Kapitel Acht
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Adam
Mit einem fröhlichen Lächeln schnappte ich mir den schweren Rucksack und sah zum ersten Mal seit dem Aufbruch hinein. Ich holte zwei Decken, Streichhölzer und eine wasserdichte schwere Plane heraus. Danach folgten zwei Taschenlampen, ein kleineres und größeres Jagdmesser und zu meiner Überraschung ein Erste-Hilfe-Kasten. Ganz unten ertastete ich zwei Äpfel und zwei Birnen. Das Obst nahm ich rasch an mich.
»Was ist das? Wo ist das blöde Zelt? Schlafsäcke? Insektenspray? Und wichtiger noch ... soll ich verhungern?« Ich traute meinen Augen kaum, denn inzwischen hing mir der Magen beinahe in den Kniekehlen.
Daiven grinste frech. »Das ist das Allernötigste zum Überleben. Zuerst wollte ich ja auf die Regenplane und Streichhölzer verzichten.«
»Kein Essen?« Mir schwante nichts Gutes. Aus Trotz biss ich herzhaft in einen der Äpfel. Er schmeckte köstlich.
»Es wäre kein Überlebenstraining, wenn wir nicht Fallen aufstellen und unsere Wasservorräte auffüllen müssten. Ich habe uns schon mehr eingepackt, als mir damals zur Verfügung stand. Ich bekam ein Messer in die Hand gedrückt und musste mich damit mehrere Tage durch die Wildnis schlagen.«
Erstaunt sah ich Daiven in die Augen und verspürte sogleich ein kribbelndes Gefühl auf der Haut. Sie glänzten so wunderschön blau wie der Ozean bei strahlendem Sonnenschein. Dazu gesellte sich das charmante Schmunzeln, das sich um seine Lippen legte. Nur zu gerne hätte ich ihn geküsst. Ich wollte ihn umarmen, ihn fest an mich drücken und seinen Duft einatmen. Mit meinen Fingern durch sein schwarzes Haar fahren und ihm zärtlich über den Rücken streicheln. Noch während ich davon träumte, übernahm die Vernunft wieder mein Denken.
Daiven ahnte offenbar immer noch nichts von unserer Gemeinsamkeit, sonst hätte er anders reagiert. Außerdem merkte ich ihm die Sorge um Nash an. Das alleine hinderte mich schon daran, einen Schritt weiterzugehen. Doch die Angst vor seiner Ablehnung machte es fast unmöglich. Nur zu deutlich erinnerte ich mich an Dylans schmerzhafte Zurückweisung, als er davon erfuhr. Diesen Fehler würde ich kein zweites Mal begehen.
Ich verdrängte den Gedanken mich Daiven zu öffnen und konzentrierte mich wieder. »Überlebenstraining? Du hast von einem Zwei-Tages-Marsch gesprochen! Nicht davon, dass ich in den nächsten Stunden irgendwo in einem Gebüsch an Unterernährung krepiere.«
Daiven lachte und griff nach dem zweiten Apfel. Seine Fröhlichkeit klang wie Musik in meinen Ohren. »Schon vergessen? Ich möchte, dass du deinen ersten Einsatz überlebst und dafür musst du bereit sein.«
»Indem ich mit Streichhölzern um mich werfe?«, erkundigte ich mich sarkastisch.
Daiven schüttelte amüsiert den Kopf, doch kurz darauf wurde er ernst. Er sah mich neugierig an und fragte: »Wer bist du, Adam? Du bist kein gewöhnlicher Gefangener, sonst hätte Callahan dich nicht am Leben gelassen und wäre so erpicht darauf, Informationen zu sammeln ... Also, wer bist du wirklich?«
Ich schluckte den letzten Bissen herunter. Seine Frage überraschte mich nicht. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass ich ihm Rede und Antwort stehen musste. Da Daiven sich mir ohne Bedenken anvertraut hatte, verdiente er es, die Wahrheit zu kennen.
»Erst will ich noch mehr von dir hören. Darf ich?«, lenkte ich ein und deutete zeitgleich auf die Birne, die ich mir nach seinem Nicken sofort einverleibte.
Er nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche »Das meiste weißt du doch schon.«
»Du irrst dich gewaltig. Ich weiß zum Beispiel noch nicht, warum ihr beide eure kleine Liaison vor jedem auf dem Stützpunkt verheimlicht.«
Daivens Wangen färbten sich leicht rosa. Das gefiel mir.
»Du schämst dich. Aber wieso? Du bist ein echt heißer Typ und ich schätze mal, es gibt mehr, die so denken. Also mehr Männer, wenn du verstehst. Oder hast du Angst, dass dich niemand mehr respektiert, wenn sie wüssten, dass du schwul bist?«
»Natürlich nicht!«, gab er forsch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Haltung war für mich bereits Antwort genug.
»Du hast Angst«, stellte ich nüchtern fest und wusste genau, wie es sich anfühlte, seine wahre Sehnsucht zu verstecken. »Du denkst, wenn sie es erfahren, nehmen sie dir nicht mehr den knallharten Kerl ab. Vielleicht befürchtest du sogar, dass sie sich von dir distanzieren, weil du es mit einem Mann treibst. Falls das passiert, wären sie nie deine Kameraden gewesen. Denk mal darüber nach. Freunde akzeptieren dich, so wie du bist und nicht, wie die Gesellschaft es vorschreibt. Weiß Lio von dir und Nash?«
Daiven schluckte merklich und schwieg.
»Lass mich raten, du hast nicht einmal mit deinem besten Freund darüber gesprochen. Stimmt’s?«
»Lio weiß von Nash und mir«, antwortete er kurz und knapp und ihm entfuhr ein leiser Seufzer.
Ich beäugte ihn skeptisch, beschloss jedoch, ihm zu glauben. Gelassen streckte ich die Beine aus. »Okay. Dann mal raus mit der Sprache. Welche Geheimnisse verstecken sich noch hinter deinem interessanten Äußeren? Ich bin von Natur aus ein sehr wissensdurstiger Mensch, musst du wissen.«
Daiven biss sich auf die Unterlippe, während er mich neugierig musterte. Ich fragte mich, ob er wirklich nicht ahnte, dass wir dieselbe Vorliebe besaßen. Schließlich hatte ich ihm genügend Hinweise geliefert. Er war auf keine meiner Anspielungen näher eingegangen, so wie auch jetzt.
»Es gibt keine Geheimnisse«, bedeutete er. »Callahan hat mich nach dem Tod meiner Eltern mehr oder weniger adoptiert. Mit zwölf begann ich die Kadettenausbildung und vor einem Jahr wurde ich zum Lieutenant ernannt. Zurzeit lerne ich, wie man Pilot wird und wenn ich kann, treffe ich mich in meiner Freizeit mit Lio.«
»Du hast Nash vergessen«, stichelte ich bewusst weiter. Mich interessierte brennend, wie Daiven ihre Beziehung sah. Von Nash wusste ich, dass für ihn nur der Spaß im Vordergrund stand.
»Da gibt es nichts. Du hast den Kuss gesehen. Das ist nichts für die Ewigkeit«, versuchte er auszuweichen. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm.
»Schon gut«, lenkte ich ein und war erleichterter, als ich dachte. Dass auch er die Sache nicht besonders ernst nahm, war ein Vorteil für mich. Daiven war es wert erforscht zu werden. Nicht nur, weil er optisch genau mein Typ war, er besaß auch eine äußerst interessante Persönlichkeit. Äußerlich gab er sich, wie es von ihm erwartet wurde, als abgebrühter Rebell. Innerlich war er ein gutmütiger Mensch, der sein Herz am richtigen Fleck trug. Dass Callahans Kälte nicht auf ihn abgefärbt hatte, verwunderte mich kein bisschen. Daiven besaß einen starken Charakter, der ihn davor bewahrte, abzustumpfen.
Dennoch plagten mich unterschwellig Gewissensbisse. Durch die Verbindung mit Nash hatte ich gespürt, dass auch er unter normalen Umständen ein netter Typ war, der sich bedenkenlos für seinen Bruder Lio und Daiven opfern würde. Nun musste er plötzlich mit Dingen fertig werden, die nie für ihn bestimmt waren. Daiven wiederum stand vor dem Problem, nicht zu wissen, was tatsächlich geschehen war.
»Du bist an der Reihe ... wer bist du Adam?« Daiven riss mich mit einem herausfordernden Grinsen aus den Gedanken. Sein hinreißender Blick beschleunigte meinen Herzschlag. Ich konnte nur schwer verhehlen, dass ich ernstes Interesse an ihm hegte. Womöglich sollte ich über meinen Schatten springen und mit offenen Karten spielen? Zumindest könnte ich den Versuch wagen. Eine innere Stimme riet mir dennoch zu Vorsicht.
»In erster Linie bin ich ein waschechter Bürger Elverstons«, sagte ich fröhlicher, als mir zumute war. »Ich schätze, mein Dad unterscheidet sich nicht viel von deinem. Er ist ein skrupelloser, machtgieriger Politiker, der im Justizrat sitzt. Großgezogen hat er mich im goldenen Käfig und mir von Privatlehrern die beste Schulbildung zukommen lassen, die man für Geld in der Stadt bekommen konnte. Mein eigentliches Interesse galt schon früh den Computern. Als ich alt genug war, entschied ich mich für die Entwicklung im Bereich Technik ... sprich, ich habe angefangen mich für alle Komponenten der Supervisors ... oder wie ihr sie nennt, der Surges zu interessieren. Ich studierte sie bis ins kleinste Detail und programmierte sie von Grund auf neu ...«
»Du hast was?«, unterbrach mich Daiven entsetzt.
»Bevor du mich missverstehst, muss ich dir etwas zeigen.« Ich öffnete das Hemd der Uniform und zog es aus. Dann präsentierte ich ihm den rechten Unterarm und deutete auf eine winzige Erhebung auf der Innenseite. Es glich einem kleinen dunklen Fleck auf der Haut »Siehst du das?«
Daiven beugte sich vor und beäugte die Stelle argwöhnisch.
»Das ist keine Narbe.« Zögerlich fuhr ich mit der Fingerspitze darüber und nahm meinen schnellen Herzschlag wahr, mit dem das Blut durch meine Adern rauschte. Dieses Mal lag es nicht an Daivens Nähe. Ich spürte die Gefahr vor seiner möglichen Ablehnung. Schließlich beschloss ich, es darauf ankommen zu lassen. Daiven war nicht Dylan. Er hatte Prinzipien und würde mich nicht vorschnell verurteilen. Nach einem kurzen Zaudern berührte ich den Punkt auf der Haut. Vorsichtig schob ich den Fingernagel darunter und ignorierte das brennende Ziehen, das meine Aktion mit sich brachte. Dann fühlte ich den Widerstand. Mit einem beherzten Ruck hob ich einen Teil der Haut an und löste sie unter Schmerzen von meinem Unterarm.
»Was tust du da!« Erschrocken wich Daiven von mir zurück, bis er beinahe über die Kante des Vorsprungs in die Tiefe fiel. Sein Gesicht war kreideweiß.
»Nicht, Daiven! Alles ist gut«, versuchte ich ihn beinahe flehentlich zu beruhigen.
»Das ... was ...«, stammelte er.
»Das ist mein Arm ... mein kybernetischer Arm.« Ich wackelte mit den Fingern. Die Bewegungen der künstlichen Strukturen waren dabei deutlich zu erkennen. Es handelte sich um eine naturgetreue Nachbildung des menschlichen Skeletts. Sie war umgeben von einem weißlichen biochemischen Gewebe. Das Pendant zu meiner natürlichen Muskulatur.
Daiven starrte mich mit offenem Mund an.
»Du kannst ihn anfassen«, wisperte ich und näherte mich ihm. Bestimmend griff ich nach seiner Hand und legte sie auf meine künstliche Haut. »Das, was du fühlst, unterscheidet sich kaum in der Zusammensetzung von dem, was Mutter Natur erschaffen hat. Der Unterschied liegt indem, wie es zum Leben erwachte. Alle Komponenten wurden im Labor herangezüchtet und zusammengebaut. Die synthetische Haut besitzt Gefühlsrezeptoren wie die echte. Das heißt, ich kann alles spüren, als wäre es mein eigener Arm. Kälte. Hitze. Schmerz. Dieses weiße Zeug ersetzt meine Muskeln und hält alles zusammen. Nanobots, die in meinem Blut zirkulieren, überwachen alles. Falls ich verletzt bin, reparieren sie mich auf molekularer Ebene. Im Prinzip besitzen sie die gleiche Aufgabe wie ein menschliches Immunsystem. Bei mir heilt alles sehr schnell und ohne Narben zu hinterlassen.«
»Aber ... aber ... wie ist das ...«
»Möglich?«, beendete ich den Satz und wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Ich legte die Haut wieder an und drückte sie fest. Augenblicklich ließ das schmerzhafte Brennen nach. Das biochemische Gewebe verschloss die Verletzung sofort, sodass man in einigen Stunden nichts mehr davon bemerken würde.
»Das ist doch ein schlechter Scherz!« Daiven schüttelte vehement den Kopf.
»Schön wäre es. Der Arm ist echt.« Teils interessiert, teils besorgt beobachtete ich ihn. Noch schien Daiven das Gesehene nicht glauben zu wollen. Als er überraschend näher rückte, um sich die Wunde genauer zu betrachten, keimte Hoffnung in mir auf.
»Was ist mit deinem Arm passiert? Aus welchem Grund hast du künstliche Haut? Hattest du einen Unfall?«, wollte er neugierig wissen.
»Nein, sie haben ihn mir einfach so ausgetauscht.«
»Warum? Wieso macht man so etwas?« Daiven holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Seine Stimme klang stärker und es kehrte auch Farbe zurück in sein Gesicht. »All die Jahre wollte ich nicht glauben, was Callahan erzählte. Immer wieder sagte er, in Elverston würde man versuchen, Menschen in Maschinen verwandeln. Manchmal dachte ich, er will uns damit nur gegen die Stadt aufhetzen. So wie seine Vorgänger.« Dann stockte er und sah mir tief in die Augen. »Warum hast du das getan?«
Ich zog das Hemd wieder an und krempelte den Ärmel nach unten. Den interessierten Blick, den mir Daiven zuwarf, deutete ich als ein positives Zeichen. Er schien bereit zu sein, mehr zu erfahren, und ich nutzte die Gelegenheit. Tatsächlich hatte ich mich in ihm nicht geirrt. Daiven konnte die Wahrheit verkraften, wenn es mir gelang, sie ihm vernünftig zu erklären.
»Die Frage lautet eher: Warum tut ein Vater dem eigenen Sohn so etwas an?«, verbesserte ich ihn mit leiser Stimme.
Daiven sah mich entgeistert an, nicht fähig etwas zu sagen.
»Ich kenne es nicht anders«, fuhr ich fort und hielt den Augenkontakt zu ihm aufrecht. »Angefangen hat alles, nachdem meine Mutter starb. Ich war damals zwei oder drei, ich weiß es nicht mehr genau, und gehörte mit neunundzwanzig anderen Kindern zu den sogenannten Auserwählten. Die Surges waren dem Justizrat schon lange nicht mehr genug. Einige Mitglieder träumten den Traum, nicht nur kranke Organe oder zerstörte Gliedmaßen zu ersetzen. Sie wollen sich das ewige Leben sichern! Du hast richtig gehört. Allen voran mein eigener Vater. Er ist regelrecht davon besessen. Seit Jahren forschen seine Leute daran, einen Menschen zu erschaffen, dessen Körper aus äußerst widerstandsfähigen und langlebigen Komponenten besteht. Einzig das Gehirn würde im Originalzustand bleiben, während man alles andere durch künstliche Bauteile ersetzt. Somit wäre die Person nahezu unsterblich. Das ist es, was meinen Vater antreibt. Dabei geht er über Leichen. Vorzugsweise Kinderleichen. Dass ich nicht gestorben bin, grenzt an ein Wunder. So nannten sie mich auch ... das Wunderkind. Ich überlebte als Einziger aus der Versuchsgruppe Epsilon. Inzwischen sind sie bei Omikron angekommen ... Eingesperrt und abgeschirmt von allem und jedem benutzt er weiterhin Mädchen und Jungen für abartige Experimente. Sie beginnen damit im Kleinkindalter. Es ist wichtig, dass es so früh durchgezogen wird, da sich Kinderkörper besser umstellen und anpassen können. Wenn alles gut verläuft, wachsen die technischen Bausteine mit dem Körper mit. Zugleich sind sie mit molekularen Nanobots verbunden, die das alles erst möglich machen. Die ganze Systematik ist zu kompliziert, um es zu erklären.«
Daiven rutschte nervös auf seinem Hintern hin und her. Dann ballte er die Hände zu Fäusten, sagte jedoch immer noch kein Wort.
»Zurzeit sind die Forschungen noch nicht soweit, alles im großen Maße voranzutreiben. Aber es wird geschehen. Früher oder später. Dass die Wissenschaftler das Risiko langfristig noch nicht abschätzen können, ist meinem Vater egal. Keiner kann vorhersagen, wie sich all die künstlichen Bestandteile in zehn oder zwanzig Jahren verhalten. Geschweige denn, ob der körperliche Organismus das überhaupt aushält. Ich bin der Einzige, der bislang die Prozedur überlebt hat, und niemand kann sich erklären warum.«
Von einem unendlich befreienden Gefühl erfasst, mich Daiven anvertraut zu haben, ließ ich dennoch die Schultern hängen und starrte auf den kalten Felsboden. Plötzlich war ich nicht mehr so überzeugt davon, dass es gut war, ihm all das zu erklären. Unweigerlich würde es weitere Fragen aufwerfen, und ich musste darauf Antworten liefern, die Daiven keinesfalls gefallen würden. Vielleicht kam es sogar dazu, dass er sich von mir abwendete, und ich könnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Anderseits saßen wir hier, um unbeobachtet über die Wahrheit zu sprechen, die sich nun einmal nicht schön reden ließ. Immerhin rechnete ich ihm hoch an, dass er Ruhe bewahrte. Dylan hatte mich damals krankenhausreif geprügelt und mich dabei wüst beschimpft.
»Adam?«, hörte ich Daivens Stimme nah an meinem Ohr. Kurz darauf spürte ich seine Finger, die sich behutsam unter mein Kinn legten und mich zwangen, ihm in die Augen zu blicken. Was ich sah, ließ meinen Puls höher schlagen. Daivens wunderschöne Iriden spiegelten tiefes Mitgefühl wider. Er verabscheute mich nicht, wie Dylan es getan hatte. Im Gegenteil. Ich konnte erkennen, dass er versuchte, mich und das eben Erfahrene zu verstehen.
»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach war, mich ins Vertrauen zu ziehen. Dafür danke ich dir. Es gehört viel Mut dazu, so etwas preiszugeben. Das beweist mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe. Schon bei unserer ersten Begegnung spürte ich, dass du besonders bist. Und das hat nichts mit dem zu tun, was du mir gezeigt hast.«
Daivens Worte bewirkten, dass meine Angst vor Ablehnung gänzlich von mir abfiel. Ich lächelte zaghaft und griff nach seiner Hand, die weiterhin unter meinem Kinn ruhte. Dankbar streichelte ich ihm über die warmen Finger. Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und unterdrückte den Impuls ihn zu küssen. Als ich ihn wieder ansah, lächelte er geheimnisvoll. Bedauerlicherweise zog er sich daraufhin von mir zurück.
Ich hätte alles unternommen, um in diesem Moment seine Gedanken lesen zu können. Leider konnte ich nur meinen Charme spielen zu lassen, um ihn aus der Reserve zu locken.
»Weiß Nash davon?«, fragte mich Daiven überraschend und hatte damit meine volle Aufmerksamkeit.
»Du meinst von meinem Arm und den Experimenten?«, hakte ich nach.
Er nickte.
»Da bin ich mir ziemlich sicher, obwohl er vermutlich die Zusammenhänge nicht versteht. Nash hat solche Befragungen zwar schon öfter durchgeführt, aber wenn ich die Informationen, die ich durch den Apex bekam, richtig deute, hat er Callahan bislang lediglich als stummer Beobachter gedient, der die Gedanken und Empfindungen seines Gegenübers bündelte. Er hatte wohl Glück, dass es ihn erst bei mir mit voller Wucht erwischte. Ich nahm ihn auf jeden Fall mit auf eine Reise durch meine grausame Kindheit. Dabei erlebte er die unaussprechlichen Schmerzen der Experimente am eigenen Leib.« Ich legte eine kurze Pause ein und dachte an das Verhör zurück. »Er spürte die grauenhafte Panik, die mich damals erfasste, wenn ich festgeschnallt und unbeweglich alles über mich ergehen lassen musste. Oft ohne Betäubung, damit man überprüfen konnte, wie mein restlicher Körper reagiert. Das Problem ist, er weiß nicht, warum er diesen Schmerz fühlte. Ich vermute stark, meine Erinnerungen haben sich in seinem Unterbewusstsein verankert und mit den seinen vermischt. Er kann nicht direkt darauf zugreifen, da er sich nicht sicher ist, ob er gerade träumt oder es tatsächlich passiert. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass es nicht seine Erinnerungen sind. Wenn ich richtig liege, bedeutet das, dass er Tag für Tag damit gefoltert wird. Wie sich das künftig auf ihn auswirkt, kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Aber es scheint, sein Körper verkraftet es bisher ganz gut, sonst wäre er nicht so schnell wieder fit gewesen. Also hat er gute Chancen, diesen Zustand aus eigener Kraft zu beenden. Bis es ihm jedoch wirklich besser geht, wird es dauern. Im Moment herrscht in seinem Kopf ein großes Chaos. Ich nehme an, dass er dich deswegen so grob behandelt hat. Du darfst ihm aber nicht die Schuld geben. Er kann nichts dafür. Stell es dir wie eine Art Gehirnwäsche vor.«
Daiven schluckte merklich und er verfiel in nachdenkliches Schweigen. Es tat mir leid für ihn und auch für Nash.
»Warum lässt Callahan das zu?«, wisperte er Augenblicke später.
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Er ist aber rücksichtslos genug, das Risiko bewusst in Kauf zu nehmen. Du bist sein nächstes Opfer. Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber wie?«
»Wir werden Callahan die Suppe gehörig versalzen. Uns wird schon etwas einfallen.«
Noch während ich die Worte aussprach, kehrte das befreiende Gefühl zurück, das mir in Daivens unmittelbarer Nähe mehr Luft zum Atmen schenkte. Er hatte entschieden, auf meiner Seite zu sein. Eine große Hürde lag damit bereits hinter uns.
»Leider muss ich dir noch etwas beichten und das ist nicht unbedingt positiv«, murmelte ich, bevor mich der Mut verließ. »Es geht um etwas, das mir Nash vermittelte. Oder besser gesagt, um Callahans künftige Pläne.«
Daiven hob skeptisch die Augenbrauen. »Was meinst du genau?«
»Das, was er plant und womit Nash nicht einverstanden ist, sich aber nicht traut es auszusprechen.« Wiederholt seufzte ich. »Entweder verfällt Callahan langsam dem Wahnsinn oder er hat doch mehr mit meinem Vater gemeinsam, als mir lieb ist.«
»Jetzt sprichst du in Rätseln. Um was geht es?«, forderte mich Daiven auf weiterzureden.
»Pläne einer geheimen unterirdischen Anlage, getarnt als Bau neuer Gewächshäuser.«
»Doch nicht etwa die, die er erwähnt hat, oder doch?«
»Kann sein. Kann auch nicht sein. Es geht auf alle Fälle um die Errichtung einer kompletten Forschungsanlage. Nash hat mir ganz flüchtig ein Bild eines einsatzfähigen Surges gezeigt.«
»Ein Surge? Bei uns?«
»Ja, das gibt mir etwas zu denken«, bestätigte ich und fuhr mit meiner Mutmaßung fort. Callahans Bestreben mich am Leben zu erhalten und bei den künftigen Einsätzen als Trumpf einzuspannen passt genau ins Bild. »Ihr glaubt, ihr werdet ins Grenzgebiet beordert, um es auszukundschaften und die Surges zu zerstören. Doch der eigentliche Grund ist ein anderer. Ihr sollt in erster Linie eine sichere Passage in die Stadt finden. Und da komme ich ins Spiel. Ich soll euch sicher nach Elverston bringen. Leider weiß ich jedoch nicht, wie man die Surges ausschaltet und erst recht nicht, wie man den Zaun und die Mauer überwindet, ohne als ein Häuflein Asche zu enden. Ich verbrachte die letzten Jahre fast ausschließlich am Schreibtisch. Ich habe zwar die Roboter programmiert, aber sie nie in den Einsatz geschickt und von den Befestigungsanlagen habe ich keinen blassen Schimmer.«
Daiven riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Du meinst, wir sind für Callahan nur Schwertfutter? Das kann doch nicht sein. Das ergibt keinen Sinn. Seit wann glaubt er denn, dass wir in die Stadt eindringen könnten? Wir sind den Soldaten zahlenmäßig weit unterlegen und haben nicht mal die notwendigen Waffen dafür. Das käme einem Himmelsfahrtkommando gleich. Unsere Aufgabe lautete stets: Die Umgebung ausspionieren und die Surges zerstören.«
»Fällt dir dabei nichts auf?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage und die Antwort zeichnete sich allmählich vor meinem inneren Auge ab.
Daiven zuckte mit den Schultern.
»Es wäre niemals möglich, alle Surges zu vernichten. Ihr erwischt einige und in der gleichen Zeit werden mehrere Dutzend neu gebaut und programmiert. Elverston besitzt eine Menge Ressourcen, die so schnell nicht erschöpfen. Außerdem ist die Grenze ein unüberwindbares Hindernis. Der Luftraum ebenfalls. Aber Callahan setzt euch willentlich der Gefahr aus. Also muss er etwas wissen, was euch verborgen bleibt und dieses Etwas versteckt sich in der Stadt. Wir müssten nur herausfinden, was es ist. Ich denke, dass das geplante Forschungslabor dabei eine verdammt wichtige Rolle spielt. Würde er es sonst vor euch verheimlichen?«
»Vielleicht sagt er es mir, wenn ich ihn geradeheraus danach frage«, schlug Daiven Hals über Kopf vor.
»Niemals!« Ich ließ meinen Tonfall absichtlich resolut klingen und deutete mit dem Finger an die Schläfe. »Schon vergessen. Er vertraut nicht einmal Nash voll und ganz. Selbst er kennt auch nur Bruchstücke.«
Er sah mich ratlos an. »Was schlägst du vor?«
»Wir drehen den Spieß um. Sobald er glaubt, dass ich harmlos bin, wird er vielleicht nachlässig und begeht, wenn wir Glück haben, einen Fehler. Dafür spiele ich ihm den geläuterten Gefangenen und braven Rebellen vor, der sich mit seinem neuen Schicksal abfindet. Du tust weiterhin so, als würdest du mich ausbilden. Er muss denken, uns beide im Griff zu haben. Jetzt kommt mir wenigstens mal meine Zeit in der Militärakademie zu Gute.«
»Du warst auf der Militärakademie?« Wieder einmal hatte ich es geschafft, Daiven zu überrumpeln.
»Nur ein paar Monate. Sie mussten meine Komponenten testen. Was eignet sich dazu am besten. Richtig! Militärischer Drill.«
»Du sagtest eben Komponenten?« Daivens Blick wirkte eher interessiert als angewidert. Es fühlte sich so unendlich gut an, dass er mich so akzeptierte, wie ich war.
»Neben meinem Arm habe ich noch zwei künstliche Beine und ein verbessertes Auge, das sogar Infrarot sehen kann. Man hat extra darauf geachtet, dass die Iris dem meiner natürlichen Augenfarbe bis ins letzte Detail gleicht. Bei deinem kleinen Gewaltmarsch ist mir allerdings klar geworden, dass ich total aus der Form bin und mehr Übung brauche. Die Beine funktionieren wunderbar, aber meine Pumpe kommt nicht mehr mit.« Ich lächelte, als Daiven sich von Neugier erfüllt nach vorne beugte und mir in die Augen sah. Mir lief ein wohltuender Schauder über den Rücken. Er zog mich von Minute zu Minute mehr in seinen Bann.
»Welches ist es? Ich kann keinen Unterschied feststellen.«
»Das Linke.« Mit besagtem Auge zwinkerte ich ihm zu und knuffte ihm in den Oberarm. »Gib’s zu, mein Blick ist zum Verlieben.«
»Wunschdenken«, gab er taff zurück und lachte ausgelassen. »Wenn du so von dir überzeugt bist, findest du ja vielleicht bald deine Traumfrau bei uns.«
»Traumfrauen existieren nicht«, mokierte ich mich beleidigt und zog einen Schmollmund.
»Dann vermittel ich dich an Lio. Er ist versessen darauf andere zu verkuppeln.«
Trotz seiner Worte ergriff Daiven unverhofft meine nicht künstliche Hand. Sachte streichelte er mit dem Daumen über die Haut. Sofort verspürte ich ein leichtes Prickeln an der Stelle, an der er mich berührte und eine angenehme Wärme ergriff von mir Besitz. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich war von Daivens faszinierendem Anblick gefangen. Er schenkte mir ein verheißungsvolles Schmunzeln, ließ mich jedoch los. Er war noch nicht bereit, einen Schritt weiterzugehen.
Ich war enttäuscht. Auf der anderen Seite verstand ich ihn. Er musste eine Menge verdauen. Zudem ging er nicht so locker mit seiner Gesinnung um, wie ich es tat. Ich ahnte, dass er vermutlich schon lange seine wahre Sexualität versteckte und es für ihn nicht einfach war, über den eigenen Schatten zu springen. Wollte ich diesbezüglich vorwärtskommen, musste ich mich auf die nächste Stufe wagen. Langsam näherte ich mich seinem Gesicht und hauchte Daiven einen sanften Kuss auf die Wange. Er zuckte nicht zurück.
»Danke«, hauchte ich ihm ins Ohr und strich ihm liebevoll über die Wange. Danach lehnte ich mich an den kalten Felsen.
Dieses Mal schämte sich Daiven nicht. Ich beobachtete neugierig, wie er mit den Fingerspitzen über die Stelle fuhr, an der ich ihn berührt hatte.
»Für was?«, fragte er tonlos.
»Für dein Vertrauen.«