17. Juni, noch 9.600 Minuten bis zum Bruch des Deichs Der Duft von Kaffee, gebratenen Würstchen und Speck weckte die Lady gegen acht Uhr. Regen und Sturm hatten sich gelegt, die Sonne schien zum Fenster herein und zeigte der Lady, dass diese dringend gereinigt werden mussten. Sie beschloss, eine Liste der dringendsten Aufgaben anzulegen, die von den neuen Haushältern zu erledigen waren, fand jedoch beim Frühstück heraus, dass der Butler schon längst eine solche begonnen hatte. Er fragte die Lady, ob sie nicht noch einige Tage auf dem Festland verbringen wolle, bis der Gutshof einen Standard erreicht habe, der einer Lady angemessen war.
„Keineswegs, James. Ich bin keine Prinzessin auf der Erbse, habe Hände und Füße und kann einen Teil der Arbeiten selbst erledigen.“
„Davon rate ich dringend ab. Wir, Milady, müssen ganz andere Aufgaben übernehmen.“
„Zum Beispiel?“
„Die Klärung des Verschwindens der Expedition, die nach der Stadt Rungholt suchte sowie …“
„Sowie die Wiederentdeckung Rungholts in der Johannisnacht“, griff die Lady die Worte ihres Butlers auf und verriet diesem, dass sie von Rungholt und ihrem Vater geträumt hatte.
Der Butler ließ sich den Traum schildern und erkundigte sich immer wieder nach Details.
„Es war doch nur ein Traum“, meinte die Lady, doch der Butler ließ sich nicht bremsen.
„Träume lassen tief in die Seele der Menschen, aber auch der Ereignisse, blicken. Träume sind wahre Zeitmaschinen, mit denen wir uns frei in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegen und wichtige Einsichten gewinnen können, die unserem wachen Bewusstsein verschlossen sind.“
Die weiße Perserkatze, inzwischen gepflegt duftend, umstrich schnurrend die Beine der Lady.
„Du bist nicht wiederzuerkennen, Stinkerbell. Eine wahre Schönheit. Ganz der Papa.“
„Sie kannten den Vater der Katze?“, erkundigte sich der Butler.
„Mein Papa. Sie sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. Er ist wiedergekehrt, um uns zu begleiten und zu beschützen.“
„Natürlich. Wie Milady meinen.“
„Und danke für Ihre Mühe, James, Sie haben an dem Geschöpf Wunder vollbracht.“
Die Zeit bis zum Eintreffen der Godbersens, das für zehn Uhr, bei Niedrigwasser, angesagt war, nutzte der Butler, um die Kleidung der Lady und seine Montur in Ordnung zu bringen, während Amanda Marbely den Gutshof inspizierte.
Das Erdgeschoss des Hauptgebäudes bestand aus einem sehr geräumigen Flur, von dem aus eine weiß gestrichene Treppe zu den Zimmern im ersten Stock führte.
Die Fenster gegen Westen, von woher die Stürme wehten, waren klein gehalten, die gegen Süden, Osten und Norden waren großzügiger dimensioniert und ließen Helligkeit und Sonnenlicht in die hohen Räume. Die Sonne schien zu dieser Jahreszeit über siebzehn Stunden. Hell war es sogar noch länger.
Vom Flur des Erdgeschosses führten Türen in ein geräumiges Bad, in die Küche, in der neben modernen Haushaltsgeräten auch ein alter, mit Torf zu beheizender Herd stand. Rechts daneben lag ein Speiseraum, der auch als Salon genutzt wurde, von dem aus man in die Bibliothek gelangte.
Wieder blieb Lady Marbely vor dem Modell der Hallig Südfall stehen. Um den Drachenkopf näher zu betrachten, der aus dem gemalten Schlick ragte, beugte sie sich über den Tisch und streifte die Oberfläche mit einem Ärmel ihres grünen Kostüms, das sie an diesem Morgen trug. Dabei stellte sich heraus, dass die Insel der Deckel des Modells war, der sich nun etwas verschoben hatte.
Lady Marbely rief nach dem Butler, der ihr helfen sollte, das Metallstück abzuheben. Der Butler entfernte den Deckel mit Leichtigkeit und platzierte ihn auf dem Tisch vor dem Modell.
Nun wurde die versunkene Stadt Rungholt sichtbar, mit der Kirche im Zentrum, den kleinen Häusern, dem Hafen und der Deichanlage im Westen.
Fasziniert betrachteten der Butler und die Lady Details der sagenhaften Stadt.
„Sehen Sie, James! Im Hafen steht das gleiche Schiff mit dem Drachenkopf, das auf der Abdeckung offenbar versunken ist.“
„Sie haben eine wunderbare Entdeckung gemacht, Milady. Das ist wirklich eine feine Sache.“
„Wer wohl dieses Modell gebaut hat?“, fragte sich die Lady. „Ich mache mir schon die ganze Zeit Gedanken, was für ein Mensch die Gräfin von Wilfert-Langenhart war, wer wohl ihre Freunde und Verwandten waren.“
„Im Flur hängt ein Gemälde, das jemand mit einem Trauerflor versehen hat. Ich vermute, dass es sich dabei um die verstorbene Komtess Veronika handelt.“
„Komtess?“
„Die Bezeichnung für die unverheiratete Tochter eines Grafen.“
„Da sieht man, wie blind ich durch die Welt gehe“, bemerkte die Lady selbstkritisch und folgte dem Butler in die Eingangshalle, um das Bild zu betrachten.
Es zeigte eine etwa 45-jährige Frau mit etwas groben Gesichtszügen, dunkelbraunen Haaren und Augen.
„Als Mann wäre sie eine Schönheit gewesen“, sagte die Lady.
„Sie wirkt sehr energisch“, meinte der Butler. „Anders wäre sie mit dieser fordernden Umgebung nicht zurechtgekommen.“
„Sie meinen die Stürme auf Südfall?“
„Und die langen Winternächte, die Einsamkeit.“
„Wissen Sie, was mich bei Ihnen wundert, James?“
„Ich vertraue darauf, dass Sie es mir mitteilen.“
„Sie sind ein athletischer Mann in den besten Jahren. Den Deckel auf dem Modell haben Sie abgehoben, als hätte er kein Gewicht, Sie haben in der Fremdenlegion gedient, und doch haben Sie, wie soll ich sagen, die Feinfühligkeit, das Gespür, eines weisen Menschen, der nicht auf etwas losstürmt, sondern die Dinge reifen lässt.“
„Bis man sie pflücken kann“, ergänzte der Butler.
„So ist es. Genau so ist es“, bekräftigte die Lady. „Woher haben Sie das?“
„Ich denke, Sie überschätzen mich, Milady, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Um jedoch ernsthaft auf Ihre Frage einzugehen, sehe ich eine Ursache für meine innere Ruhe, die in den letzten Jahren glücklicherweise gewachsen ist, in meiner Ausbildung als Fallanalytiker.“
„Was ist denn das schon wieder?“
„Die populärere Bezeichnung dafür ist Profiler.“
„Profiler. Das kenne ich vom Fernsehen. Und so etwas sind Sie? Das ist ein ganz neuer Zug an Ihnen. Was bedeutet das konkret?“
„Es ist eine Methode, die derjenigen gleicht, die Sie beim Modell der Hallig und bei Ihrer Erkundung des Hauses angewandt haben.“
„Sie meinen …“
„Die genaue Betrachtung eines Gegenstandes, eines Menschen, das Erkennen von Zwischenfarben, das Hinhören auf leise Töne und die Fähigkeit, aus einzelnen Mosaiksteinen ein Ganzes entstehen zu lassen.“
„Ich verstehe. Sie sind also ein Psychologe, der zudem fähig ist, auch kräftig zuzulangen oder zuzuschlagen.“
„Wenn Milady es so ausdrücken wollen.“
„Wie würden Sie es formulieren?“
„Kopf und Geist gehen vor körperlichen Aktivitäten.“
Die Lady nickte nachdenklich.
Um zehn Uhr hielt die mit Lebensmitteln und Reinigungsutensilien vollgepackte Kutsche des Ehepaares Godbersen vor dem Haupteingang. Thies Godbersen hatte große, kräftige Hände, die auf handwerkliches Geschick schließen ließen. Die gleichaltrige Mareen Godbersen wirkte mit ihren schmalen Augen und der dunklen Hautfarbe etwas asiatisch. Sie überragte ihren ebenfalls groß gewachsenen Mann um einen halben Kopf. Das schon etwas angegraute Haar der Haushälterin erschien durch eine starke Dauerwelle besonders voluminös.
Der Butler wies dem Ehepaar eine Wohnung in den Mansarden zu, die oberhalb des ersten Geschosses im Hauptgebäude lagen und besprach mit ihnen die Liste der zu erledigenden Aufgaben, zu denen zu allererst die gründliche Reinigung des gesamten Gebäudes zählte.
Die Lady und der Butler zogen sich in der Zwischenzeit in die Bibliothek zurück, wo sie sich weiter mit dem Modell und Büchern über Rungholt beschäftigten.
„Wenn man nun Parallelen zieht, zwischen der biblischen Erzählung von der Sintflut und der Flut, die Rungholt und seine Bewohner getroffen hat“, überlegte Lady Marbely, „so wurden in beiden Fällen die Menschen von Gott für ihre Sündhaftigkeit bestraft. Und da Gott so etwas nicht tut, falls es ihn überhaupt gibt, waren diese Ereignisse Zufall oder …“ Als der Butler, der sich gerade in einen dicken Lederband vertieft hatte, auf diese Aussage der Lady schwieg, fuhr diese fort: „Oder es handelte sich um Menschenwerk. Wie leicht ließe sich eine künstliche Flut erzeugen, indem man den Damm beschädigt, ihn sprengt oder … Es gab doch schon Sprengmittel im 14. Jahrhundert, James?“
„Natürlich. Schwarzpulver zählt zu den ältesten Explosivmitteln und wurde schon im Kaiserreich China eingesetzt.“
Jetzt erst bemerkten die Lady und der Butler Herrn Godbersen, der von außen gegen das Fenster klopfte, das er soeben putzte.
„Meine Frau bereitet das Mittagsmahl“, rief der Mann in die Bibliothek. „Sie lässt fragen, ob zwölf Uhr genehm ist.“
„Perfekt!“, bemühte sich die Lady um einen weniger abgehobenen Umgangston.
Mareen Godbersen erwies sich als hervorragende Köchin, die aus den lokalen Nahrungsmitteln Krabben und Lamm hervorragende Speisen gezaubert und im blütenweißen Outfit serviert hatte.
Zum Dessert, das aus der nordfriesischen Spezialität Futjes bestand, warme Waffeln mit einem Klecks Butter und Pflaumenmarmelade, bat die Lady das Haushälterehepaar, ihr und dem Butler Gesellschaft zu leisten. Dabei besprach sie die Arbeit der Godbersens und fragte, ob sie die Gräfin von Wilfert-Langenhart gekannt hätten.
„Leider nein“, erklärte Frau Godbersen. „Sie hat die Insel in den letzten Jahren nicht mehr verlassen, und da haben die Leute auf dem Festland sie allmählich vergessen.“
Als sich die Lady nach den Lebensumständen der Godbersens erkundigte, erfuhr sie, dass die beiden kinderlos waren, dass Thies Godbersen seinen Lebensunterhalt mit seiner Kutsche als Fremden- und Wattführer verdiente. Seine Frau betreute den Haushalt und stellte in Heimarbeit Souvenirs aus Bernstein, Schneckenhäusern und Muschelschalen her, die der Mann an Touristen verkaufte.
„Wir sind froh, die Betreuung Ihres Haushaltes übernehmen zu können“, betonte Frau Godbersen. „Außer der schönen Landschaft und der Sage von Rungholt gibt es hier keine Attraktionen für Touristen.“
„Rungholt“, meldete sich erstmals auch Herr Godbersen zu Wort. „Ein Segen für diese Gegend.“
„Sie meinen das Interesse der Touristen an dieser Legende?“, fragte die Lady.
„Alles, was die Fantasie der Menschen anregt, ist gut für den Tourismus“, gab sich Thies Godbersen überraschend weise.
„So wie das Ungeheuer von Loch Ness“, meinte Lady Marbely.
„Auch hier soll es so etwas wie ein Ungeheuer geben“, bemerkte Mareen Godbersen, während sie den Speisetisch abräumte.
„Erzählen Sie!“ Lady Marbely zeigte sich begeistert.
„Ach, nur Geschichten von Kindern, die zu viele Harry-Potter-Filme gesehen haben“, wehrte ihr Mann ab.
„Sogar der Husumer Bote hat darüber geschrieben“, wandte seine Frau ein. „Ein riesiges, drachenähnliches Tier, das sich in den Schlick eingegraben hat und auf Opfer wartet. Immer wieder werden Menschen in dieser Gegend vermisst.“
„Ja, weil sie von der Flut überrascht werden und ertrinken oder von jemandem getötet werden“, erklärte Herr Godbersen. „Das hat schon Detlev von Liliencron erkannt, in seinem Gedicht.“
„Deetleew“, spottete Mareen Godbersen. „Ich halte nichts von Männern dieses Namens. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich erträumen lässt.“
„Was Sie da erzählen, klingt direkt unheimlich“, unterbrach Lady Marbely das Streitgespräch des Haushälterehepaares. „Dennoch werde ich am Nachmittag die Gegend erforschen. Wie ist das mit den Gezeiten?“
An diesem Punkt griff der Butler in den Gesprächsverlauf ein, indem er einen Bogen Papier auf den Tisch legte und erklärte: „Dies ist der Gezeitenkalender des heutigen Tages. Hochwasser 1 Uhr 38, Ebbe 7 Uhr 59, Flut 13 Uhr 57, Niedrigwasser 20 Uhr 25, Flut 2 Uhr 16. Der Ablauf der Gezeiten ändert sich von einem Tag auf den anderen, also werde ich die Daten für jeden Tag ausdrucken.“
„Und wenn ich nun die Gegend erkunden will?“, fragte die Lady.
„Dann werden Sie das am besten mit einem Boot in meiner Begleitung tun“, erwiderte der Butler.
„Ach ja, wir haben am Nachmittag Hochwasser“, stellte die Lady mit einem Blick auf die Statistik fest.
„Aber ich werde mich diesem Abenteuer allein stellen. Ich möchte Klarheit in meine Gedanken bringen.“
Die Reaktion des Butlers überraschte die Lady. Er akzeptierte ihren Wunsch ohne Widerspruch. „Sehr wohl, Milady. Ich werde mich inzwischen mit den Godbersens um Ordnung in Haus und Hof bemühen.“
Gegen zwei Uhr Nachmittag, als das Meer die Umgebung von Südfall vollständig bedeckte, ruderte Amanda Marbely gemächlich gegen Westen. Sie hatte vor, sich vom Deich aus einen Überblick über die Gegend zu verschaffen, die sie am Folgetag bei Niedrigwasser zu Fuß erkunden wollte. Sie hoffte, dabei auf Spuren des versunkenen Rungholts zu stoßen.
Nach über einer Stunde befestigte die Lady das Ruderboot an einem Pfosten, der aus dem grasbewachsenen Deich herausragte. Sehr behände kletterte sie aus dem Boot und erklomm den Hang, der im Lee etwas steiler gehalten war als auf der seewärts gelegenen Seite. Von der Deichkrone, über die ein Weg führte, hatte sie einen guten Blick auf die Nordsee, die an diesem Tag als ruhiger, endloser See vor ihr lag, in dessen vom Wind gekräuselten Wellen sich die Sonne spiegelte. Gegen Osten waren die Hallig Südfall und die Küste des Festlandes zu erkennen.
An den Hängen zum Meer blühten Andelgras und Halligflieder, der einen würzigen Duft verströmte.
Lady Marbely atmete tief durch. Wieder beschäftigte sie der Gedanke, schon einmal in dieser Gegend gewesen zu sein. Der Geruch … und alles, alles kam ihr bekannt vor. Sie nahm sich vor, diesem Umstand auf den Grund zu gehen.
Ob es so etwas wie Wiedergeburt gab? Immerhin hatte sie von Rungholt geträumt, der versunkenen Stadt, durch die sie mit ihrem Vater gelaufen war, auf der Flucht vor der Flut.
Dieselbe Katastrophe konnte sich wiederholen, überlegte die Lady, wenn der Damm, auf dessen Krone sie nun Richtung Nordosten marschierte, brach oder von jemandem mutwillig beschädigt wurde.
Lady Marbely setzte sich auf den Hang zur Nordsee und betrachtete die an diesem Tag ruhig scheinenden Wassermassen, die, vom Deich zurückgehalten, die Hallig Südfall und mit ihr alle Bewohner vernichten würden, wenn der Damm nicht hielt.
Die Befürchtungen der Lady jedoch schwanden im klaren Licht der Sonne, im Duft des Strandflieders und in den vielfältigen Geräuschen des Wassers und des Getiers, das den Deich bevölkerte. Alles schien in stetem Wandel zu leben, sich zu bewegen.
Die Lady beschloss, zum Boot zurückzukehren und weiter Richtung Norden zu rudern. Allmählich begannen ihre Oberarme zu schmerzen. Sie war etwas außer Übung, die sportliche Betätigung erwies sich als größere Herausforderung, als sie gedacht hatte, also legte sie eine Rast ein. Die kräftige Luft, der ungebremste Sonnenschein hatten sie müde gemacht, und sie musste eingenickt sein, als sie beim Erwachen spürte, von jemandem oder von etwas beobachtet zu werden. Sie hatte das Gefühl einer Bedrohung. Unsinn, sagte sie sich und bemühte sich um eine aufrechte Haltung auf der gepolsterten Bank des Ruderbootes. Sie erinnerte sich an einen Lieblingsspruch von Lord George, ihrem Vater, der betonte, es komme im Leben auf Haltung an, alles andere ergebe sich letztlich von selbst.
Also saß sie kerzengerade, atmete tief durch und begann zu rudern. Doch das Gefühl der Bedrohung, das sich als dunkle Wolke auf sie und ihre Stimmung gelegt hatte, wich nicht. Vorsichtig blickte sich die Lady um und erstarrte. Ein riesiges Tier lauerte keine zwei Meter hinter ihr. Kopf und Hals eines grünlichen Geschöpfes ragten an die acht bis zehn Meter aus dem Wasser. Das Rungholt-Ungeheuer, von dem schon Liliencron geschrieben hatte. Es existierte tatsächlich, und niemand würde je davon erfahren, denn es würde die Lady vernichten, ihr Boot zertrümmern, sie würde spurlos verschwinden.
War es den vermissten Männern der Rungholt-Expedition ähnlich ergangen? Lady Marbely hatte sich die letzten Minuten ihres Lebens anders vorgestellt. Sie hätte gern hundert Jahre oder länger gelebt, umhegt von einem mittlerweile etwas krumm gewordenen James, mit dem sie die tollsten Abenteuer auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung erlebt hätte. Und jetzt das! Hingemeuchelt zu werden von einem Untier, an dessen Existenz keiner glaubte.
Als nichts weiter geschah, als kein Fauchen und Grollen zu vernehmen waren, als das Maul des Monsters nicht nach ihr fasste, griff die Lady nach den Rudern und versuchte, sich von dem Untier zu entfernen. Ein dummes Lied der Monty-Python-Truppe ging ihr nicht aus dem Kopf, während sie um ihr Leben ruderte. Life’s a bit of shit, When you look at it. Dann erinnerte sie sich an die optimistischere Aussage jenes Songs, die in den Worten Always look on the bright side of life gipfelte.
Lord George hatte recht. Man musste die stiff upper lip selbst in den unmöglichsten Situationen bewahren.
Dennoch würde sie, wenn sie dieses Abenteuer tatsächlich unbeschadet überstand, keine Minute mehr in dieser Gegend bleiben. Sie wollte die versunkene Stadt mit all ihren Schätzen vergessen, sie würde die Hallig Südfall den Behörden von Schleswig-Holstein übereignen. Die sollten damit tun, was sie wollten. Sie mochte dafür keine weitere Verantwortung übernehmen. Dennoch. Sie war schon einmal in dieser Gegend gewesen. Dieser Umstand erfüllte sie mit Neugierde, und je näher sie bei der Rückfahrt an die friedlich im Sonnenlicht liegende Hallig mit ihren freundlichen Häusern, dem weißen Rauch, der spielerisch über dem Schornstein des Haupthauses lag, herankam, desto törichter fühlte sie sich.
Es gab im 21. Jahrhundert keine unbekannten Meeresungeheuer. Die Erde barg kaum noch unerforschte Geheimnisse. Sie konnte unmöglich dem Butler erzählen, was sie gesehen hatte. Er würde sie hinter ihrem Rücken als schrullige Alte verlachen. Dennoch wagte die Lady noch immer nicht zurückzuschauen. Der Anblick des Unwesens war zu fürchterlich gewesen.
Als die Lady den Flur des Gutsgebäudes betrat, wurde sie von ihrem Butler begrüßt, der sie in die Bibliothek auf ein Glas Grog und Sandwiches einlud. James berichtete, dass Professor Hull, der Leiter der Expedition, die nach Überresten von Rungholt gesucht hatte, seinen Besuch für den folgenden Tag angekündigt habe. „Er wird gegen halb drei Uhr, bei Hochwasser, in einem Boot eintreffen. Ist es in Ordnung, wenn wir das Mittagsmahl bis dahin verschieben und uns vorher mit einigen Brötchen bei Kräften halten?“
„Ich weiß nicht“, sagte Lady Marbely mit kraftloser Stimme.
„Kein Problem, Milady. Wir können natürlich um zwölf Uhr speisen und dem Besuch Reste des Essens zukommen lassen.“
„Nein, darum geht es nicht“, wehrte die Lady müde ab. „Ich zweifele gerade, ob meine Anwesenheit hier Sinn macht.“
Der Butler schaute der Lady tief in die hellblauen Augen, die etwas traurig wirkten. „Sie hatten ein unangenehmes Erlebnis?“
„Ich wollte eigentlich nicht davon erzählen, aber wenn Sie selbst dieses Thema zur Sprache bringen …“
„Bitte berichten Sie mir, Milady!“
„Es klingt wahrhaft lächerlich, aber …“
„Aber?“
„Ich habe das Rungholt-Ungeheuer gesehen. Ein riesiges Meerestier, unheimlich!“
„Wäre es möglich, eine Skizze davon zu fertigen, oder belastet Sie das zu sehr?“
„Ich bin keine gute Zeichnerin, aber ich kann es versuchen“, sagte die Lady.
„Zuerst trinken wir auf den Schock einen Schluck Grog!“, reimte der Butler.
Lady Marbely genoss den heißen, stark gezuckerten Rum, der sie rasch mit Wärme erfüllte. Als sie ein Sandwich verzehrte, merkte sie, wie ausgehungert sie war.
Das alkoholhaltige Getränk zauberte zwei rote Punkte auf ihre Wangen und ein Lächeln auf die Lippen. Sichtlich entspannt zeichnete sie den langen Hals, den Kopf, das Maul des Ungetüms, das sie im Meer gesehen hatte.
„Interessant, sehr interessant“, bemerkte der Butler, als sie ihm die Skizze reichte. „Und wo befindet sich dieses Wesen?“
„Das ist das Problem. Ich habe mich wie ein kleines Mädchen verhalten, das von einem bösen Traum verstört wurde. Mir fiel nichts anderes ein, als zu versuchen, so rasch wie möglich wegzukommen. Ich habe vergessen, eine Markierung zu hinterlassen. James, es tut mir so leid.“
„All das ist höchst verständlich, Milady. Unter den Umständen.“
„Das heißt, Sie glauben mir. Sie glauben, dass ich dieses Wesen, wie Sie es ausdrücken, tatsächlich gesehen habe?“
„Wesen oder Unwesen, was soll es“, murmelte der Butler, um sich dann in deutlicher artikulierten Worten an die Lady zu wenden: „Ich habe keinen Grund, Ihre Beobachtungsgabe in Zweifel zu ziehen, Milady. Sie sind eine absolut zuverlässige Person, die in die Tiefe der Ereignisse zu blicken vermag.“
„Ihre Worte tun gut“, bedankte sich die Lady und wandte sich dann mit einem Vorschlag an den Butler: „Mir würde es im gegenwärtigen Zustand sehr helfen, wenn wir eine Strategie, einen Plan, entwickeln könnten, wie wir in der Sache Südfall-Rungholt weiter vorgehen.“
Der Butler griff nach seinem iPad und öffnete eine Datei, die bereits eine kurze Dokumentation der Ereignisse enthielt. „Darf ich zunächst abrufen, was wir bisher erfahren haben?“
Lady Marbely nickte und schaute vorwurfsvoll auf ihre leere Tasse. Der Butler füllte sie mit dampfendem Grog und las daraufhin vor: „Südfall. Vererbt von Gräfin Veronika von Wilfert-Langenhart. Lady Marbely meint, schon einmal auf Südfall gewesen zu sein. Die von ihr finanzierte Suche nach Rungholt wird nach dem Verschwinden dreier Männer gestoppt. Dann begegnet Lady Marbely dem Rungholt-Ungeheuer.“
„So wie Sie das aufzählen, James, klingt es beinahe peinlich.“ Sie machte eine Pause. „Die Hallig ist jetzt in meinem Besitz, James. Warum?“
„Sie haben umfassend geerbt.“
„Irgendwie fühle ich, dass das nicht alles ist, James. Warum ist mir die gesamte Gegend hier … nicht nur die Hallig … so vertraut …“
„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten, Milady. Doch wir werden Augen und Ohren offen halten, Milady. Ich habe mir erlaubt, für morgen Nachmittag einen Termin mit dem Expeditionsleiter zu fixieren.“
„In unserem letzten Fall gab es ein Märchen, das die Lösung des Falles erleichterte. Bei Rungholt fällt mir nichts ein außer …“
„Außer der Erzählung von Noah und der Sintflut aus dem Alten Testament?“
„Richtig!“ Lady Marbely nickte. „Gott straft die Menschen für ihre Sünden, indem er sie mitsamt allen Tieren vernichtet.“
„Fast alle Menschen, mit fast allen Tieren, wenn ich bemerken darf. Noah, seine Frau, die drei Söhne plus deren Frauen sowie ausgewählte Tiere überlebten.“
„Töchter hatte der Mann nicht?“
Der Butler verneinte bedauernd. „Obwohl er zum Zeitpunkt der Flut sechshundert Jahre alt war, hatte er nur drei Söhne.“
„Also ein Kind alle zweihundert Jahre, statistisch gesehen“, sagte Lady Marbely und summte eine Melodie. „Noah found grace in the eyes of the Lord. Well the Lord looked down from his window in the sky. And said I created man, but I don‘t remember why. Nothin‘ but fightin‘ since creation day. I‘ll send a little water and I‘ll wash‘em all away.“
„Und dasselbe geschah mit Rungholt, wenn man der Sage Glauben schenkt.“
„Das müssen wir, James, das müssen wir“, rief die Lady enthusiastisch. „Wir werden die alte Stadt, wie prophezeit, in der Johannisnacht wiederentdecken.“
„Ich bin zuversichtlich, dass wir zumindest viele der Rätsel bis dahin lösen können.“
„Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich werde mich für einige Zeit zurückziehen, um die Ereignisse dieses Tages und das Höllengetränk, das sie mir gebraut haben, zu verarbeiten.“ Die Lady verabschiedete sich.
18. Juni, noch 8.160 Minuten bis zum Bruch des Deichs Der Morgen des achtzehnten Juni begann mit leichtem Regen. Nebel verbarg den Rest der Welt vor Lady Marbelys Augen, als sie gegen halb neun den Vorhang ihres Schlafraumes öffnete. So paradiesisch Südfall und Umgebung – abgesehen von den unheimlichen Ereignissen – bei Sonnenschein auf sie gewirkt hatten, so trostlos-düster präsentierte es sich an diesem Morgen. Aber auch diese Wetterlage erinnerte die Lady an etwas, das sie in ähnlicher Form schon erlebt hatte. Sie war schon einmal hier gewesen, und das nicht in einer früheren Existenz. Der Glaube an eine Wiedergeburt erwies sich im klaren Tageslicht, auch wenn es sich verdüstert wie an diesem Morgen zeigte, als fantastisch, obwohl es schon etwas für sich hätte, nach dem Tod nicht für immer ausgelöscht zu sein.
Um auf andere Gedanken zu kommen, bat die Lady nach dem Frühstück Herrn Godbersen, ihr und dem Butler die beiden übrigen Häuser des Gutes Südfall zu zeigen, die sich neben und hinter dem Hauptgebäude befanden.
„Ich bin noch nicht dazu gekommen, überall Ordnung zu schaffen“, entschuldigte sich der Mann.
„Das ist doch selbstverständlich“, fand die Lady. „Sie und Ihre Frau haben mehr als genug geleistet in diesen wenigen Stunden.“
Offensichtlich glücklich über das Lob zwirbelte der Mann seinen dichten Schnurrbart und begann mit der Führung durch ein Stallgebäude, in dem sich noch Reste von Stroh und Heu befanden.
„Kühe?“, fragte die Lady mehr sich selbst, um sich gleich darauf zu korrigieren. „Dazu ist die Insel zu klein. Es muss sich wohl um Schafe gehandelt haben.“
Thies Godbersen stimmte ihr zu. „Schafe und Ziegen sind die natürlichen Rasenmäher der Gegend und suchen nur bei extremem Wetter den Stall auf. Aber, wie gesagt, wie es tatsächlich auf dieser Insel ausgesehen hat, kann ich nicht sagen. Jedem Fremden war das Betreten untersagt.“
Im zweiten Nebengebäude des Gutshofes waren landwirtschaftliche Geräte und Werkzeug gelagert. Alles sehr ordentlich, wenn auch etwas verstaubt.
Neueren Datums schienen Spaten, Metallsuchgeräte und zwei Tauchausrüstungen zu sein. Gegenstände, die umgehend die Aufmerksamkeit des Butlers auf sich zogen, weil sie von der archäologischen Expedition stammen mussten, die Lady Marbely finanzierte und die nach dem Verschwinden dreier Männer zu einem vorläufigen Stillstand gekommen war.
„Sie wirken so nachdenklich, James“, wandte sich die Lady an ihn. „Was beschäftigt Sie?“
„Ich überlege, wozu man in dieser Gegend eine Tauchausrüstung benötigt. Man kann bei Ebbe jeden Punkt beinahe trockenen Fußes erforschen.“
„Mit Ausnahme des alten Brunnens im Hof“, ergänzte die Lady.
„Ein alter Brunnen. Milady, Sie sind großartig!“, ließ der Butler seinen Gefühlen freien Lauf. „Den muss ich sehen.“
„Wie wird die Insel überhaupt mit Wasser versorgt?“, fragte die Lady.
„Soweit ich weiß“, erklärte Herr Godbersen, „mit einer im Schlick verlegten Leitung, vom Festland aus. Alles andere wäre für das einundzwanzigste Jahrhundert undenkbar.“
„Wir werden auch dieser Sache auf den Grund gehen“, merkte der Butler an und bat die Lady, ihn zu dem von ihr entdeckten Brunnen zu führen.
Es handelte sich dabei um einen kreisrunden Sodenbrunnen, mit einem Durchmesser von etwa vier Metern. Der Butler hielt die rechte Hand in das Wasser und leckte an seinem Zeigefinger.
„Salzwasser“, stellte er fest. „Das ist aber interessant. Das heißt, dass der Brunnen mit dem Meer in Verbindung steht.“
Er legte sich auf den Bauch und schaute in die Tiefe, sah etwas Überraschendes, schüttelte den Kopf, spuckte mehrmals auf den Boden, dann eilte er, ohne ein Wort zu sagen, zurück in den Schuppen, in dem er die Taucherausrüstung entdeckt hatte.
Er kam zurück mit einem Neoprenanzug und einer Druckluftflasche samt Atemmaske und Taucherbrille.
Lady Marbely verlangte von ihrem Butler energisch Aufklärung, was er in dem Brunnen gesehen habe.
„Ein stets disziplinierter Mensch wie Sie spuckt doch nicht ohne Grund auf derart vulgäre Weise auf den Boden.“
„Ich habe im Brunnen etwas entdeckt, das mich überrascht hat und das mir das Brunnenwasser, das ich versuchsweise aufgenommen habe, nicht unbedingt schmackhaft macht“, erklärte der Butler.
„Und dieses Etwas, das Sie entdeckt haben?“
„Könnte einer der verschwundenen Taucher sein.“
„Oh, ah“, sagte Lady Marbely und spuckte ebenso auf den Boden. „Und was haben Sie jetzt vor, James?“
„Ich werde tauchen, wenn sich das vorhandene Gerät als brauchbar erweist.“
Bei diesen Worten öffnete er ein Ventil an der Druckluftflasche, reinigte mit einem Papiertaschentuch das Mundstück, bevor er es aufnahm, atmete mehrmals aus und ein, schüttelte den Kopf und setzte die Maske ab.
„Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sich Lady Marbely.
Als der Butler antwortete, legte sich ein Ausdruck ungläubigen Staunens auf das Gesicht der Lady, der in einen heftigen Lachanfall mündete. „Mein Gott, James. Sie sprechen wie Donald Duck. Schade, dass Sie die Schwimmflossen noch nicht tragen.“
Der Butler verstummte gekränkt.
„Sagen Sie doch noch etwas! Bitte, bitte! Es klingt so wunderbar herzerfrischend, nach Ihrer dramatischen Entdeckung“, flehte die Lady.
Auch Herr Godbersen musste sich sehr bemühen, nicht in ihr Lachen einzustimmen.
Doch der Butler atmete tief ein und aus und schwieg.
Als er nach einigen Minuten wieder sprach, hatte sich seine Tonlage etwas gesenkt. „In den Flaschen befindet sich kein Atemgas, sondern Helium, das die Stimme derart verzerrt. Ein geruchloses, ungiftiges Gas, das, zu lange und ausschließlich eingeatmet, zum Tod führt.“
„Wie schrecklich“, bemühte sich Lady Marbely um Ernst in ihrer Stimme, obwohl ihre hellen Augen noch immer vor Vergnügen funkelten. „Aber warum ist der Taucher noch in der Tiefe, warum schwimmt er nicht an der Oberfläche? Womöglich lebt er noch.“
„Das schließe ich aus“, sagte der Butler mit der Stimme eines Jungen, kurz vor dem Stimmbruch. „Die Bleigewichte, die er zum Tauchen benötigt, halten ihn unten.“
„Und was machen wir nun?“, fragte die Lady.
„Ich werde eine Bergung des toten Tauchers veranlassen“, sagte der Butler, blieb aber ruhig stehen, atmete tief ein und aus.
„Ja und? Ich will ja nicht drängen. Aber sollten Sie nicht …“
„Sobald meine Stimme ihren normalen Klang angenommen hat“, wehrte der Butler ab.
„Cornelius, Sie klingen anders als sonst“, sagte Mister Prince, der Chef des SSI, des Special Service International, jener geheimen Organisation, der Topleute auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung in den Bereichen Polizei, BKA, BND, FBI und PSA zur Verfügung standen.
Am Ende des Gesprächs sagte Mister Prince seinem Mitarbeiter die Entsendung von Emil Goldberg von der GSG 9 zu.
„Er wird die Sache mit seinem Team diskret regeln.“
Der Butler, alias Curd von Cornelius, beendete das Gespräch über sein abhörsicheres Handy.
Der Küche, in der Frau Godbersen, unterstützt von ihrem Mann, werkte, entströmten verführerische Düfte. Für das verspätete Mittagessen mit Professor Hull waren Aalsuppe, Fischpfanne aus allerlei Meeresfischen und Friesentorte mit Weißwein aus dem Badischen vorgesehen, wobei Frau Godbersen mehrmals versicherte, dass sie bei der Zubereitung auf gewisse friesische Eigenheiten verzichten würde, um die Speisen auch für eine Engländerin bekömmlich zu machen.
Lady Marbely und der Butler hörten die Frau durch die halb geöffnete Tür zur Bibliothek unaufhörlich mit ihrem Mann schwatzen, der nur selten, wenn überhaupt, etwas erwiderte.
„Was werden wir Professor Hull fragen?“, erkundigte sich die Lady bei ihrem Butler, um sofort selbst darauf eine Antwort zu finden. „Er muss uns über die Umstände des Verschwindens seiner Mitarbeiter Auskunft geben, uns mitteilen, warum einer der Taucher in den Brunnen gestiegen ist. Weiter ist es wichtig zu erfahren, ob er eine Ahnung hat, wer die Suche nach Rungholt aus welchen Gründen gewaltsam verhindern will. Und schließlich, ob er die archäologischen Arbeiten fortsetzen kann und will.“
Der Butler nickte ergeben.
„Entschuldigen Sie, James. Ich bin mit meinen Monologen wie Frau Godbersen. Was schlagen Sie vor?“
„Wir beginnen so, wie von Ihnen vorgeschlagen.“
Kurz nach vierzehn Uhr dreißig führte Frau Godbersen einen sehr großen Mann mit langem, rotem Haar und rotem Backenbart in die Bibliothek. Lady Marbely begrüßte den Archäologen Professor Hull und unterhielt sich mit ihm in englischer Sprache.
Der Butler brachte ihm ein schäumendes Glas Bier, das der Mann auf einen Zug leerte.
„Die heißen Sommertage machen durstig“, entschuldigte er sich auf Deutsch.
„Uns bleibt noch etwas Zeit bis zum Essen“, erklärte die Lady. „Wir können versuchen, wichtige Fragen zu klären, Professor.“
„Oh, gut. Sehr wichtig für mich wäre es zu wissen, ob die Forschungstätigkeit fortgesetzt oder eingestellt wird“, erkundigte sich der Mann.
„Sie wären bereit, weiter für mich zu arbeiten?“, fragte die Lady. „Trotz der Todesfälle?“
„Ich vermisse drei meiner Mitarbeiter, habe aber keinen Hinweis darauf, dass sie nicht mehr am Leben sind“, warf der Wissenschaftler ein.
„James und ich haben heute die Leiche eines Tauchers in einem alten Brunnen im Hof entdeckt.“
„Ist der Mann schon geborgen?“, erkundigte sich Professor Hull.
„Ob Mann oder Frau“, schaltete sich der Butler in das Gespräch ein, „werden wir am Abend erfahren, wenn sich die Männer der GSG 9 darum kümmern.“
„Das ist wichtig für mich“, meinte Professor Hull. „Ich werde, wenn Sie gestatten, bis zur nächsten Flut bei Ihnen bleiben, um dann in meinem Boot die Rückfahrt anzutreten.“
„Sie sind bei uns herzlich willkommen“, beeilte sich Lady Marbely, die Einladung nachzuholen. „Und was die Fortsetzung der Suche nach Rungholt betrifft, so liegt diese in meinem Interesse. Ich versichere Ihnen, dass ich Ihre Arbeit weiterhin finanziell unterstützen werde.“
„Haben Sie eine Ahnung, Professor, warum ein Taucher Ihrer Expedition an der Erforschung eines Brunnens auf Südfall, der offenbar Meerwasser enthält, interessiert sein könnte?“, erkundigte sich der Butler.
„Wir haben uns mit der möglichen Lage der versunkenen Stadt auseinandergesetzt und sind dabei auf einige geologische Besonderheiten dieses Gebiets gestoßen“, erklärte der Professor. „Sie müssen sich vorstellen, dass unter dem Meer, unter den Marschen und dem Watt, eine Hügellandschaft verborgen liegt, deren Gipfel aus festem, tragfähigem Material bestehen, während sich in den Tälern Schlick, Ton und Sand abgelagert haben, die einen trügerischen Grund bilden. Die Hallig Südfall hat alle Fluten und Stürme überdauert, weil sie auf festem Boden steht. Teile des alten Rungholts wurden von der Sturmflut, einem Tsunami des 14. Jahrhunderts, in die Tiefe des nachgiebigen Untergrunds gedrückt, wo sie vermutlich bis heute konserviert sind.“
„Das bedeutet“, überlegte Lady Marbely, „dass zur Freilegung umfangreiche Grabungsarbeiten vor Südfall nötig wären, die die Naturlandschaft zerstören.“
Der Archäologe bestätigte dies. „Daher“, erklärte er, „habe ich mich für die sanfte Methode entschieden.“
„Und das heißt, lieber Professor?“, fragte die Lady.
„Das heißt, Untersuchungen der festen Teile der Gegend, die Suche nach Überresten, die von der Oberfläche her möglich ist und kleinflächige Grabungsarbeiten, bei denen auf den Einsatz von Maschinen verzichtet wird sowie Tauchversuche dort, wo das Wasser tief genug dafür ist. Wir vermuteten … das heißt mein Team und ich …, dass der alte Brunnen im Hof des Gutes Südfall mit dem Meer in Verbindung steht und dass er möglicherweise einen Zugang zur versunkenen Stadt darstellt. Bedauerlicher Weise hat offenbar einer meiner Mitarbeiter begonnen, der Sache auf eigene Faust nachzugehen und ist dabei zu Schaden gekommen.“
„Oder man will die Suche nach Rungholt gewaltsam verhindern“, behauptete Lady Marbely mit resoluter Stimme.
„Ich weiß nicht …“, setzte Professor Hull zu einer Erklärung an.
„Keine Ausflüchte, Professor! Das ist doch offensichtlich“, unterbrach ihn die Lady. „Erzählen Sie uns, wer aus welchem Grund nichts von einer Erforschung der versunkenen Stadt wissen will!“
„Ich habe keinen stichhaltigen Beweis für Interessengruppen, die meine Expedition verhindern wollen.“
„Aber Vermutungen?“ Lady Marbely ließ nicht locker.
„Natürlich gibt es Menschen, denen aus unterschiedlichsten Gründen eine Entdeckung der Stadt nicht genehm ist.“
„Sie nennen uns doch diese Gründe, Professor“, flötete die Lady mit süßer Stimme, mit der sie sich auch an ihren Butler wandte und ihn aufforderte, dem guten Professor noch ein Bier zu bringen.
Als der Butler dem Mann das volle Glas reichte, bemerkte er: „Ihnen ist also ein Durchbruch in der Suche nach Rungholt gelungen, Professor?“
Der Mann zuckte bei diesen Worten so stark zusammen, dass er etwas Bier verschüttete, dann sagte er mit gesenkter Stimme: „Wir sind doch unter uns?“
„Außer unseren Haushältern und uns selbst befindet sich niemand auf der Hallig.“
Von der Küche her war noch immer die Stimme von Mareen Godbersen zu vernehmen, die unermüdlich auf ihren Mann einredete. Inzwischen hatte sich der Duft der zu erwartenden Speisen intensiviert.
„Gut, dann kann ich das Geheimnis lüften“, sagte Professor Hull in ernstem Ton. „Ich weiß, wen die Suche nach Rungholt so sehr verstört, dass …“ Das Splittern von Glas und ein dumpfes Geräusch unterbrach die Rede des Archäologen.
Lady Marbely blickte überrascht auf das zerbrochene Fenster der Bibliothek, während sich der Butler dem Professor zuwandte, der in seinen Stuhl zurückgesunken war, mit einem ungläubigen Staunen in seinen weit geöffneten hellblauen Augen. Aus seiner Brust ragte das Ende einer Harpune, die mit ihren Widerhaken in der Brust des Mannes steckte.
„So tun Sie doch etwas, James!“, flehte Lady Marbely. „Helfen Sie dem Mann!“
Der Butler, der den Puls des Professors geprüft hatte, bedauerte: „Er ist tot, Milady. Hilfe ist leider zwecklos.“
Der Butler rief nach Frau Godbersen und ihrem Mann, die nach einer kurzen Weile, wie immer heftig debattierend, aus der Küche in die Bibliothek kamen.
„Wir müssen die Insel durchkämmen“, sagte der Butler zu Thies Godbersen, zog selbst seinen schusssicheren Frackrock über und reichte Herrn Godbersen seinen Mantel, der ebenfalls aus Aramidfasern gefertigt war. Der Butler zückte seine Glock 17C. Die beiden Damen bat man, sich in das fensterlose Badezimmer zu begeben.
Frau Godbersen zitterte vor Schreck, nachdem sie den blutüberströmten Toten gesehen hatte.
Der Butler und Thies Godbersen begaben sich zu dem zerbrochenen Bibliotheksfenster an der Außenseite des Hauptgebäudes und fanden dort das Gasdruckgewehr, aus dem die Harpune abgeschossen worden war. Der Butler sicherte die Waffe, indem er sie durch das Fenster in die Bibliothek gleiten ließ, dann durchkämmte er mit Herrn Godbersen die beiden Nebengebäude.
Mit dem Fernglas suchte er die Insel ab, kontrollierte noch das Schiff, mit dem Professor Hull gekommen war, um schließlich einen Blick in den Brunnen zu werfen, in dem er die Leiche des Tauchers entdeckt hatte. Ohne Erfolg. Von dem Mörder des Expeditionsleiters fehlte jede Spur.
„Er könnte in einer Tauchausrüstung durch den Brunnen entkommen sein“, überlegte er. „Jedenfalls will jemand sehr nachdrücklich das Geheimnis um Rungholt wahren.“
„Soll ich die Polizei verständigen?“, fragte Thies Godbersen, doch der Butler winkte ab. „Ich werde diese Aufgabe selbst übernehmen.“
Als die beiden Männer ins Haus zurückkamen, hörten sie die Stimmen der beiden Frauen.
„Eine Nachricht des Mörders?“
„Oder ein Hinweis auf seine Person?“
„Was ist das, die Kalandsbrüder?“
„Mein Gott, doch nicht die Kalandsbrüder?“
Der Butler erkundigte sich bei Lady Marbely nach dem Grund der Aufregung.
„Ich habe eine SMS bekommen. Sehen Sie doch!“
„Das waren die Kalandsbrüder“, las der Butler vom Display des iPhones. Die Nummer des Absenders war unterdrückt worden.
„Das ist eine religiöse Geheimgesellschaft“, bemerkte Thies Godbersen, der sonst nichts zu diesem Thema beitragen konnte.
Der Butler zog sich in sein Zimmer im ersten Stockwerk zurück, um Kontakt zu Mister Prince, dem Chef des Special Service International, in London aufzunehmen. Er berichtete ihm von der Ermordung Professor Hulls und bat ihn um Auskunft, die Kalandsbrüder betreffend.
„Sie erhalten das Material per Mail. Ich werde Professor Hameed ersuchen, ein Dossier zu erstellen. Ach ja, und Goldberg von der GSG 9 wird gegen 19 Uhr bei Ihnen eintreffen und sich um die beiden Toten kümmern.“
Damit war das Gespräch beendet. Mister Prince war kein Mann von vielen Worten.
Gegen halb sechs Uhr kam die E-Mail Professor Hameeds, des Chefs der National Library im British Museum, mit der Erklärung, dass es sich bei den Kalandsbrüdern, den Fratres Calendarii, um einen Geheimbund handelte, der aus Männern und Frauen, aus Priestern und Laien, bestand und hauptsächlich in Nord- und Mitteldeutschland auftrat. Seine Aufgabe sah dieser Orden in religiöser Erziehung und in sozialen Werken sowie in Gebeten für Verstorbene. An der Spitze standen ein Abt und ein Schatzmeister. Seine Blütezeit hatte dieser Bund im 14. und 15. Jahrhundert erlebt. Seine Mitglieder versammelten sich zu Heiligen Messen, aber auch zu Banketten, die oftmals zu Gelagen ausarteten. Ein Umstand, der den Zorn der Bevölkerung weckte. Im Lauf der Reformation waren die meisten der Kalandsbruderschaften aufgelöst worden, doch existierten manche davon im Untergrund bis zum heutigen Tag.
Die Mail enthielt noch einen Namen und eine Adresse: Pater Clemens Ortlieb, Husum, Schlossstraße sieben und die Telefonnummer 04841 81945.
Der Butler tippte Dankesworte in sein iPad und schickte diese an Professor Hameed.
Es gab also diese Gruppierung tatsächlich, und sie hatte ihre Blütezeit im 14. Jahrhundert gehabt, in dem Rungholt von der Erdoberfläche verschwunden war. Das konnte kein Zufall sein! Doch welches Interesse sollten diese Kalandsbrüder haben, die Suche nach Rungholt zu verhindern, wie die anonyme Textnachricht an Lady Marbely andeutete?
Der Fall war kompliziert und gefährlich. Und so wichtig die Klärung der Umstände war, der Butler sah seine vorrangige Aufgabe im Schutz Amanda Marbelys, der einer der nächsten Angriffe des unbekannten Gegners gelten könnte.
Um eine Wiederholung eines Anschlags mit Harpunen und Gewehren einigermaßen auszuschließen, wollte er in allen Räumen im Erdgeschoss des Gutsgebäudes die Vorhänge schließen lassen.
Pünktlich um sieben Uhr ließ Motorengeräusch Lady Marbely ans Fenster eilen und den Vorhang öffnen. Ein Wasserflugzeug setzte knapp vor der Hallig zur Landung an. Drei Männer entstiegen einer Cessna 206 und wateten durch das Niedrigwasser auf die Insel zu. Zwei von ihnen trugen Taucherausrüstung, der dritte war in ein anthrazitfarbenes Outfit gekleidet.
Der Butler begrüßte Emil Goldberg und die beiden Taucher und führte sie zunächst zum Brunnen, wo sich die Begleiter Goldbergs sofort auf den Tauchgang und die Bergung des Toten vorbereiteten.
Der Butler stellte der Lady den schlanken, etwa 50-jährigen Soldaten der Grenzschutzgruppe vor. Dieser verbeugte sich und deutete einen Handkuss an.
Die Lady entzog ihm verlegen die Hand und überlegte, von woher der Mann diese wunderlichen Manieren hatte, als der Butler erklärte, dass er Emil vom gemeinsamen Dienst in der Légion étrangère, der Fremdenlegion, her kenne, und dass der Mann ein geborener Wiener sei.
„Mit jüdischen Wurzeln“, erklärte Goldberg stolz.
„Ich verstehe“, meinte Lady Marbely. „Ich meine den Handkuss. Die Wiener sind dafür bekannt. In England ist dieser bemerkenswerte Brauch weniger geläufig.“
„Tatsächlich?“, gab sich Emil Goldberg erstaunt. „Ich erinnere mich an ein Foto, das zeigt, wie Herr Thatcher der Frau des amerikanischen Präsidenten die Hand küsst.“
„Denis Thatcher wich immer schon von der Norm ab“, bemerkte Lady Marbely. „Insbesondere bei der Wahl seiner Frau.“
Damit war dieses Thema erledigt, und der Butler führte seinen SSI-Kollegen und früheren Kumpel zur Leiche in der Bibliothek.