Kapitel Vierzehn
* * * * *
Adam
Rastlos wanderte ich durch den Hauptraum in Sophies bescheidenem Heim. Er war eine Mischung aus Wohnbereich, Küchenzeile und Arbeitszimmer. Daran grenzte ein winziges Schlafzimmer mit Bad. In Elverston wäre so etwas höchstens als Obdach für verarmte Bürger durchgegangen. Wie ich jedoch inzwischen wusste, galten hier andere Maßstäbe.
Lio hatte mir erklärt, dass die Räumlichkeiten seiner Mutter zu den besten Unterkünften für Familien gehörte, da das Haus wie die Quartiere der Soldaten aus Ziegeln gebaut worden war. Die restlichen Wohnhäuser waren alle aus Holz.
Seufzend sah ich mich um und konzentrierte mich auf das einzige Fenster im Raum. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich jetzt lieber Daivens Zimmer inspiziert, doch meine Neugier musste leider warten. Ich beendete mein nervöses Herumtigern und stierte mit verschränkten Armen ins Freie. Erst vor Kurzem war die Sonne aufgegangen und ihr Licht drang allmählich ins Innere der Behausung. Die zunehmende Helligkeit ließ mein derzeitiges Versteck nicht mehr ganz so trostlos wirken. Leider war ich zurzeit allein und diese Tatsache verstärkte meine Unruhe nur noch.
Caren war wie jeden Morgen zur Arbeit in die Kantine gegangen. Daiven war ihr gefolgt, da er herausfinden wollte, was die Rebellen über den Vorfall der letzten Nacht wussten. Kurz nach den beiden war auch Lio verschwunden. Er wollte seine Mutter suchen, um mit ihr noch einmal über alles zu reden. Meinem Zeitgefühl nach zu urteilen, lag das alles eine halbe
Ewigkeit zurück, doch die Uhr an der Wand verriet, dass bisher nur eine Stunde vergangen war.
»Verdammt! Warum lasst ihr mich hier versauern?« Verärgert schnaubend beobachtete ich eine kleine Gruppe Kinder, die vor dem Fenster herumtollten. Fröhlich lachend warfen sie sich gegenseitig einen Ball zu. Bei ihrem unbekümmerten Anblick spürte ich einen eigenartigen Stich in der Magengegend.
Meine Kindheit war komplett anders verlaufen. Unbeschwertes Spielen war mir nach dem Tod meiner Mutter untersagt worden. Ich hatte den Großteil meiner Zeit in den Laboren von Liberty Station
verbracht. Der einzige Kontakt zu Menschen war der zu den Privatlehrern und Wissenschaftlern gewesen. Die wenigen Stunden, die mich mein Vater gnädigerweise zu Hause verbringen hat lassen, waren fast noch schlimmer als so manches grauenhafte Experiment. Brent Lamont beherrschte die Methode von psychischer Misshandlung in Perfektion. Oft war es so schlimm, dass ich mich fast ins Laboratorium zurücksehnte. Dort wusste ich wenigstens, was auf mich zukam.
»Liberty Station
!«, spie ich hasserfüllt aus und es schüttelte mich am ganzen Körper. Ein widersprüchlicherer Name für den Ort, den ich mit den grausamsten Schmerzen der Welt verband, war Brent Lamont nicht eingefallen. Er nannte die Laboratorien pragmatisch nach seinem Manifest, in dem er den Weg zum ewigen Leben niedergeschrieben hatte.
»Aber warum ist Callahan im Besitz des Buches?«, murmelte ich laut und verdrängte die quälenden Erinnerungen an die Experimente. Dass ich die Torturen überlebt hatte, war einzig dem Hass auf meinem Vater geschuldet. Ich hatte mich regelrecht an den Gedanken der bitteren Rache geklammert und damit einen unbändigen Lebenswillen entwickelt. Die Gelegenheit zur Vergeltung war im Moment in weite Ferne
gerückt. Dennoch würde ich alles daran setzen, mir diesen Wunsch zu erfüllen, zumal ich zum ersten Mal in meinem Leben im Vorteil zu sein schien.
Lamont ging mittlerweile bestimmt davon aus, dass ich in Withergate im Sterben lag oder noch besser längst das Zeitliche gesegnet hatte. Er hatte persönlich vor dem Justizrat die Verbannung und das damit verbundene Todesurteil über mich ausgesprochen. Wenn er wüsste, wo ich mich derzeit aufhielt und was ich inzwischen herausgefunden hatte, würde er einen Tobsuchtsanfall bekommen.
Ich schmunzelte. Es war nicht leicht, Brent Lamont auf die Palme zu bringen. Er rastete nur selten aus. Im Gegenteil, je ruhiger er wurde, desto gefährlicher wurde es. Dann musste man auf der Hut sein. Denn ohne mit der Wimper zu zucken erteilte er Befehle, die mit ungeheuerlichen Schmerzen oder gar mit dem Ableben eines Menschen einhergingen.
Sollte ich ihm jemals wieder in die Augen blicken, dann sicherlich nicht unbewaffnet. Mir drängte sich die Frage auf, ob Sophie in ihrer Zeit in Elverston je auf Lamont getroffen war. Sogleich verwarf ich den Gedanken wieder, denn es war äußerst abwegig. Die Stadt war extrem weitläufig und beherbergte über eine halbe Million Menschen.
Dennoch war Liberty Station
für Sophie ein Begriff. Kannte sie die Laboratorien, die weitab von der Innenstadt verborgen im Untergrund lagen?
Ich schüttelte den Kopf. Selbst in Elverston wussten von diesem Ort nur Eingeweihte. Trotzdem hatte sie das Schlüsselwort benutzt, um mir zu verdeutlichen, dass ich der Person, die hinter der Nachricht steckte, vertrauen konnte. War es womöglich doch der Fall, dass sie Lamont kannte und wusste, was er in den Tiefen der Katakomben tatsächlich tat? Oder hatte sie ihre Informationen von Callahan? Falls ja, wie und was wusste er von den Laboratorien tatsächlich?
Frustriert schüttelte ich erneut den Kopf. Das Ganze ergab keinen Sinn. Callahan besaß das Tagebuch meines Vaters und daraus folgerte ich, dass sie sich entweder persönlich gekannt oder Callahan ihm das Buch aus einem mir undurchschaubaren Grund gestohlen hatte. Wie auch immer, ich tappte vollkommen im Dunkeln. Deshalb beschloss ich, mir Klarheit zu verschaffen, und dazu standen zwei Optionen zur Auswahl.
Erstens: Ich befragte Callahan, was ich sofort ausschloss. Zweitens: Ich musste Sophie, sobald sie nach Hause kam, mit Fragen löchern und darauf drängen mir Rede und Antwort zu stehen. Denn ich hatte das untrügliche Gefühl, dass sie mehr wusste, als sie bisher preisgegeben hatte. Und das war mehr als verdächtig, denn selbst in Elverston hatte niemand Kenntnisse von den Experimenten, außer man gehörte zu den Wissenschaftlern oder war eines der verdammten Versuchsobjekte.
Die verflixte Grübelei versetzte mich gedanklich in eine Zeit zurück, die ich hatte vergessen wollen. Schmerzlich erinnerte ich mich an die Versuchsgruppe Epsilon und an die weiteren achtundzwanzig Kinder, die dazu gehörten. Margee war mir von allen am besten im Gedächtnis geblieben. Trotz den unüberwindbaren Gitterstäben zwischen unseren beiden Zellen hatten wir Freundschaft geschlossen. Als man sie brachte, war sie gerade einmal fünf Jahre alt gewesen. Von Anfang an hatte ich mich darüber gewundert, wie ein solch zartes und zierliches Mädchen alles so tapfer ertragen konnte. Es war ein Wunder, dass sie so lange überlebte. In der letzten Phase der Prozedur hatte ihr Körper schließlich aufgegeben. Das war kurz nach ihrem zwölften Geburtstag geschehen.
Wutschnaubend ballte ich die Hände zu Fäusten und ging erneut zu einem unkontrollierten Herumtigern über. Ich benötigte dringend etwas, womit ich mich ablenken konnte. Denn nicht nur die Erinnerungen an meine Kindheit nagten an
mir, sondern auch die Ungewissheit über Daivens derzeitigem Aufenthaltsort. Ich hoffte inständig, dass er bei seinen Nachforschungen nicht aufgeflogen war.
Schon bei unserer ersten Begegnung im Wald hatte er mich mit seiner Art fasziniert. Nach unserem Kuss am Fluss war es dann völlig um mich geschehen. Nicht nur, weil er meine Gefühle erwidert hatte. Ich hatte instinktiv gespürt, dass wir beide füreinander bestimmt waren. Wir waren wie Yin und Yang. Zwei entgegengesetzte Kräfte, die sich zusammen ergänzten. Genau so sah ich uns. Daiven, der unerschrockene Kämpfer und ich, der pragmatische Computerfreak. Gemeinsam war es denkbar, der Hölle namens Tibermore Point und den Fängen Callahans zu entfliehen. Wohin stand noch nicht fest, aber dass wir nicht bleiben konnten, war unumstritten. Ich wollte und konnte nicht zulassen, dass Callahan Daiven weiterhin als Werkzeug für seine kranke Ideologie benutzte. Daiven würde am Ende gegen ihn verlieren und das musste ich verhindern. Doch nicht nur ihn galt es zu beschützen. Auch Lio und Caren waren in Gefahr. Über Sophie dachte ich nicht großartig nach. Sie hatte uns zwar die Flucht aus dem Hauptgebäude ermöglicht, trotzdem traute ich ihr nicht über den Weg.
Erschöpft wandte ich mich dem schmalen Sofa zu und setzte mich. Die zurückliegenden Ereignisse hatten uns allen Schlaf gekostet und langsam nahm die Müdigkeit von mir Besitz.
Trotz der Übermüdung hasste ich es, untätig hier festzusitzen und nicht zu wissen, was draußen vor sich ging. Einen flüchtigen Moment dachte ich an die Möglichkeit, mich heimlich in Sophies vier Wänden umzusehen. Das wiederum würde sich Lio gegenüber jedoch wie Verrat anfühlen. Schließlich war es einmal sein Zuhause gewesen. Seine Launen waren zwar etwas gewöhnungsbedürftig, dennoch hatte er mir bewiesen, dass er ein treuer Kamerad und nicht umsonst Daivens bester Freund war.
Seufzend stand ich auf und ging zur Tür. Ich zögerte kurz, doch dann öffnete ich sie. Niemand hatte mir verboten über den Stützpunkt zu laufen. Zudem war ich auch kein Gefangener mehr. Ray Callahan hatte Daiven den ausdrücklichen Befehl erteilt, mich für den nächsten Einsatz vorzubereiten. Demnach gehörte ich gezwungenermaßen den Rebellen an. Seltsamerweise gefiel mir diese Vorstellung. Somit war ich mehr oder weniger durch Zufall zu einem erklärten Gegner meines Vaters geworden.
Mit einem breiten Grinsen schloss ich die Tür hinter mir und schlenderte los. Ich folgte einem schmalen ausgetretenen Pfad, der mich von dem etwas abseits gelegenen Haus mitten hinein in das Wohnviertel der Familien führte. Bereits um diese frühe Uhrzeit herrschte geschäftiges Treiben.
Nach ein paar gezielten Fragen an die überraschten Bewohner fand ich ohne Probleme den Weg in die Kantine. Mein Magenknurren war nicht mehr zu ignorieren und Caren würde mir sicherlich etwas zum Essen geben. Die verächtlichen Blicke der überwiegend männlichen Rebellen prallten an mir ab. Dennoch sagte niemand ein Wort zu mir und das gefiel mir. Auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte ich mich unantastbar. Um mein Glück nicht unnötig herauszufordern, hielt ich geradewegs auf die Essensausgabe zu.
Caren erkannte mich schon von Weitem. Sie war dabei Eier und Speck nachzufüllen und sah mich verwundert an. »Was tust du denn hier?«, flüsterte sie mir zu, als ich wie jeder andere in der Warteschlange an der Reihe war.
Ich grinste. »Ist das nicht offensichtlich? Bitte gib mir eine extra große Portion. Ich bin kurz vorm Verhungern.«
»Wo sind die anderen?«, erkundigte sich Caren, während sie meinem Wunsch nachkam.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, du wüsstest mehr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung. Übrigens, Brot und Kaffee gibt es dort drüben.« Sie deutete zu besagter Stelle und wandte sich dem Nächsten zu, bevor unsere Unterhaltung Aufsehen erregte.
Ich verschlang gerade das Frühstück, als Lios Verlobte mit einer Tasse dampfenden Tees in der Hand an meinem Tisch Platz nahm. Sie zwinkerte mir zu und fuhr sich mit der Hand über den Babybauch. »Ich mache kurz Pause. Keine Sorge, meine Kollegin Ivy weiß, dass du von Daiven ausgebildet werden sollst, also wird sie keine Fragen stellen.«
Ich schenkte ihr ein Lächeln. »Ich mache mir Sorgen um die anderen. Du weißt wirklich nicht, wo sie stecken?«
»Ich dachte, ihr seid bei Sophie«, murmelte sie nachdenklich. Bevor sie weiterredete, blickte sie sich unsicher um. »Der Stromausfall ist ganz großes Thema heute Morgen. Callahan ist noch vor Sonnenaufgang mit Nash zurückgekommen und gleich in sein Büro gestürmt. Aber er lässt nichts durchsickern. Keiner weiß, was wirklich passiert ist. Nicht einmal Ivy, obwohl ihr Mann einer der Wachen war, die ihr ausgeschaltet habt.«
»Der Einbruch wird geheim gehalten. Das dachte ich mir schon. Wie geht es dem Soldaten?« Trotz meiner Worte runzelte ich die Stirn. Hoffentlich plauderte Caren nicht aus Versehen etwas aus.
»Mit dem ist alles in Ordnung. Er liegt auf der Krankenstation und wird bald entlassen. Verdammt! Wo sind Lio und Daiven?« Sie wirkte plötzlich ehrlich besorgt.
Eilig erzählte ich ihr, was ich wusste und erinnerte sie noch einmal daran, den Mund zu halten.
»Für wie blöd hältst du mich?«, erwiderte sie beleidigt.
»Ich wollte es nur erwähnen«, beschwichtigte ich sie. Mit einem Mal verspürte ich eine unbehagliche Vorahnung. »Ich werde die beiden suchen gehen. Hast du eine Idee, wo sie sein könnten?«
Caren schüttelte den Kopf. »Ich vermute stark, Daiven wurde zu Callahan zitiert. Lio könnte sich eventuell bei den Laboren aufhalten, aber sicher bin ich mir nicht. Es ist jedoch keine gute Idee, dort einfach aufzukreuzen. Am besten gehst du zurück und wartest. Ich komme in zwei Stunden nach und wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht sind, suchen wir gemeinsam nach ihnen. Einverstanden?«
Das war nicht der Plan, den ich vorgesehen hatte, dennoch stimmte ich zu. Die werdende Mutter verabschiedete sich und ich verließ ebenfalls die Kantine. Sofort sah ich mich nach einer geeigneten Stelle um, von der aus ich meine Suche unbemerkt beginnen konnte. Leider erfolglos. Überall an den Zäunen entlang standen bewaffnete Soldaten. Die anderen Bereiche waren größtenteils mit Überwachungskameras ausgestattet.
Frustriert drehte ich mich einmal im Kreis, bis mir das Stromkraftwerk ins Auge fiel. Nicht weit davon hatten wir uns vor wenigen Stunden mit Sophie getroffen. Vielleicht fand ich dort einen Hinweis. Ich musste nur rechtzeitig zurück sein, bevor Caren von der Arbeit kam.
Als ich die Stelle erreichte, war ich erstaunt, wie anders die kleine Lichtung am Uferbereich des Flathead Lakes im Tageslicht wirkte. Sie lud zum Verweilen ein und genau das tat ich auch. Kurz entschlossen ging ich zum Ufer, hob ein paar Steine auf und warf sie ins Wasser. Fasziniert beobachtete ich die wellenförmigen Kreise, die ich dabei auslöste, dann ergriff mich erneut eine besorgniserregende Vorahnung, die sich von Minute zu Minute intensivierte.
Die wirrsten Gedanken spukten mir durch den Kopf. Ich sah Daiven in Callahans Büro stehen, während er ihm die Aufnahmen der separaten Kamera über der Tür präsentierte. Sophie prahlte damit, uns festgenagelt zu haben, und Lio und ich würden nicht davonkommen. Soldaten suchten bereits nach uns.
Panisch spähte ich zurück zum Stützpunkt. Doch dort schien jeder seinem Alltag nachzugehen. Von einer hektischen Suchaktion war nichts zu erkennen. Kopfschüttelnd verwarf ich die Vorstellung und schimpfte mich einen Narren mit zu viel Fantasie. Obwohl ich Sophie weder mochte, noch ihr völlig misstraute, würde sie Lio und Daiven unter keinen Umständen an Callahan ausliefern, davon war ich überzeugt. Ebenso wenig Nash. Sie hatte zwar bei der Apexsitzung dieses unkalkulierbare Risiko in Kauf genommen, aber ein kleiner Funke in mir sagte, dass sie sich um ihren älteren Sohn trotzdem sorgte.
All die Überlegungen brachten mir keine Ruhe. Ich musste mich ablenken, daher entschied ich mich, weiter am Ufer entlang zu gehen. Mit mäßigen Erfolg. Immer wieder kehrten die Bilder von Daiven und Lio zurück, die in der Falle saßen. Meine Gedanken zogen mich derart tief ins Unterbewusstsein, dass ich nichts mehr um mich herum wahrnahm. Als ich nach einer ganzen Weile in die Realität zurückkehrte, stand die Sonne fast im Zenit und ich wusste nicht, an welcher Stelle des Sees ich mich befand. Von einer inneren Unruhe befallen sah ich mich um, bis ich erleichtert Timbermore Point in der Ferne entdeckte. Ich schätzte, dass ich drei oder vier Kilometer zurückgelegt hatte.
In dem Moment, in dem ich den Rückweg antreten wollte, vernahm ich ein lautes Rascheln hinter mir. Erschrocken wandte ich mich um, als im gleichen Augenblick eine stöhnende Gestalt aus dem Gebüsch stolperte. Der Körper war blutverschmiert und die Kleidung hing ihm in Fetzen herab. Leicht panisch fuhr ich zusammen, bis ich feststellte, dass die Person nicht mir nachjagte, sondern selbst der Gejagte war. Dann erst erkannte ich, wer es war, und mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. »Daiven!«, rief ich schockiert und rannte auf ihn zu.
Mein Freund fiel mir kraftlos in die Arme und ich sank mit ihm zu Boden. Ich bettete seinen Kopf in meinem Schoß und musterte ihn eindringlich. Sein Gesicht wirkte, als hätte
es jemand als Punchingball benutzt. Mehrere Schnittwunden zierten seinen Oberkörper. Entsetzt entdeckte ich weitere Verletzungen an Bauch und Beinen. Ob sie lebensgefährlich waren, konnte ich nicht einschätzen, doch seinem Aussehen nach hatte er eine Menge Blut verloren.
»Daiven! Was ist passiert?«, fragte ich hilflos mit zitternder Stimme.
Statt zu antworten, stöhnte er lediglich leise. Von Angst ergriffen, hauchte ich ihm einen Kuss auf die Stirn und flüsterte ihm zu, dass ich ihn in Sicherheit bringen würde.
»Kannst du aufstehen und laufen?«, erkundigte ich mich.
Wieder kam nur ein kaum hörbares Keuchen von ihm, doch für mich war Daivens Zustand Antwort genug. Nicht mehr lange und er würde das Bewusstsein verlieren. Eilig stand ich auf, nutzte die Kraft meines künstlichen Armes und legte ihn mir so behutsam wie möglich über die Schultern. Sein dennoch schmerzerfülltes Ächzen versetzte mir einen qualvollen Stich ins Herz. Ihn so zu sehen und nicht zu wissen, wie es um ihn stand, war schwerer zu ertragen, als die Apexsitzung mit Nash. Er benötigte dringend medizinische Hilfe und die bekam er in Timbermore Point. Nach ein paar Schritten hatten meine kybernetischen Beine das zusätzliche Gewicht nachkalibriert und ich erhöhte das Tempo. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, nicht mehr zu hundert Prozent menschlich zu sein.
Während ich zurück zum Stützpunkt rannte, redete ich beruhigend auf ihn ein, wusste aber nicht, ob er mich hörte. In erster Linie tröstete ich mich jedoch selbst. Falls er tödlich verletzt wäre, würde ich es mir niemals verzeihen können. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er heute Morgen alleine loszog.
Es dauerte nicht lange und ich erreichte den Ausgangspunkt meiner Wanderung. Einer Intuition folgend brachte ich Daiven nicht auf die Krankenstation, sondern steuerte Sophies Haus an. Noch wusste ich nicht, wer ihm das angetan hatte. Hätte
Callahan die Hand im Spiel, würde ich ihn auf direktem Weg wieder ausliefern. So gut wie möglich in Deckung bleibend, nahm ich mehrere Umwege in Kauf, bis ich erleichtert die Tür aufstieß und ins Innere der Hütte stolperte.
Caren, die längst von ihrer Arbeit zurückgekehrt war, sprang mit entsetzter Miene auf. »Verfluchte Scheiße! Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht. Hilf mir!« Mein Puls raste und ich atmete hektisch. Gemeinsam legten wir Daiven aufs Sofa. Er hatte die Augen geschlossen. Nicht zu wissen, wie es um ihn stand, war ein beängstigendes Gefühl. Ich setzte mich zu ihm und ergriff seine Hand. Sie war kalt. Meine Sorge wuchs und mit ihr die Angst, dass der Schuldige draußen herumlief und nach ihm suchte, um zu beenden, was er angefangen hatte.
»Er muss dringend medizinisch versorgt werden«, sagte Caren pragmatisch und ging auf die Tür zu.
»Warte«, hielt ich sie auf. »Kein Arzt. Wir wissen nicht, wer das war. Sollte Callahan dahinterstecken, bringen wir ihn in erneut Gefahr.«
Sie starrte mich entsetzt an. »Wie kommst du darauf? Hat Daiven etwas gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er konnte mir nichts verraten, aber abwegig wäre es nicht.«
Caren nickte betrübt, dann hellten sich ihre Gesichtszüge etwas auf. »Dann hole ich Sophie!«
»Bist du sicher? Hat sie überhaupt die Kenntnisse, um ihn zu versorgen?« Ich war nicht überzeugt, dass sie die Richtige für diese Situation war. Was, wenn er außer den Schnittwunden innere Verletzungen davon getragen hatte?
»Wer sonst?«, stellte Caren vollkommen überzeugt die Gegenfrage und stürmte ins Freie.
Frustriert über meine eigene Hilflosigkeit rief ich ihr nach, sie sollte sich beeilen. Ich nutzte die Wartezeit, um mir Daivens
Verletzungen genauer anzusehen. Nur widerwillig ließ ich seine Hand los und löste behutsam den Fetzen vom Oberkörper, der einmal ein Uniformhemd gewesen war. Die Wunden schienen offensichtlich nicht all zu tief zu sein, aber schwerwiegend genug, um ihn außer Gefecht zu setzen. Am Oberarm hatte der Angreifer ganze Arbeit geleistet. Das Tattoo des feuerspeienden schwarzen Drachens war regelrecht herausgeschnitten. Ich wusste, wie viel Daiven das Abzeichen seiner Einheit bedeutete. War es nur zufällig Ziel des Angriffs gewesen oder wurde es gezielt ausgewählt? Ich tendierte zu zweiterem, so präzise wie es entfernt wurde. Doch warum und wer steckte dahinter?
Während ich mir darüber den Kopf zerbrach, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ich erinnerte mich deutlich an die Zeit zurück, als Nash und ich auf der Krankenstation lagen. Bevor Daiven aus dem Raum geflüchtet war, hatte Nash ihm gedroht. Ich kannte sogar noch den genauen Wortlaut. Beim nächsten Mal würde er dafür sorgen, dass Daiven keine Ausrede fand, ihn abzuweisen.
Geschockt fragte ich mich, ob ich gedanklich der richtigen Spur folgte. Von der Hand weisen konnte ich den Verdacht leider nicht. Ich hatte Daiven bei unserem Zwei-Tages-Marsch nicht umsonst vor Nash gewarnt. Sollte ich recht behalten, würde ich mir das Arschloch krallen.
Von Rachegedanken erfüllt stand ich auf und suchte verzweifelt nach etwas, womit ich Daiven notdürftig versorgen konnte. Fündig wurde ich im Bad. Ich nahm den kleinen Erste-Hilfe-Koffer mit zum Sofa und öffnete ihn. Ich fand sterile Kompressen, mehrere Salben und einige Bandagen, sowie Desinfektionsmittel. Zufrieden tränkte ich eine der Kompressen mit dem Mittel und säuberte vorsichtig die Wunden.
Jedes Mal, wenn Daiven leise aufstöhnte, griff ich besorgt nach seiner Hand, streichelte sie behutsam und flüsterte ihm
zu, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Ich hoffte inständig, dass ich Recht behielt.
Auf einmal wurde die Tür aufgerissen. Ich drehte mich um und sah einen fassungslosen Lio auf der Schwelle stehen. Er stürmte auf uns zu und beugte sich über Daiven.
»Ich hätte wissen müssen, was er meinte, als er sagte, er suche dich. Verdammt! Es tut mir leid! Es ist mir egal, dass er mein Bruder ist. Das Schwein wird dafür büßen!«, schwor er leise schluchzend.
»War es wirklich Nash?« Aufgebracht packte ich ihn an den Schultern.
»Ja, er war es! Er hat ihm das angetan!«, stieß er zornig aus und ballte die Hände zu Fäusten.
»Bist du dir sicher?« Mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch zwang ich Lio, mich anzusehen. Obwohl ich bereits den gleichen Verdacht gehegt hatte, hoffte ich tief in meinem Inneren, dass ich mich irrte.
Am ganzen Körper bebend, schlug er meine Hände fort und nickte. »Ich traf Daiven zufällig, als ich auf der Suche nach Mum war. Er kam gerade von Callahan und war auf dem Weg zu dir. Der Scheißtyp war mehr als sauer und hat Daiven beauftragt, die miesen Verräter zu finden und kalt zu stellen. Kurz darauf lief mir Nash über den Weg. Er war wie immer und suchte nach Daiven. Hätte ich ihm bloß nicht gesagt, wohin Daiven wollte. Ich vermute, er hat ihn erwischt, bevor er das Haus erreichte.« Als er sprach, vibrierte seine Stimme. Ob aus Wut auf Nash oder aus Sorge um Daiven oder einer Mischung aus beidem konnte ich nicht sagen.
»Mit Sicherheit kannst du es nicht sagen ...«, presste ich zähneknirschend hervor und konnte meinen anwachsenden Zorn kaum im Zaum halten.
Lio drückte sanft Daivens Hand. »Du musst uns verraten, ob Nash dir das angetan hat.«
»Erstmal wird er euch gar nichts sagen!«, ertönte Sophies Stimme hinter uns. Sie stürmte gefolgt von Caren herein und jagte uns zur Seite. »Raus mit euch! Wir übernehmen das.«
»Mum!«, empörte sich Lio, doch ich griff nach seinem Oberarm und zog ihn weg.
Obwohl es mir selbst nicht behagte, musste ich Sophie bedauerlicherweise zustimmen. Wir standen nur im Weg herum.
»Los! Verschwindet!«, rief sie uns barsch zu und krempelte die Ärmel hoch. Äußerst besorgt bat sie Caren, ihr zu assistieren.
Lios Verlobte warf uns einen tröstenden Blick zu. »Macht schon! Wir können euch jetzt echt nicht gebrauchen!«
Mit einem miesen Gefühl in der Magengegend gab ich seufzend nach. Innerlich war ich zerfressen vor Sorge. Aber ich wusste, beide Frauen hatten recht. Schweren Herzens schnappte ich mir Lio und zog ihn unter Protest ins Freie.