15. Juni, 01:04 Uhr
Zwei schwarz gekleidete Männer nutzten die Stunden der Dunkelheit, um den in Kautschuk gehüllten Sprengstoff am Deich anzubringen. Der im Westen der Hallig Südfall gelegene grasbewachsene Damm bewahrte die kleine Insel und die weiter östlich gelegene Halbinsel Nordstrand vor den Sturmfluten der Nordsee.
Die Nacht vom 15. auf den 16. Juni war sternenklar und ruhig. Das Nordfriesische Meer lag beinahe unbewegt vor ihnen, die Sterne blinkten vom nachtschwarzen Himmel.
Als eine Sternschnuppe ihre senkrechte Bahn zur Meeresoberfläche zog, überlegte einer der Männer, was er sich wünschen sollte, doch fiel ihm nichts ein. Die neun Päckchen Ammongelit würden alle Probleme mit einem Paukenschlag lösen und Geld, sehr viel Geld, bringen.
Sein Gefährte reichte ihm ein elektronisches Gerät, von dessen Display grün die verbleibenden Minuten bis zum Zeitpunkt der Explosion am 24. Juni um null Uhr leuchteten: 12.896. Er verband die Kabel mit dem Zeitzünder und hüllte diesen in wasserdichtes Material.
Die beiden Männer nutzten den hohen Wasserstand der Flut, um mit ihrem Schiff zurück nach Husum zu fahren. Die Falle war gestellt. Nun hieß es, geduldig auf die Menschen zu warten, die der Flutwelle zum Opfer fallen würden, einer Sintflut, wie damals, im Jahr 1362, als die Stadt Rungholt in den Tiefen der Nordsee verschwand.
Ein etwa 50-jähriger Mann, der über der schwarzen Hose einen dezent gestreiften Frackrock trug, lehnte an einem dunkelblauen Maybach Guard und beobachtete die Landung des Learjets.
Zwei Männer transportierten an die zwanzig Koffer und Taschen zu einem Gepäckwagen. Endlich erschien eine, mit einer verspiegelten Brille gegen das Sonnenlicht geschützte Dame an der Kabinentür. Das zitronengelbe Kostüm der 71-Jährigen betonte geschickt die noch immer attraktiven Rundungen. Die vollen, dunkelrot geschminkten Lippen Lady Amanda Marbelys lächelten, als sie ihre Luxuskarosse im Licht der Sommersonne glänzen sah. Oder galt dieses Lächeln ihrem Butler James, den sie nach Monaten erstmals wieder auf dessen Heimatboden, in Deutschland, treffen würde, zu einem Abenteuer, das sich vermutlich noch aufregender und gefährlicher gestalten würde als das gemeinsame Unternehmen im Siegerland, das die beiden trotz heftigen Widerstands auf Seiten der Gegner siegreich bestanden hatten?
Nun hob die Lady die rechte behandschuhte Hand und winkte dem Butler, der sich angesichts der Lady so tief verbeugte, dass sein Rücken knackte. Oder war das der Hosenträger, der nicht richtig eingerastet war?
James, wie ihn die Lady nannte, musste sich erst wieder an seine Rolle als englischer Butler gewöhnen. Immerhin war er Agent des SSI, hieß in Wahrheit Curd von Cornelius und war Deutscher, nicht Engländer. Er war verantwortlich für das Leben und Wohlergehen der millionenschweren Engländerin, die er einerseits als Agent von Special Service International gegen Angriffe zu schützen, andererseits als perfekter Butler zu umsorgen hatte. Eine an sich reizvolle Aufgabe, die James allerdings schon mehrmals in große Bedrängnis gebracht hatte.
„James, wie geht es Ihnen? Schön, Sie zu sehen“, begrüßte Lady Marbely ihren Butler mit einem festen Händedruck.
„Blendend, Milady, seit Sie gelandet sind. Wie steht es mit dem werten Befinden?“
„Aber James! Wir sind doch nicht im Mittelalter! Was für eine Ausdrucksweise!“, sagte die Lady lachend, nahm die Sonnenbrille ab und ließ ihre hellblauen Augen abenteuerlustig blitzen. „Ich bin in guter Form und freue mich auf ein kühles Gin-Tonic von der Bar des Maybach. Sie haben doch vorgesorgt?“
„Selbstredend. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen.“
„Stoßen Sie mit mir an, auf ein hoffentlich erfolgreiches Unternehmen hier im Norden Ihres Landes.“
„Sehr gern, Milady. Mit einem Glas Tonic. Auf den Gin muss ich verzichten, wenn ich im Dienst bin.“
„Soso“, meinte die Lady und spitzte ihre roten Lippen. „Etwas Gin wäre schon möglich bei null Komma acht Promille.“
„Das, Milady, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ist die Regelung in Ihrem geschätzten Land. Hier in Deutschland sieht man das etwas enger.“
„Wie eng?“
„Null Komma fünf Promille.“
„Oh. Ich muss mich erst wieder an die veränderten Verhältnisse gewöhnen, und Sie werden mir dabei behilflich sein, James.“
„Sehr wohl Milady“, erwiderte der Butler und reichte Lady Amanda Marbely ein Glas mit gleich viel Gin und Tonic, in dem ein Eiswürfel sowie der Abrieb einer Limettenschale schwammen.
„Ah, köstlich“, seufzte die Lady. „So fangen wohl alle großen Abenteuer an.“
Lady Marbely genoss die Fahrt vom Flughafen der schleswig-holsteinischen Stadt Husum zur fünfundzwanzig Kilometer entfernten Halbinsel Nordstrand, die sie über einen Damm erreichten.
Auf Vorschlag des Butlers würden sie den Rest des Tages und die Nacht im Gasthof Kiefkhuck verbringen, bevor sie am nächsten Tag ihr eigentliches Ziel, die Hallig Südfall, ansteuerten.
Das schmucke einstöckige Gebäude am Seedeich sagte der Lady zu, der Butler transportierte auf deren Geheiß drei Koffer in ein geräumiges Zimmer mit Blick auf den Damm, als ihn die Lady bat, innezuhalten. „Ich bin gewiss nicht anspruchsvoll, was Unterkünfte betrifft, aber das … das ist wirklich völlig unakzeptabel.“
„Sehr wohl, Milady. Ihnen gefällt die Einrichtung des Zimmers nicht?“, fragte der Koffer schleppende Butler.
„Das Zimmer ist sauber und nett“, präzisierte die Lady. „Das ist nicht das Problem.“
„Sondern?“
„Das Geräusch. Hier läuft irgendeine Maschine. Hören Sie doch! Das klingt wie ein Helikopter, der startet …“
„Ich kann nichts hören.“
„… oder landet. So hören Sie doch, James!“
Nun vernahm auch der Butler eine Art bohrendes Geräusch und eilte nach unten, zur Rezeption, um die Belästigung abzustellen. Dort bemühte man sich, dem Grund der Beschwerde nachzugehen, konnte jedoch die Wurzel des Übels weder lokalisieren noch beseitigen.
Also trug der Butler die voluminösen Koffer zurück zum Maybach und steuerte das besonders ruhig gelegene Hotel England an.
Dort wiederholte sich die Misere. Kaum waren Lady Marbely und die drei Koffer im Zimmer, störte erneut ein scharrendes Geräusch die Ruhe der Dame.
Nun fuhr der Butler zum komfortablen Landhaus Trendermarsch und bat die Lady, bevor er die Koffer die enge Treppe nach oben transportierte, das Zimmer zu begutachten.
Die Lady war zufrieden. Himmlische Ruhe erfüllte die Räumlichkeiten.
Bis … ja, bis die Koffer oben waren.
„James!“, rief die Lady. „So leid es mir tut. Auch hier ist dieses Brummen und Surren und Klappern zu vernehmen. Es ist wie verhext.“
Verhext, dachte der Butler und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, dann wandte er sich mit einem etwas gequälten Lächeln an die Lady. „Sie gestatten, dass ich Ihre Koffer öffne.“
„Ich bleibe hier keinen Augenblick, wenn es so laut ist“, protestierte die Lady. „Das ist absolut und völlig unakzeptabel. Ich weiß nicht …“
Der Butler, der inzwischen beim zweiten Koffer angekommen war, entnahm ihm ein Necessaire, in dem sich die wichtigsten Hygieneartikel befanden, darunter eine elektrische Zahnbürste, von der das ominöse Geräusch ausging. Sein englischer Kollege hatte sie entweder nicht abgeschaltet, oder das Ding hatte sich selbstständig gemacht. Jedenfalls genügte ein Knopfdruck, um die ersehnte Ruhe herzustellen.
„Ich bin zutiefst beschämt, James“, meldete sich die Lady zu Wort und schüttelte ihre Locken, die in ihrem sanften Grau noch immer die ursprüngliche Farbe, ein helles Rot, erahnen ließen.
„Die Hauptsache ist, dass das Problem gelöst werden konnte.“
„Dank Ihrem detektivischen Spürsinn. Sie wollen nach diesem Vorfall vermutlich nicht mehr für mich arbeiten?“
„Was soll, wenn Milady mir diese vorlaute Bemerkung erlauben, jetzt noch schiefgehen?“
Die Lady war geradezu begeistert vom Gästehaus, einem schmucken, schilfgedeckten Ziegelbau in einem üppig blühenden Garten. Es erinnerte sie an ihre Heimat Südengland mit ihren Gartenparadiesen und stilvollen alten Gebäuden.
Als James mit dem Auspacken der Koffer beschäftigt war, verkündete die Lady in melodiösem Singsang, dass sie sich etwas in der Gegend umsehen, vor allem zum Meer wandern wolle, das sie schon vom Flugzeug aus bewundert habe.
„Vom Strand können Sie einen Blick auf Ihren Besitz, auf die Hallig Südfall, werfen, Milady. Eine kleine Insel, westlich von Nordstrand gelegen, mit Gutsgebäuden.“
Die Lady bedankte sich für den Hinweis und machte sich auf den Weg zum Nordfriesischen Wattenmeer.
Beim Abendessen, das aus gegrilltem Salzwiesenlamm mit Petersilienkartoffeln bestand, berichtete Lady Marbely stolz von ihrer Exkursion zum Strand und dass sie einen Kutscher engagiert habe, der sie am nächsten Vormittag bei Ebbe mit seinem von zwei Schimmeln gezogenen Fuhrwerk nach Südfall bringen würde.
„Das heißt“, präzisierte der Butler, „dass wir früh am Morgen aufbrechen werden, Milady. Die Ebbe erreicht um 8 Uhr 41 ihren niedrigsten Punkt. Danach steigt der Meeresspiegel.“
„Sie haben sich mit den Gezeiten auseinandergesetzt, James?“, fragte Lady Marbely und ließ genussvoll eine der süßen Makronen, die zum Dessert serviert wurden, im Mund verschwinden.
Der Butler nickte und wechselte das Thema. „Dann begutachten wir also weiter Miladys Erbe?“
Lady Marbely nickte und schob ein noch ein kreisrundes Plätzchen in den Mund. „Erben macht Spaß. Wie es aussieht, habe ich damit bis an mein Lebensende zu tun, James.“
„Das klingt vielversprechend“, erwiderte der Butler, „und betrifft eine sehr lange Zeit. Sie haben also, wenn ich das richtig sehe, die Hallig Südfall von einer Bekannten Ihres Vaters geerbt.“
„Von Gräfin Veronika von Wilfert-Langenhart", bestätigte die Lady.“
„Und Sie sind dabei, eine Gruppe von Archäologen finanziell zu unterstützen?“
„Um nach der im 14. Jahrhundert versunkenen Stadt Rungholt zu suchen.“
„Weil?“
„Sie fragen nach dem Grund meiner Wohltätigkeit?“
„Wenn Sie erlauben, Milady.“
„Ein Rat meines Rechtsanwalts. Man kann die Erbschaftssteuer erheblich mindern, auch in Teilen, wenn man …“
„Und zwar um sechzig Prozent, wenn die Erhaltung der Erbmasse wegen ihrer Bedeutung für Kunst, Geschichte oder Wissenschaft im öffentlichen Interesse liegt, die jährlichen Kosten in der Regel die erzielten Einnahmen übersteigen und die Gegenstände in einem den Verhältnissen entsprechenden Umfang den Zwecken der Forschung oder der Volksbildung nutzbar gemacht sind oder werden.“
„Sie haben sich mit der Materie beschäftigt. Was für ein gebildeter Mensch Sie doch sind! Ja, genau so lautete der Vorschlag meines Rechtsanwaltes. Daraufhin beauftragte ich den Archäologen Professor Mortimer Hull mit der Suche nach Rungholt, das sich in der Nähe der Hallig Südfall befunden haben soll. Und damit begannen die Probleme.“
„Das heißt, jemand wollte die Entdeckung Rungholts gewaltsam verhindern“, stellte der Butler fest.
„So ist es. Professor Hull verständigte mich, dass zwei seiner Taucher und ein Archäologe spurlos verschwunden sind. Er vermutet einen Anschlag auf seine Mannschaft und hat die Expedition gestoppt. Und nun ist es unsere Aufgabe, James, nach dem Echten zu sehen. Was ist? Sie schauen schon wieder so unglücklich. Habe ich ein falsches Wort gewählt?“
„Keineswegs. Milady wählen immer die treffendsten Worte. Ich überlege gerade, dass es wichtig wäre, mit Professor Hull zu sprechen und die genaueren Umstände des Verschwindens seiner Männer zu klären.“
„Professor Hull hält sich noch in Nordfriesland auf. Wir werden Gelegenheit haben, uns mit ihm zu unterhalten, sobald wir von hier nach Südfall übersiedelt sind.“
„Es gefällt Ihnen nicht im Haus Trendermarsch?“
„Doch. Ein wunderbares Quartier. Aber ich möchte die Insel Südfall mit allen Sinnen kennenlernen. Und das ist nur möglich, wenn wir dort leben.“
„Das Haus ist nach dem Tod der Gräfin längere Zeit nicht bewohnt worden“, wandte der Butler ein.
Milady hob die Augenbrauen. „Ein Grund mehr, es wieder bewohnbar zu machen. Wie ich merke, sind Sie wieder bereits bestens informiert.“
„Das ist sozusagen ... mein Job“, antwortete der Butler artig.
„Darauf haben wir uns einen krönenden Abschluss des heutigen Abends verdient“, stellte Lady Marbely fest und erkundigte sich bei der Kellnerin nach einem typisch nordfriesischen Getränk.
Die adrett gekleidete, junge Frau erwähnte Begriffe wie Grog, Teepunsch, Pharisäer und Tote Tante. Man einigte sich auf den Punsch, der aus Tee und Köm bestand, sehr viel Kümmelbranntwein, wie sich letztlich herausstellte.
Als Lady Marbely sah, wie sich nach dem ersten Schluck erneut das Gesicht des Butlers schmerzhaft verzog, fragte sie: „Welches Sprichwort habe ich denn jetzt malträtiert? Sie wirken schon wieder so gequält, James.“
„Ich muss mich entschuldigen. Ein Problem mit einem Zahn.“
„Weil Sie keine elektrische Zahnbürste benutzen. Sie sollten das tun!“
„Ich werde Ihren Rat zukünftig beherzigen, Milady.“
„Außerdem sollten Sie dringend einen Zahnarzt aufsuchen.“
Der Butler spitze den Mund und nickte tapfer.
16. Juni, noch 11.000 Minuten bis zum Bruch des Deichs Lady Marbely klagte über Kopfschmerzen, als sie, gemeinsam mit ihrem Butler, gegen 8 Uhr 40 auf das offene Fuhrwerk kletterte, das von zwei weißen Pferden zuerst durch die Straßen der Gemeinde Nordstrand und dann über das Watt gezogen wurde.
Thies Godbersen, der Kutscher, bemühte sich bei seinen Erklärungen um verständliches Deutsch. Nur wenige Bemerkungen machte der Mann auf Plattdeutsch, für Milady ein völlig unverständliches Idiom. Als die Lady diesen unverständlichen Singsang vernahm, vergaß sie die schmerzlichen Nachwirkungen des abendlichen Punsches und fragte den etwa 40-Jährigen, was seine Worte bedeuteten.
Herr Godbersen entschuldigte sich und übersetzte seine Worte ins Hochdeutsche, aber die Lady bat ihn um weitere Beispiele der örtlichen Mundart, da setzte der Mann zu einer in Plattdeutsch gehaltenen Erklärung, das Plattdeutsche betreffend, an: „Plattdüütsch is de Spraak vun de noorden Delen vun Düütschland n en ganze Reeg annere Regionen op de Welt, woneem Lüüd ut de vörnannten Rebeden siedelt hebbt. To disse Öörd höört de USA, Kanada, Russland, Mexiko, Brasilien un welk annere Länner in Süüdamerika un annerwegens.“
„Aaaah-ja! Das ist aber interessant!“, fand die Lady, während der Traktoranhänger mit seinen Gummireifen schmatzend über den matschigen Untergrund Richtung Westen, zur Hallig Südfall, fuhr.
Die Sonne im Rücken, konnten Lady Marbely und der Butler die flache Gegend betrachten, ohne geblendet zu werden. Und was sie sahen, gefiel ihnen, ja begeisterte sie geradezu. Schwärme von kreischenden Vögeln begleiteten die Fahrt. Thies Godbersen bezeichnete sie als Austernfischer. Es handelte sich dabei um schwarz-weiß gefleckte Tiere mit orangeroten Schnäbeln, Augen und Beinen.
„Und diese Feinschmecker ernähren sich tatsächlich von Austern?“, erkundigte sich die Lady.
Der Kutscher bestätigte das, schränkte jedoch ein: „Sie begnügen sich auch mit Miesmuscheln, ja sogar mit Schnecken und Regenwürmern.“
„Und sie haben außerordentlich kräftige Stimmen“, rief die Lady nach vorne, um das Geschrei der Vögel zu übertönen.
„Sie benutzen ihre Stimmen sogar zum Aufspüren der Nahrung im Wattboden, durch das sogenannte Wurmgrunzen.“
„Was Sie nicht sagen!“ Lady Marbely reagierte auf diese Offenbarung des Kutschers begeistert. „Und welche Vögel sind das?“, fragte sie angesichts eines Schwarmes weiß-grauer Tiere, die senkrecht ins Wasser tauchten und dann wieder in die Luft sprangen, wobei sie ihre schrillen Stimmen erschallen ließen. Der Lärm steigerte sich, als einer dieser Vögel einen Fisch erbeutet hatte und von den anderen gierig verfolgt wurde.
„Wir nennen sie Seeschwalben, wegen des gegabelten Schwanzes“, erklärte der Kutscher.
Lady Marbely sog tief die noch kühle Vormittagsluft in ihre Lungen und genoss den würzigen Duft der blühenden Gräser der Salzwiesen sowie den Salz- und Jodgeschmack auf ihren, an diesem Morgen noch ungeschminkten Lippen.
„Dort, Seehunde!“, sprach der Butler seine ersten Worte, seit sie das Pferdefuhrwerk bestiegen hatten.
Tatsächlich sonnte sich eine Herde von Robben auf einer der Sandbänke.
Der Kutscher reichte der Lady ein Fernglas, mit dem sie die dunkelgrauen, gefleckten Robben betrachten konnte. Lange beobachtete sie die ruhenden Tiere, bis sie das Gerät an den Butler weiterreichte, der es schließlich auf die Insel im Westen richtete, auf die Hallig Südfall, die mit den Gutsgebäuden einige Meter über dem Wattboden lag. Weiter in der Ferne war der Deich, der diese Gegend vor den Fluten der Nordsee schützte, als lang gezogener, dunkler Strich unter dem Horizont zu erkennen.
„Und in dieser Gegend vermutet man die versunkene Stadt Rungholt“, wandte sich die Lady an den blonden Kutscher, den ein breiter, dichter Schnurrbart schmückte.
Thies Godbersen bestätigte dies und begann in singendem Ton ein Gedicht des Kieler Schriftstellers Detlev von Liliencron vorzutragen:
„Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.“
„Ein Ungeheuer. Das Rungholt-Ungeheuer!“, rief Lady Marbely begeistert. „Ich hoffe, wir sehen es. James, wir müssen es jagen, dieses Unding, zur Strecke bringen und …“
„Sehr wohl, Milady“, meinte dieser und wies darauf hin, dass mit diesem Ungeheuer wohl die unberechenbaren Stürme der Nordsee gemeint sein müssten, tsunamiartige Orkane, die Land und Menschen bedrohten.
„Mehr, erzählen Sie mehr, Herr Godbersen!“, unterbrach die Lady den Butler, und der Kutscher, der das Pferdefuhrwerk angehalten hatte, setzte seinen Bericht fort, indem er eine Sage erwähnte, die den Untergang der immens reichen Stadt Rungholt im 14. Jahrhundert auf eine schwere Sünde der Bewohner gegen Gott und die heiligen Sakramente zurückführte.
„Also eine Art Sintflut, der nur einige wenige Gerechte entkamen“, stellte der Butler fest.
Der Kutscher nickte, schnäuzte sich und reinigte Nase und Schnurrbart mit einem überdimensionierten Stofftuch. Dann verwies er auf die nun deutlich erkennbare Insel Südfall und erwähnte, dass die Hallig seit dem Tod der Gräfin, also seit Ende letzten Jahres, unbewohnt war. „Meine Frau und ich könnten bei der Reinigung und Renovierung der Gebäude behilflich sein.“
Lady Marbely nahm das Angebot dankend an und erkundigte sich, wann die beiden ihre Tätigkeit aufnehmen wollten.
„Morgen Vormittag. Ich werde noch mit Mareen sprechen, kann Ihnen aber versichern, dass auch sie gerne für Sie arbeiten wird, Milady.“
„Sie kennen die Insel und die Gebäude?“, fragte die Lady den Kutscher.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Weder Mareen noch ich haben die Hallig je betreten. Die alte Gräfin wollte in Ruhe gelassen werden.“
Lady Marbely betrachtete interessiert die grasbewachsene kleine Insel, die nun immer näher kam. Ihr gefielen die einstöckigen, ziegelroten Gutsgebäude, die mit dunklen Reetdächern gedeckt waren.
„Gibt es eine Kirche auf Südfall?“, fragte die Lady.
„Meines Wissens nicht“, erwiderte der Kutscher.
„Merkwürdig.“
„Was finden Milady daran bemerkenswert?“, fragte der Butler nach.
„Ja, hören Sie das Läuten nicht, James? Eindeutig eine Kirchenglocke. Und da der Wind von Westen weht, kann das Geläute unmöglich von Husum oder Nordstrand ausgehen.“
„Es heißt“, erklärte Thies Godbersen mit gesenkter Stimme, „dass man bei ruhigem Wetter wie heute die Glocken von Rungholt hören kann.“
„Die Glocken von Rungholt …“, wiederholte die Lady ehrfurchtsvoll.
Als Lady Marbely schließlich die ersten Schritte auf die Warft setzte, zitierte sie den Astronauten Neil Armstrong, als dieser den Mond betrat. „Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.“
Die Lady wartete auf den Butler, der sich schweigend im Hintergrund hielt.
„Peinlich? Aber, so leid es mir tut, es wird noch peinlicher.“
„Inwiefern, Milady?“
„Ich war schon einmal auf dieser Insel. Ich weiß und spüre das. Ein unheimliches Gefühl der Vertrautheit, verbunden mit der Ahnung, dass wir uns einer noch unnennbaren Gefahr aussetzen. Jetzt halten Sie mich für verrückt. Nicht wahr, James?“
„Im Gegenteil. Ich vertraue auf Ihren Instinkt. Wir sollten ohnehin sehr vorsichtig sein.“
Thies Godbersen hielt direkt vor dem Hauptgebäude und half dem Butler, die Koffer und zwei Körbe mit Nahrungsmitteln in das Haus zu schaffen.
Kalte, stickige Luft schlug den Ankömmlingen aus den monatelang ungenutzten Räumen entgegen. Ansonsten wirkte das Innere des Gutshofes mit seinen hellen Möbeln und den heiteren Dekorationsstoffen einladend.
Lady Marbely ging voraus. Sie schien zu wissen, wo die Küche, der Salon und die Schlafräume zu finden waren. Das Licht funktionierte, der Butler verstaute die Esswaren in dem ansonsten leeren Kühlschrank und in der Kühltruhe.
Lady Marbely stand mit einem Glas Gin-Tonic in der Bibliothek im Nordteil des Gebäudes und betrachtete interessiert ein Modell der Insel Südfall, das auf einem etwa drei Mal drei Meter großen Tisch stand.
Thies Godbersen, der der Lady mit dem Butler gefolgt war, erklärte, dass sich Hallig über einen halben Quadratkilometer erstreckte. Im Westen schützte ein lang gezogener Deich Hallig und Warft vor dem Malstrom der Nordsee.
„Dennoch wird die Insel immer wieder überflutet“, erklärte der Kutscher und fügte rasch hinzu: „Erzählt man sich auf Nordstrand.“
„Ich weiß, ich weiß“, schien sich Lady Marbely an ein Ereignis dieser Art zu erinnern und betrachtete die Bücherschränke, die an zwei Wänden der Bibliothek bis zur Decke reichten. Durch die beiden großen Fenster konnte man auf die scheinbar endlose Wattfläche blicken, die feucht im Sonnenlicht glänzte. In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein offener Kamin, der wegen der warmen Witterung nicht beheizt wurde.
Der Butler legte zwei in Leder gebundene Folianten auf den Schreibtisch, der vor einem der beiden Fenster stand. Das in Gold auf die Ledereinbände geprägte Wort Rungholt hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
Am Beginn des ersten Buches fand er das Gedicht von Liliencron, das der Kutscher zitiert hatte, dann stieß er auf eine Erzählung vom Untergang der reichen Stadt in Form einer Sage. Lady Marbely, die dem sitzenden Butler über die Schulter geblickt hatte, bat ihn, laut vorzulesen.
Der Butler räusperte sich, wurde jedoch von Kutscher Godbersen unterbrochen, der sich verabschieden wollte. „Ich muss den Tiefstand des Meeres für die Rückfahrt nutzen, ansonsten sitze ich hier fest. Meine Frau und ich nehmen morgen unsere Tätigkeit bei Ihnen auf, wenn wir uns über die Bezahlung einig werden. Diese Verhandlungen möchte ich Mareen überlassen, sonst gibt es Schwierigkeiten.“
„Alles klar“, meinte Lady Marbely und lächelte. „Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden.“
Nachdem der Kutscher die Bibliothek verlassen hatte, bat Lady Marbely, traurig in ihr Glas blickend, den Butler, noch etwas zu trinken zu bringen. Und so kam James kurze Zeit später mit zwei Gläsern Gin-Tonic und einigen Sandwiches aus der Küche zurück. Danach wollte er aus der Geschichte Rungholts vorlesen. Als er sich niedersetzte, gab der Lederstuhl ein peinliches Geräusch von sich.
„Wir müssen diese unmöglichen Polstersessel durch neue ersetzen“, erklärte die Lady hilfreich.
„Das wird zu meinen vorrangigsten Aufgaben zählen“, sagte der Butler, stand auf und schleppte fünf Kissen in den Raum. „Damit werden wir die Geräusche fürs Erste entschärfen.“ Dann begann er aus dem Buch zu zitieren. „Rungholt war ein kleines Städtchen auf dem Strand bei Pellworm, dort, wo jetzt Südfall sich befindet. In diesem verlangten einige betrunkene Bauern, dass der Pastor nach einer öffentlichen Schankstätte herbeigeholt würde, damit er einem Kranken den letzten Hilfs- und Liebesdienst leiste. Der Wirt erinnerte jene daran, dass er eine gewaltige Sau habe; man könnte diese durch ein Quantum Bier bis zur Trunkenheit wie einen Menschen vollmachen, und sie werde durch ihr Grunzen die Stimme eines Kranken zum Ausdruck bringen, wenn sie auf ein Lager gebettet wäre. Da lachten die Bösewichter dazu und bildeten sich frevelnden Sinnes ein, wenn sie die Frömmigkeit des Priesters und Gott in dieser Weise verspotten könnten, sie den Ruhm einer großen Tat sich bei ihren Mitbürgern erworben haben würden. Der Priester, der da meinte, dass nichts weiter geschehen würde, wenn er auch den Mutwillen sowie die Rohheit und den äußersten Frevelsinn seiner Pfarrkinder wohl kannte, eilte mit dem heiligen Kelch am späten Abend herbei. Die Bauern mahnten ihn, dass er die heilige Handlung begänne und führten den Priester zu dem Lager, auf dem die Sau, von Bier eingeschläfert, grunzte, und suchten ihn zu bedeuten, dort seien die Obliegenheiten seines Amtes bei dem Kranken zu erledigen. Da der Mann das Tier erblickte, schauderte er zurück; aber als er nach den heftigsten Scheltworten gegenüber den Zechbrüdern fortgehen wollte, rissen ihn die Teuflischen zur Ofenbank und hießen ihn, er mochte nun wollen oder nicht, mit ihnen zu zechen. Als er sich weigerte und alle Heiligen zur Hilfe rief, versetzten sie ihm Ohrfeigen, entrissen dem Priester den heiligen Kelch, warfen ihn auf den Boden und richteten, nachdem sie ihn wieder aufgesammelt hatten, ein frevelhaftes Saufgelage mit ihm an. Endlich entließen sie den Priester mitten in der Nacht, nachdem sie ihn mit Fäusten zerbläut hatten, der nun über den Frevel seiner Pfarrkinder empört und eingedenk des ihm zugefügten Unrechts, da er an menschlicher Hilfe verzweifelte, unverzüglich die göttliche anrief. Und nicht blieb auf sein Bitten in dem hinter ihm wieder verschlossenen Gotteshause die rasche Strafe Gottes aus. Da ihn nämlich auf sein Flehen mit drei Jungfrauen in tiefer Nacht die Stimme anrief: Weichet sofort mit den Eurigen auf die Hügel, denn bald wird Rungholt untergehen. Daher wanderten jene mit den Ihrigen von dort fort, wo jetzt Südfall liegt. Rungholt ging nun in dieser stürmischen Nacht mitsamt den umliegenden Kirchspielen durch eine Überschwemmung zugrunde.
Ein gewisser Rektor Matz Paysen aus Oldeslohe hat diese Sage in lateinischer Sprache im siebzehnten Jahrhundert schriftlich festgehalten“, schloss der Butler die Erzählung.
„Wunderbar“, lobte ihn Lady Marbely, die der Geschichte mit geschlossenen Augen gefolgt war. „Machen Sie weiter!“
„Aber das war es. Das war die Sage von Rungholt und Südfall.“
„Schade. Und sonst steht gar nichts in diesen zwei Büchern?“
„Doch, natürlich. Wenn ich Sie nicht langweile …“
„Im Gegenteil. Ich genieße es.“
Der Butler blätterte um und fuhr fort: „So bitter die Strafe des Herrn für die frevelnden Bewohner der Stadt mit Ausnahme der wenigen Gerechten ausgefallen war, so sehr zeigte sich seine Gnade in dem Umstande, dass er Rungholt nicht zerstörte, sondern durch den gewaltigen Wassersturm in die Tiefe des Watts drückte, wo Kirche und Häuser und Hafen und Brunnen unversehrt stehen, bis zum heutigen Tage. In der Johannisnacht vernehmen Sonntagskinder das Läuten der Kirchenglocken und sehen die Stadt, wie sie seinerzeit war, falls sie reinen Herzens sind.“
„Also gab es doch Überlebende“, stellte die Lady fest.
„Ja, einen Priester und drei Jungfrauen.“
„Jungfrau bin ich nicht, aber ein Sonntagskind“, verkündete Lady Marbely stolz. „Wann ist diese Johannisnacht?“
„Bald, Milady. Sehr bald.“
„Könnten Sie nicht etwas präziser sein, James?“
„Ich werde mich bemühen. Es handelt sich um die Nacht vor dem Johannistag, die an Johannes den Täufer erinnert. Die Nacht vom 23. auf den 24. Juni.“
„Eine der kürzesten Nächte des Jahres. Um die Zeit der Sommersonnenwende“, stellte die Lady fest. „Und woher wissen Sie all das, James?“
„Als Schüler eines katholischen Internats macht man spezielle Erfahrungen.“
„Mein Gott, James. Sie sind doch nicht Opfer eines sexwütigen Priesters geworden?“
„Keine Angst, Milady. Dafür war ich ein zu hässliches Kind. Allerdings ebenfalls ein Sonntagskind, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“
„Dann werden wir beide in der Johannisnacht das Rätsel von Rungholt lösen“, stellte die Lady fest.
„Wenn wir reinen Herzens sind.“
„Zweifeln Sie daran, James?
„Mitnichten.“
„Mit Nichten? Mit welchen Nichten?“
„Wieder nur eine Redensart, Milady.“
„Die deutsche Sprache wird mir ein ewiges Rätsel bleiben …“ Lady Marbely ergriff den ersten der zwei Folianten und begann zu lesen, während James den Inhalt ihrer Koffer auf die Schränke verteilte.
Das Buch berichtete von der bäuerlichen Hafenstadt Rungholt und ihren rund tausend Einwohnern. Der Hafen lag an der Mündung des Flusses Hever. Der Ort erstreckte sich auf neun Warften, Hügel, die aus dem flachen Land hervorragten. Im Zentrum stand die Kirche, im Nordosten schloss sich ein Wald an, der hauptsächlich aus sogenanntem runget holt, durch die salzhaltige Luft und die häufigen Stürme verkrüppeltem Holz, bestand. Die Verfasser des Buches führten den Namen Rungholt darauf zurück.
Die aus Eichenholz gebaute Kirche hatte ein Fundament aus Ziegelstein. Die Häuser der Einwohner bestanden aus Holzbalkenkonstruktionen, mit Wänden aus Stroh und Reisig, die mit einem Lehm-Ton-Gemisch abgedichtet worden waren. Nach außen hin schützte eine Schicht Grassoden vor Kälte und Wind, als Fensterscheiben dienten Kuh- und Schweinsblasen.
Mensch und Tier lebten gemeinsam auf etwa hundert Quadratmetern, wobei das Vieh die im Winter zum Überleben nötige Wärme spendete.
Regen, der von den Reetdächern der Häuser in Sodenbrunnen und Zisternen gesammelt wurde, versorgte Mensch und Tier mit Trinkwasser, das durch Torf gefiltert und desinfiziert wurde.
Die Menschen lebten, wie Knochenfunde und Pflugspuren belegten, von der Zucht von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen, und Pferden, sie hielten Geflügel, fischten, bebauten den Boden mit Getreide und Hülsenfrüchten und handelten mit Vieh, Butter, Wolle, Fellen, Salz und Bernstein.
Lady Marbely wurde müde, die Buchstaben begannen vor ihren Augen zu verschwimmen, ihr Kopf neigte sich nach vorne, sie begann tief und regelmäßig zu atmen und fand sich im Traum in dem Ort, über den sie soeben gelesen hatte, in Rungholt, mit seinem bunten, ausgelassenen Treiben, über das Detlev von Liliencron in seinem Gedicht Folgendes geschrieben hatte:
Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr fasst selbst der größte Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Lady Marbely, die in dem Getümmel mit ihrem Vater unterwegs war, fühlte sich sicher in der Begleitung des erfahrenen Lord George, eines reichen, geachteten Bürgers von Rungholt, der mit seiner kleinen Tochter zum Hafen eilte, um Platz auf einem Schiff zu finden, denn das Wasser stieg immer höher, und noch war der Höhepunkt der Flut nicht erreicht. Zudem war starker Wind aufgekommen. Es ging das Gerücht, dass der Deich im Westen der Stadt gebrochen oder gar mutwillig beschädigt worden war und dass höchste Gefahr drohte.
Das kleine Mädchen an der Hand ihres Vaters überlegte, wo sich ihre Mutter aufhielt, doch die war seit über einem Jahr nicht mehr bei ihnen. Sie war im Himmel, wie ihr der Vater erzählt hatte und beobachtete und beschützte ihre Tochter von dort. Also konnte das kalte Wasser, das nun schon bis zu den Knöcheln reichte, ihrem Vater und ihr nichts anhaben.
Dennoch machte der kleinen Amanda der Tumult im Hafen Angst. Männer und Frauen rannten auf die Handelsschiffe zu, wurden zurückgedrängt, begannen miteinander zu raufen. Amanda weinte, als sie das sah, aber ihr Vater hatte keine Zeit, sie zu trösten. Er zerrte sie in die Richtung eines Schiffes, das ihr noch mehr Angst machte. Die dänische Dreki, auf die sie zustrebten, sah mit ihrem alles überragenden Drachenkopf am Bug furchterregend aus.
Vater überreichte einem Mann, der die Menschen vom Langschiff zurückdrängte, einen prallen Lederbeutel und gelangte so auf das schon ziemlich volle Schiff, das kurz darauf Richtung Meer ablegte.
Kaum hatten sie den Hafen verlassen, wurde das Schiff von der Gewalt einer plötzlich hereinbrechenden Flutwelle ergriffen und um die eigene Achse gedreht. Die Menschen an Bord schrien auf. Wasserwogen durchnässten die eng aneinandergedrängten Männer und Frauen. Der Vater hielt seine kleine Tochter fest an sich gepresst. Sie konnte seinen Atem spüren, fühlen, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Gewaltig wie das Meer. Und wenn er etwas zu ihr sagte, brummte das wie der Sturm, der auf sie einschlug.
Das kleine Mädchen fühlte sich trotz der Kälte, der Feuchtigkeit und der Übelkeit, die das Schlingern des Schiffes verursachte, sicher und geborgen. Sie wusste, ihr konnte nichts geschehen, der Vater war bei ihr.
Ein kalter Luftzug und das Geräusch von Regen weckte Lady Marbely in der Bibliothek des Gutshofes der Hallig Südfall. Ein heftiger Wind war aufgekommen.
James hatte die Lady, die noch am Schreibtisch saß, vorsorglich in eine Wolldecke gehüllt. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass es halb eins war. Höchste Zeit, das Bett aufzusuchen, dessen Kissen und Decken etwas muffig rochen. Sobald die Godbersens die Stelle als Hauswarte angenommen hatten, musste alles gewaschen und durchlüftet werden, fand die Lady, die dennoch rasch einschlief.
Doch, was war das? Sie hörte eine helle Stimme, die an das Klagen eines Babys erinnerte. Sie machte Licht und sah einen weißen Wollball neben dem Bett, der wieder Erinnerungen in ihr weckte. In diesem Fall Erinnerungen an Lord George, ihren Vater, der ähnlich helle Augen und einen weißen Backenbart wie diese Perserkatze gehabt hatte.
Ihr Vater war in Tiergestalt zurückgekehrt, um ihr in einem Abenteuer beizustehen, dessen Umfang und Ausgang in keiner Weise voraussehbar waren.
Unsinn, dachte die Lady. Sie stand noch zu sehr unter dem Eindruck der Bilder ihres Traumes, um klar denken zu können. Vor ihr saß eine wunderschöne Langhaarkatze, die man etwas bürsten und vielleicht sogar baden müsste, denn das weiße Fell war verunreinigt. Und das arme Tier war ziemlich dünn. Die Lady streichelte den Kopf der Katze, dann roch sie an ihren Fingern. Die Katze stank abscheulich nach verdorbenem Fisch.
Die Lady stand auf und suchte nach dem Butler.
„Sie entschuldigen, Milady“, sagte James, der noch mit dem Ausräumen der Koffer beschäftigt war. „Ich habe mir erlaubt, die prominente Besucherin zu Ihnen vorzulassen, obwohl sie sich noch nicht in präsentabler Form befindet.“
„Ein weibliches Tier? Sind Sie sich da sicher, James?“
„Unbedingt.“
„Ach, und ich dachte … Egal. Ich werde sie Stinkerbell nennen, in Anlehnung an Peter Pan und ihren Geruch.“
„Sie wollen sie behalten? Das Tier hat offenbar völlig allein auf der Insel überlebt.“
„Wie tapfer!“
„Sie muss sich von Ratten, Mäusen und Vögeln ernährt haben.“
„Und Fischen. Sie mögen das Tier, James?“
„Es hängt ganz von Ihrer Entscheidung ab, ob …“
„Keine Frage. Stinkerbell bleibt. Allerdings ersuche ich Sie um optimale Pflege.“
„Es wird mir ein besonderes Anliegen sein. Komm … Puss!“
„Und ich bestehe darauf, dass Sie sie Stinkerbell nennen.“
„Wie Milady belieben. Komm, mein kleiner Liebling Stinkerbell, es geht ins Bad.“