zurückgekommen war. „So sieht es aus.“
„Es gibt aber kein Mädchenteam in Rivenhoe!“, brüllte Jack. „Was soll diese blöde Vorschrift, das ist doch der totale Schwachsinn!“
Die anderen Spieler starrten trübsinnig auf die Spitzen ihrer Fußballschuhe und schwiegen.
„Die Frage ist, ob wir jetzt überhaupt noch nach Bluestedt fahren sollen“, sagte Liam schließlich. „Ich meine, wir haben ja eh schon verlo…“
Weiter kam er nicht. Denn jetzt rastete Jack komplett aus. „Was habt ihr? Du spinnst wohl, Liam! Ihr habt Olli, der ist ein super Mann. Ihr seid alles super Männer. Ob mit oder ohne mich ist doch vollkommen egal. Natürlich fahrt ihr nach Bluestedt. Und dann fegt ihr diese verfluchten Blauen vom Feld, dass es rauscht! Hast du das verstanden, Liam?“
Liam starrte sie aus schreckgeweiteten Augen an.
„Ob du das verstanden hast, hab ich dich gefragt!“, schrie Jack.
„Natürlich“, stieß Liam hervor. „Wir fegen sie vom Platz.“ Es fehlte nicht viel und er hätte vor Jack salutiert.
„Ganz genau!“, rief Olli. „Das ist die richtige Einstellung. Wir fahren nach Bluestedt und holen uns den Pokal.“
Er reckte seine Faust in die Höhe und die anderen taten es ihm nach, sogar Mr Campbell, der allerdings gleich danach wieder aufs Klo musste.
Nur Violet machte nicht mit.
„Ich muss noch mal weg“, flüsterte sie Zack zu.
„Das geht jetzt nicht“, erwiderte er. „Der Bus fährt doch gleich ab.“
„Das ist egal. Ich komm nach.“
„Wo willst du denn hin?“, fragte Zack.
Sie nagte an ihrer Unterlippe und antwortete nicht.
Da nickte er. „Alles klar. Ich komm mit.“
Sie rannten zurück zum Blumenladen, der abgeschlossen war. Tante Abigail war nämlich bereits von Onkel Nick und Tante June abgeholt worden. Und das war gut so.
„Ich bin schuld, dass Jack aufgeflogen ist“, gestand Violet, als sie die Tür aufschloss. „Ich habe Jordan aus Versehen verraten, dass sie ein Mädchen ist.“
„Ist doch jetzt egal“, sagte Zack. „Wir brauchen einen Blumenzauber, um unsere Jungs zu unterstützen. Und zwar schnell.“
„Ich hole das Buch.“
Violet hastete zum Ladentisch, über dem Lady Madonnas Käfig hing. Er war leer, Tante Abigail hatte ihr Versprechen also gehalten und den Wellensittich mit zum Fußballspiel genommen.
Lord Nelson war ebenfalls nirgends zu sehen. Zum Glück, denn bei dem, was Violet jetzt vorhatte, konnte sie den Kater nämlich überhaupt nicht gebrauchen.
Sie wollte das magische Buch befragen, obwohl sie Tante Abigail felsenfest versprochen hatte, es niemals ohne ihre Erlaubnis zu benutzen.
Das zitronengelbe Buch, in dem alle magischen Blumen beschrieben waren, die in Tante Abigails Hexengarten wuchsen, zeigte Violet immer genau die Pflanze, die sie für einen Zauber brauchte. Sie musste das Buch nur aufschlagen und landete stets auf der richtigen Seite.
Deshalb fragte sie sich auch oft, warum Tante Abigail so hartnäckig darauf bestand, dass Violet die komplizierten Namen, Wirkungsweisen und Rezepte auswendig lernte – das Buch verriet ihr doch alles, was sie brauchte.
Allerdings musste sie zugeben, dass sie in der Vergangenheit meist eine Menge Chaos angerichtet hatte, wenn sie das Buch heimlich befragt hatte.
Aber heute wäre das anders. Heute würde Violets magische Gabe für Gerechtigkeit sorgen.
Sie öffnete den Vogelkäfig und holte den Schlüssel heraus, der unter Lady Madonnas Futterschälchen verborgen war.
Damit rannte sie zu dem Regal an der Rückwand des Blumenladens.
Zack kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam schoben sie den riesigen Kaktustopf zur Seite, der davor stand. Puh, war das Ding schwer!
Erst jetzt sah man, dass sich in dem Regal ein kleiner Einbauschrank befand.
Violet steckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür auf und wollte nach dem Buch greifen, das dort versteckt war.
Aber dann ließ sie die Hand wieder sinken. Sie starrten beide erschrocken in den Schrank.
Er war leer.
„Kein Problem“, sagte Zack, als sie sich von dem Schreck erholt hatten. „Das Ding muss ja irgendwo im Haus sein. Tante Abigail hat es bestimmt nicht mit zum Spiel genommen.“
Sie durchsuchten den Blumenladen, rückten jeden Blumentopf zur Seite, blickten hinter jede Vase, hoben alle Kisten hoch und schauten sogar unter die altmodische Ladenkasse. Nichts.
„Dann ist es eben oben“, sagte Violet.
Sie rannten über die schmale Treppe in die kleine vollgestopfte Wohnung von Tante Abigail. Zuerst nahmen sie sich die Geheimverstecke vor, in denen Violet das Buch schon einmal gefunden hatte. Sie guckten in das Fach hinter dem Badezimmerspiegel und öffneten die Klappe, die in die Wohnzimmerdecke eingelassen war. Aber beide Verstecke waren leer.
„Wäre ja auch zu schön gewesen“, sagte Violet.
„Ich schlage vor, du durchsuchst die Küche. Und ich schau im Wohnzimmer nach“, sagte Zack.
Die Küche durchsuchen – das klang einfach, doch das war es nicht. Denn sämtliche Schränke, Schubladen und Regale waren voll mit farbigen Töpfen, Tassen, Tellern und Schälchen, mit Obstkonserven und Gurkengläsern, Spaghettipackungen, Cornflakesschachteln, Marmeladengläsern, Honigtöpfen und fröhlich bedruckten Geschirrtüchern.
Auf dem Fensterbrett drängten sich Blumentöpfe mit Grünpflanzen neben Vasen voller Tulpen, Narzissen und Vergissmeinnicht.
Violet stöhnte leise. Tante Abigail hatte vermutlich in ihrem ganzen Leben noch nie einen Gegenstand weggeworfen, sie bewahrte einfach alles auf.
„Man weiß nie, wozu man die Sachen noch gebrauchen kann“, erklärte sie immer.
Normalerweise fand Violet das bunte Chaos in der kleinen Wohnung total gemütlich, aber heute verfluchte sie das Durcheinander. Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie sich sicher war, dass das Buch nicht in der Küche steckte.
Danach rannte sie zu Zack ins Wohnzimmer. Hier gab es noch mehr Krimskrams. Glücklicherweise hatte Zack das meiste schon durchsucht, es fehlte nur noch die Kommode neben dem geblümten Sofa. Leider war sie genauso voll wie der Küchenschrank. Im untersten Fach entdeckten sie die rosa-gelb-gestreifte Zitronenpresse, die Tante Abigail vor ein paar Tagen wie verrückt gesucht hatte.
Aber das Buch war nicht hier. Und auch in Tante Abigails Schlafzimmer und im Bad fanden sie es nicht.
„Das gibt’s doch nicht“, sagte Violet.
„Wenn wenigstens Lady Madonna hier wäre“, sagte Zack. „Sie könnte uns bestimmt helfen.“
Der Wellensittich wusste genau, dass Violet das Blumenbuch nicht nehmen durfte, solange ihre Ausbildung zur Blumenmagierin nicht abgeschlossen war. Aber Lady Madonna war nicht das hellste Licht unter den Vögeln. In der Vergangenheit hatte Violet es immer geschafft, sie reinzulegen und das Versteck aus ihr rauszukitzeln.
Heute war sie jedoch bereits in Bluestedt und Zack und Violet mussten auch dorthin, bevor das Spiel anfing.
„Dann versuchen wir’s halt ohne Buch.“ Zack trat ans Fenster und blickte auf den kleinen Hexengarten im Hinterhof. „Du kennst doch so viele Zauberpflanzen. Irgendwas wird dir schon einfallen.“
Zack hatte recht! Wozu lernte Violet denn die ganzen Pflanzennamen und Rezepte auswendig? Sie runzelte die Stirn und begann angestrengt nachzudenken. Doch statt einer Blume, die einen stark und schnell machte, tauchte plötzlich Jordan in ihrer Erinnerung auf. Sie sah seine schönen schokoladenbraunen Augen vor sich und hörte ihn sagen: „Ich finde dich total nett.“
Aber das war genauso gelogen wie das mit der einsamen Insel, das wusste Violet inzwischen. Und auf einmal hatte sie die Idee: Sie brauchte kein Mittel, um die Rivenhoe-Jungs stärker zu machen, sie brauchte etwas, um Jordan auszuschalten. So wie er Sunil, Finlay, Mr Campbell und Jack ausgeschaltet hatte.
In diesem Augenblick fiel ihr die Runzelige Glockenblume ein.
„Die Runzelige Glockenblume lässt einen einschlafen und sorgt für zauberhafte Träume“, hatte Tante Abigail erklärt. „Ein wunderbares Mittel und ganz ohne Nebenwirkungen.“
Eigentlich hätte Jordan durchaus ein paar Nebenwirkungen verdient, dachte Violet finster. Seit Mr Campbell, Sunil und Finlay den vergifteten Punsch getrunken hatten, hatten sie schließlich schreckliche Bauchschmerzen und mussten die ganze Zeit aufs Klo.
Doch es ging ja nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Wenn sie Jordan den Saft der Runzeligen Glockenblume verabreichten, würde er todmüde werden.
„Ein Schlafmittel?“, sagte Zack, als Violet ihm von der Runzeligen Glockenblume erzählte. „Das klingt gut. Das machen wir.“
Violet versuchte sich zu erinnern, wie man den Schlaftrunk herstellte. Man musste die Spitzen der Blütenblätter mit dem Mörser zerstampfen und dann mit ein paar Tropfen Öl der Schlummernden Schliere vermischen. Aber sie hatte leider keine Ahnung, wie viele Blätter man für wie viel Öl brauchte.
„Wo finden wir die Blume denn?“, fragte Zack. „Wächst sie schon im Garten?“
Violet nickte. „Die Runzelige Glockenblume ist ein Frühblüher. Und das Öl ist vermutlich irgendwo in der Küche. Oder im Wohnzimmer.“
„Vergiss es“, sagte Zack. „Wir haben keine Zeit mehr zum Suchen. Das Spiel fängt in einer halben Stunde an. Wir müssen die Blume einfach so mitnehmen.“
Violet nagte an ihrem Zeigefinger. „Aber ich weiß nicht, ob sie ohne das Öl überhaupt einschläfernd wirkt.“
„Wird schon klappen“, sagte Zack.
Zum Glück fand Violet die Runzelige Glockenblume auf Anhieb in Tante Abigails Hexengarten. Kaum dass sie den Garten betreten hatte, entdeckte sie die zarten Stängel mit den glockenförmigen blauen Blüten hinten am Zaun, zwischen Büscheln von Himmlischem Zimbelkraut und Tänzelnden Tulpen.
Behutsam pflückte Violet drei Glockenblumen. Der Zahnpastageruch war überwältigend, wieder hatte sie das Gefühl, dass er sie schwindlig machte.
Als sie den Garten gerade verlassen wollte, fiel ihr Blick auf die Schlummernde Schliere, deren kräftige Triebe um den niedrigen Holzzaun rankten. Kurz entschlossen brach sie auch davon ein paar Zweige ab.
Dann rannten sie und Zack zur Bushaltestelle vor der Kirche und hatten unglaubliches Glück, weil dort nämlich genau in diesem Moment der Bus nach Bluestedt hielt.
Violet hatte die Blumen in ein Taschentuch gewickelt und in vier Plastiktüten verpackt. Sie wollte schließlich verhindern, dass sie im Bus einschliefen und erst in London wieder aufwachten.
Dennoch war sie ein bisschen benebelt, als sie losfuhren. Gleichzeitig spürte sie auch eine große Zuversicht in sich aufsteigen.
„Alles wird gut“, murmelte sie.
„Ich weiß.“ Zack hatte ein seliges Lächeln auf den Lippen. „Ich hab das Gefühl, dass ich gleich abhebe und wegfliege“, sagte er. „Ob das an der Faltigen Klingelblume liegt?“
„Runzelige Glockenblume“, korrigierte ihn Violet. „Nein, ich glaube nicht. Die macht nur müde.“ Aber vorsichtshalber legte sie die Tüten mit den Blumen unter den Sitz. „Wie viel Zeit haben wir noch?“
Zack guckte auf die Uhr. „Noch zehn Minuten bis zum Anpfiff.“
„Das wird knapp.“
Sie rannten den ganzen Weg von der Bushaltestelle bis zum Sportplatz und als sie ankamen, liefen die Spieler gerade auf den Platz.
Die Zuschauer sprangen von den Bänken und jubelten und applaudierten. Obwohl es ein Heimspiel für die Blauen war, leuchtete alles in den Rivenhoe-Farben. Die Leute hatten sich Tante Abigails Blumensträußchen in die Knopflöcher gesteckt, viele hielten grün-pinke Banner und Plakate hoch oder schwenkten Rivenhoe-Fahnen. Das Blau der Bluestedt-Fans ging daneben total unter.
Die Zuschauerbänke waren proppenvoll, die Fans standen auch auf den Gängen und drängten sich am Spielfeldrand. Es dauerte eine Weile, bis Violet und Zack es endlich geschafft hatten, sich bis nach vorn durchzukämpfen.
Gerade hielt der Bürgermeister von Bluestedt eine kleine Begrüßungsrede. Links von ihm standen die Rivenhoe-Spieler und rechts die Blauen, ganz außen Jordan. Er war ein ziemliches Stück von Violet entfernt. Hoffentlich schaffte sie es, ihm den Zauberstrauß zuzuwerfen. Sie war im Weitwerfen nämlich eher erbärmlich.
Als sie die Blumen auswickelte, wallte ein wunderbares Glücksgefühl in ihr hoch. Es machte sie schwindlig. Vielleicht sollte sie den Strauß doch nicht wegwerfen, sondern lieber selbst behalten?
„Worauf wartest du?“, zischte Zack neben ihr. „Nichts wie weg mit dem Zeug!“
Violet riss sich zusammen. „Hey, Jordan!“, rief sie laut und holte weit aus, um die Zauberblumen zu ihm zu schleudern. Ihr Schrei gellte über den ganzen Sportplatz.
Viele Leute drehten sich empört zu ihr um, auch der Bürgermeister bedachte sie mit einem irritierten Blick.
Jordan hatte sie ebenfalls gehört und sah sie an. Seine schokoladenbraunen Augen verschmolzen mit Violets Blick. Ihr Herz machte einen wilden Satz, sie spürte einen Stich in ihrer Brust und ihre Finger ließen den Strauß los. Zu früh, viel zu früh!
Die Blumen flogen aufs Spielfeld, aber sie landeten nicht vor Jordan. Stattdessen plumpsten sie vor Olli ins Gras.
Einen Moment lang starrte er sie verblüfft an, dann bückte er sich und hob den Strauß auf.
„Nein!“, schrie Violet.
„Lass die Blumen liegen, Olli!“, brüllte Zack.
Aber nun hörte sie leider keiner mehr. Ihre Schreie verloren sich in dem lauten Applaus, der gerade aufbrandete. Der Bürgermeister hatte seine Ansprache beendet, er grüßte noch einmal in die Runde und verließ das Spielfeld.
Olli winkte Violet und Zack mit den Blumen fröhlich zu. „Danke, Violet!“
„Wirf sie weg!“, schrie Violet.
Olli reckte seinen Daumen in die Luft. Mit den Blumen in der Hand marschierte er auf sein Tor zu. Auf dem Weg hob er den Strauß zur Nase und schnupperte daran. Ein glückseliges Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus. Er sah aus wie ein sattes Baby kurz vor dem Einschlafen.
„Verflixter Scheibenkleister“, sagte Zack. „Das ist ja wohl die Megakatastrophe.“
„Zack und Violet!“ Trotz des Lärms im Stadion hörte Violet Tante Abigails Stimme klar und deutlich. Als sie sich umdrehte, sah sie sie in der zweiten Reihe sitzen, auf ihrer Schulter Lady Madonna, die vergnügt mit den Flügeln schlug. „Kommt zu mir. Hier sind noch zwei Plätze frei!“
Zack und Violet wechselten einen schnellen Blick. Ob Abigail gesehen hatte, dass sie den Strauß auf den Sportplatz geworfen hatten? Ohne ihre Erlaubnis durfte Violet die magischen Blumen nicht pflücken.
„Aber darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an“, murmelte Violet und machte sich auf den Weg.