Madonna macht das Spiel

Es war schrecklich. Nach dem Anpfiff sicherte sich Jordan sofort den Ball und rannte damit auf das Rivenhoe-Tor zu.

Olli machte keine Anstalten, den Angriff abzuwehren. Mit verschränkten Armen lehnte er am linken Torpfosten und lächelte versonnen.

„Pass auf, Olli!“ Jack, die neben Mr Campbell auf der Trainerbank saß, sprang auf und fuchtelte wild mit den Armen.

Mr Campbell sprang ebenfalls auf, er wollte etwas rufen, aber dann rannte er doch lieber aufs Klo.

„Ich kann gar nicht hinsehen!“, stöhnte Zack.

Violet ging es genauso, sie schlug die Hände vors Gesicht.

„Tooooor!“ Neben ihnen, hinter ihnen und vor ihnen sprangen die Bluestedt-Fans von den Bänken, rissen die Arme in die Luft und schrien vor Begeisterung.

„Olé, olé, olé, olé!“, piepste Lady Madonna, die sich wieder mal über jedes Tor freute, egal wer es geschossen hatte.

Aufgeregt flatterte sie ein Stück in die Luft. Tante Abigail saß dagegen wie versteinert auf der Bank.

„Was ist mit Olli los?“, fragte sie Violet, als sich das Gebrüll der Fans gelegt hatte.

„Ich … also …“

„Was sind das für Blumen?“ Tante Abigail starrte auf den Strauß, der zu Ollis Füßen im Gras lag.

„Runzelige Glockenblume, gemischt mit Schlummernder Schliere. Der Strauß war eigentlich für Jordan bestimmt …“ Violets Stimme versagte.

Tante Abigail öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ihr fehlten offensichtlich die Worte. Im Gegensatz zu Lady Madonna.

„Schalalala! Rivenhoe, oho, oho!“, flötete sie. „Dumpling vor, noch ein Tor!“

Dabei spielte Jack doch gar nicht mit.

„Wir haben das magische Buch nicht gefunden“, sagte Violet, als ob das eine Entschuldigung wäre. „Deshalb mussten wir uns ganz schnell was anderes einfallen lassen.“

„Das magische Buch ist hier.“ Tante Abigail deutete auf die Tasche zu ihren Füßen. „Ich hab es mitgenommen, weil ich schon ahnte, dass du irgendeinen Blödsinn vorhast.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie um alles in der Welt bist du denn auf die Idee mit der Runzeligen Glockenblume gekommen?“

„Ich dachte … es ist doch ein Schlafmittel …“

„Ja, wenn man die Blätter in Öl einlegt. Aber im frischen Zustand wirkt die Blume wie eine starke Glücksdroge. Und die Schliere verstärkt den Effekt noch.“

Auf den Rängen brandete erneut Jubel auf. Die Zuschauer, die sich gerade wieder hingesetzt hatten, sprangen auf.

Jordan war kurz davor, sein zweites Tor zu schießen.

„Jetzt reicht’s!“, murmelte Tante Abigail.

Sie zog das Tuch von dem Korb, den sie auf dem Schoß hielt. Violet sah etwas Honigfarbenes, Pelziges heraushüpfen und unter den Zuschauerbänken verschwinden.

„Lord Nelson?“, fragte Zack, aber er bekam keine Antwort, jedenfalls nicht von Tante Abigail.

„Allez, allez, Rivenhoe juchhe!“, jubelte Lady Madonna. Dann verstummte sie erschrocken, weil Tante Abigail sie gepackt hatte und nun dicht vor ihr Gesicht hielt.

„Schluss mit dem Gezwitscher!“, hörte Violet sie raunen. „Du weißt, was zu tun ist.“

„Olé, olé, ok!“, zwitscherte Madonna. Dann war auch sie verschwunden.

„Was hast du vor?“, fragte Violet.

Tante Abigails Blick war auf das Spielfeld gerichtet. Ihre Miene war undurchdringlich.

Auf dem Rasen setzte Jordan zum Schuss aufs Tor an. Er holte aus und wollte gegen den Ball treten, doch der war auf einmal weg. Aber kein Rivenhoe-Spieler hatte ihn ihm abgejagt, sondern ein honigfarbener Kater, der den Fußball mit dem Kopf in Richtung Bluestedt-Tor beförderte.

Jordan war so verblüfft, dass er ins Schwanken geriet und umfiel. Das Publikum schrie vor Vergnügen.

Der Schiedsrichter blies lautstark in seine Pfeife.

Lord Nelson ließ den Ball liegen, gähnte und verschwand in der Zuschauermenge.

„Das ist gegen die Regeln!“, brüllte der Trainer der Blauen. „Katzen dürfen nicht mitspielen. Ich fordere einen Elfmeter.“

Der Schiedsrichter kratzte sich am Kopf.

„Jeder Verein ist für die Pflege seines Platzes zuständig!“, schrie Mr Campbell. Er war von der Toilette zurück und stand in gekrümmter Haltung am Spielfeldrand. In der erhobenen Rechten hielt er ein dickes Buch. „Das steht im Regelwerk des Fußballs, Paragraf 19 b, Abschnitt 23. Wenn ihr Blauen Katzen aufs Feld lasst, ist das allein euer Problem.“

„Unsinn! Elfmeter! Ich fordere einen Elfmeter!“, schrie der Trainer der Blauen mit sich überschlagender Stimme.

Der Schiedsrichter schüttelte den Kopf und zückte die gelbe Karte. „Hiermit verwarne ich die Katze“, erklärte er.

Dann blies er wieder in seine Trillerpfeife und das Spiel ging weiter.

Der Zwischenfall hatte dem Rivenhoe-Team neuen Mut gegeben. Sie bedrängten die Blauen von allen Seiten und gaben Jordan keine Chance mehr, zum Tor vorzudringen. Allerdings waren sie so mit der Verteidigung beschäftigt, dass sie nicht dazu kamen, einen Gegenangriff zu starten.

„Wir brauchen endlich ein Tor“, jammerte Zack.

Violet seufzte. „Oder besser zwei.“

„Wir brauchen vor allem einen Torwart“, sagte Tante Abigail.

Leider war Olli ein Totalausfall. Er hockte inzwischen am Torpfosten, pflückte Gänseblümchen und träumte vor sich hin.

Die Rivenhoe-Fans taten alles, um ihn aufzuwecken. Sie lärmten und klatschten und brüllten und jubelten. Tante June blies in eine grün-pinke Tröte, neben ihr schwenkte Mrs Dumpling eine Rivenhoe-Fahne. Jack tobte und schrie auf der Trainerbank. Aber es war umsonst, Olli war weit, weit weg.

Die erste Halbzeit endete wie durch ein Wunder ohne ein weiteres Tor für die Blauen.

„Puh.“ Zack ließ sich neben Tante Abigail auf die Bank fallen. „Hoffentlich schaffen sie es, Olli in der Pause aufzuwecken.“

„Das bezweifle ich.“ Tante Abigail runzelte die Stirn. „Wie viele Glockenblumen waren in dem Strauß?“

„Nur drei“, sagte Violet.

„Drei Stück?“ Tante Violet riss die Augen auf. „Eine Runzelige Glockenblume reicht, um einen Ochsen auszuschalten. Der arme Olli.“

„Gibt es denn kein Gegenmittel?“, fragte Zack zerknirscht.

„Ein eiskalter Aufguss aus Knallendem Koriander wäre jetzt das Richtige. Aber den müsste ich erst zubereiten …“

„Das dauert viel zu lange“, sagte Violet.

„Oder eine Ohrfeige“, murmelte Tante Abigail.

„Was?“, fragten Zack und Violet gleichzeitig.

Tante Abigail zuckte mit den Schultern. „Das kommt natürlich nicht infrage. Wir können den armen Jungen nicht auch noch schlagen.“

„Natürlich können wir das!“ Zack sprang auf. „Olli würde sich selbst eine reinhauen, wenn er nicht zu benebelt dazu wäre. Ich lauf sofort zur Kabine und geb Jack Bescheid. Sie muss ihm die Ohrfeige verpassen.“

„Ich komm mit.“ Violet flitzte hinter ihm her.

Vor der Tür zu den Umkleideräumen stand ein breitschultriger Ordner mit tätowierten Unterarmen und ließ keinen durch.

„Die Spieler brauchen ihre Ruhe“, erklärte er finster.

„Aber meine Schwester ist da drin!“, rief Zack verzweifelt. „Ich muss ihr was sagen. Es ist dringend!“

„Wie heißt deine Schwester denn?“

„Jack Dumpling.“

„Spinnst du?“ Der Mann lachte ungläubig. „Jack Dumpling ist ein Junge, das weiß doch wirklich jeder. Außerdem spielt er heute gar nicht mit.“

„Sie ist aber da drin!“

Zack und Violet redeten beide auf ihn ein, sie flehten und bettelten und jammerten, aber es war umsonst. Schließlich ertönte der Gong zur zweiten Halbzeit und die beiden Mannschaften liefen zurück aufs Spielfeld.

Olli verließ die Kabine als Letzter. Ein Blick in sein Gesicht zeigte ihnen, dass niemand auf die Idee gekommen war, ihn zu ohrfeigen. Er hatte immer noch dieses dämliche Grinsen auf den Lippen und seine Augen glänzten glasig.

Neben ihm lief Jack und schüttelte ihn am Arm und knuffte ihn gegen die Schulter und redete auf ihn ein, ohne dass er sie zur Kenntnis nahm. Sie sah so fertig aus, als hätte sie fünf Fußballspiele hinter sich.

„Jack!“ Zack schrie und winkte, aber sie hörte ihn nicht. Es war ohnehin zu spät, sie musste jetzt runter vom Platz.

Ein Pfiff gellte über das Feld. Das Spiel ging weiter.

Die zweite Halbzeit begann, wie die erste geendet hatte. Olli setzte sich in sein Tor und träumte. Hin und wieder kicherte er albern. Die Rivenhoe-Spieler mauerten, damit die Blauen nicht noch ein Tor schossen. Meistens hatte Jordan den Ball.

Doch dann schaffte es Liam, ihm die Kugel abzujagen. Er flitzte in Richtung gegnerisches Tor, bis ihm ein blauer Verteidiger den Weg verstellte. Liam flankte nach links zu Riley, Riley gab an Jonathan ab, und der verlor den Ball wieder an Jordan.

Olli bekam von alledem nichts mit. Er hatte damit begonnen, sich eine Kette aus Gänseblümchen zu basteln. Dabei war Jordan nur noch ein paar Meter von ihm entfernt. Jetzt setzte er zum Schuss an.

„OOOOOOLLLLLIIIII!“, schrien die Rivenhoe-Fans.

Violet wollte gerade mit einstimmen, als sie Lady Madonna sah. Der Wellensittich schoss durch die Luft wie eine türkisfarbene Pistolenkugel, direkt auf Olli zu. Jetzt knallte sie ungebremst gegen seine Brust. Aua!

Olli fuhr zusammen, ließ seine Gänseblümchenkette fallen und sprang auf.

Im selben Moment schoss Jordan. Der Ball flog zwischen zwei Rivenhoe-Verteidigern durch, prallte gegen Ollis Stirn und von dort zurück in den Strafraum.

Olli schüttelte sich. Einmal. Zweimal.

Dann riss er die Augen auf, straffte seine Schultern und blickte sich irritiert um.

„Der Ball hat ihm eine Ohrfeige verpasst“, sagte Violet.

„Wohl eher eine Kopfnuss“, meinte Zack. „Aber Hauptsache, er ist wach.“

„Lady Madonna hat uns gerettet!“, jubelte Violet.

Jordan startete schon wieder einen Angriff, aber jetzt war Olli auf Zack. Er pflückte den Ball aus der Luft, als wäre es eine Seifenblase, und legte ihn vor sich, um ihn abzuspielen.

Der Torwart der Blauen war während des gesamten Spiels noch nicht zum Einsatz gekommen, weil sich alle Spieler ja immer nur vor dem Rivenhoe-Tor knubbelten. Er bohrte gerade hingebungsvoll in der Nase und dachte voller Vorfreude an die Schokotorte, die es bei der Siegesfeier geben würde. Köstlich.

Das Letzte, womit er rechnete, war ein Gegenangriff. Aber der kam jetzt, und wie!

Olli trat mit einer solchen Wucht gegen den Ball, dass er über die Köpfe sämtlicher Spieler hinwegflog, über das gesamte Spielfeld, an dem verdutzten blauen Torwart vorbei ins gegnerische Tor.

Einen Moment lang herrschte Totenstille auf dem Sportplatz, dann brach ein unbeschreiblicher Jubel aus.

„Eins zu eins!“ Die Rivenhoe-Fans lagen sich in den Armen, tanzten und weinten vor Glück.

Tante June blies aus Leibeskräften in ihre Tröte, Mrs Dumpling fegte mit ihrer Fahne einen Bluestedt-Fan von der Bank. Und Lady Madonna machte einen Salto in der Luft.

„Rivenhoe, weiter so!“, jubelten Violet und Zack.

Olli war wieder wach, der Torwart der Blauen auch, die Mannschaften hatten noch eine Viertelstunde zu spielen. Und beide Teams kämpften jetzt wie besessen um den Sieg.

Das Klima wurde immer rauer. Viermal musste der Schiedsrichter abpfeifen, zwei Bluestedt-Spieler bekamen eine Verwarnung, zwei die gelbe Karte. Wenn Jack auf dem Feld gewesen wäre, hätte Rivenhoe das Spiel im Handumdrehen gewonnen, aber sie stand ja leider am Rand und schrie sich die Kehle aus dem Leib.

Liam gab sein Bestes, um sie zu ersetzen. Jetzt jagte er Jordan schon wieder den Ball ab und raste damit auf den Torwart der Blauen zu, der erwartungsvoll in die Hocke ging.

Jordan stürzte Liam hinterher, dabei rempelte er zwei Rivenhoe-Spieler um, die ihm im Weg standen.

„Warum pfeift der Schiedsrichter nicht ab?“, fragte Zack. „Der foult in einer Tour.“

Aber bevor Violet antworten konnte, heulte direkt hinter dem Schiedsrichter eine Vuvuzela auf. Er fuhr erschrocken herum und einer der Blauen ergriff blitzschnell die Gelegenheit und stellte Liam ein Bein. Jordan übernahm den Ball.

„Foul!“, brüllten Violet und Zack und der Rest der Rivenhoe-Fans, doch der Schiedsrichter hörte sie nicht, er hielt sich nämlich die Ohren zu. Die Vuvuzela war so laut!

Dafür griff Lady Madonna ein. Sie flog auf Jordan zu und flatterte in einem engen Bogen um seinen Kopf herum. Jordan schrie auf und fuchtelte mit den Armen, um sie abzuwehren. Er erwischte sie nicht, Lady Madonna war viel zu klein und schnell für ihn, aber stattdessen haute er Liam um, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte.

Diesmal hatte der Schiedsrichter nicht weggeguckt. Seine Pfeife gellte auf.

„Das wollte ich nicht!“, schrie Jordan. „Ehrlich nicht.“ Er streckte Liam die Hand hin und zog ihn wieder auf die Beine.

„Das war keine Absicht“, schrie auch der Trainer der Blauen. „Da war ein Vogel auf dem Spielfeld!“

„Na und?“, brüllte Mr Campbell und wedelte dabei wieder mit dem Fußballhandbuch. „Vögel sind höhere Gewalt, dagegen kann man nichts machen. Paragraph 7 a, Abschnitt 4.“

„Der Vogel war abgerichtet!“, rief der blaue Trainer. „Schiebung! Betrug!“

„Ruhe!“, schrie der Schiedsrichter. „Und zwar sofort. Der Vogel bekommt die rote Karte. Und Rivenhoe kriegt einen Elfmeter!“

Olli führte den Strafstoß aus und beförderte den Ball mit einem präzisen Tritt in die linke obere Ecke des Tores.

„Zwei zu eins für uns!“

Überglücklich fiel Violet Zack um den Hals, Tante June umarmte Onkel Nick, Mr Dumpling umarmte Mrs Dumpling und Tante Abigail umarmte einen Bluestedt-Fan, der nicht wusste, wie ihm geschah.

Nur Mr Campbell umarmte keiner, er war nämlich gerade wieder auf dem Klo.

Das Stadion raste.

Jack schlug vor lauter Freude einen Salto.

Danach pfiff der Schiedsrichter endgültig ab.

Rivenhoe hatte das Turnier gewonnen!