Kapitel Fünfzehn
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Adam
»Wartet, ihr Wichser! ... Ihr seid die Nächsten! Euch zerlege ich in Einzelteile ...«, spie Nash uns herausfordernd entgegen.
Ich beendete seine wüsten Beschimpfungen mit meiner kybernetischen Faust. Meine komplette Wut in den Schlag hineinlegend, traf ich ihn mit voller Wucht am Unterkiefer. Sein Kopf ruckte zur Seite und die Unterlippe platzte auf. Gewissensbisse verspürte ich keine. Nash hatte für das, was er Daiven angetan hatte, weitaus mehr verdient.
Statt wie erhofft die Besinnung zu verlieren, lachte er gehässig auf und leckte sich das Blut aus dem Mundwinkel. Dabei erweckte er den Anschein, als hätte ich ihn bloß gestreift.
»Was sollte der Angriff auf Daiven? Weißt du überhaupt, was du getan hast?«, donnerte ich ihm aufbrausend zu.
Inzwischen stand Nash zweifelsfrei als Täter fest. Nachdem uns Sophie mitgeteilt hatte, dass Daiven nicht in Lebensgefahr schwebte, hatten wir ihn kurz besuchen dürfen. Er war für wenige Minuten ansprechbar gewesen und hatte uns Nash als Angreifer genannt. Letztendlich stellte sich heraus, dass ein Streit der beiden außer Kontrolle geraten war.
Völlig aus der Bahn geworfen und mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch, war es Lio und mir gelungen, Nash aufzuspüren und festzusetzen. Wobei das Überraschungsmoment eine Rolle gespielt hatte. Oder es war nur Zufall gewesen? Da Lio ihn in seinem geheimen Liebesnest vermutete, war ich ihm ohne zu zögern durch die Büsche gefolgt. Wie erwartet fanden wir ihn auf der kleinen vom Ufer kaum einsehbaren Lichtung am See. Mit einem zufriedenen
Gesichtsausdruck hatte er sich unbekümmert in der Sonne an einen Baum gelehnt. Man hätte fast denken können, er hätte uns erwartet.
»Was willst du Stück Scheiße von mir? Etwa eine Entschuldigung? Sei froh, dass der Schlappschwanz am Leben ist!« Sein höhnisches Lachen fuhr mir durch Mark und Bein. In diesem Moment wirkte er eiskalt. Beinahe wie ein Surge und nicht wie ein Mensch.
Seine herabwürdigende Aussage ließ mich vor Wut am ganzen Körper zittern. Ich spielte mit dem Gedanken seine blasierte Visage mit weiteren Fausthieben zu bearbeiten. Bevor ich mein Vorhaben jedoch in die Tat umsetzen konnte, stellte sich Lio zwischen uns.
»Du Arschloch! Findest du das etwa witzig? Ist dir nicht klar, dass du Daiven fast getötet hättest?«, brüllte er seinem Bruder entgegen, dabei spannte er die Schultern an und ballte die Hände zu Fäusten.
»Reg dich ab! Ihr habt mir eben gesagt, dass er es überleben wird. Also was wollt ihr von mir?«, erkundigte er sich achselzuckend.
Das brachte bei Lio das Fass endgültig zum Überlaufen. Wutentbrannt fiel er über seinen Bruder her und hieb und trat mit ungezügelter Raserei auf ihn ein. Zuerst wollte ich Daivens besten Freund aufhalten, doch ich konnte es nicht. Ich verspürte Genugtuung. Es war die angemessene Vergeltung für Nashs widerlichen Übergriff. Dennoch war ich fassungslos, dass der Kerl kein einziges Mal mit der Wimper zuckte und sein spöttisches Grinsen beibehielt. Fast so, als würde er den Schmerz genießen.
Nach Atem ringend ließ Lio schließlich von ihm ab. Seine Fingerknöchel waren blutig. Er war mit seinem Bruder alles andere als zimperlich umgegangen. Nash lag mit einer
Platzwunde am Kopf auf dem Boden. Allerdings zeigte er weiterhin keine Reue.
»Verdammt, er ist dein Freund! Wie konntest du ihm gegenüber derart die Beherrschung verlieren?«, platzte es aus mir heraus. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sich Daiven gefühlt haben musste, während Nash ihn in seinen Klauen hatte. Umso grimmiger fixierte ich ihn mit meinem Blick. Doch Nash ignorierte uns und rappelte sich grinsend auf.
In diesem Moment wurde mir klar, dass wir bei Nash mit roher Gewalt nichts ausrichten würden. Lios Schläge waren wirkungslos an ihm abgeprallt, genau wie mein Fausthieb zuvor. Nash würde weiterhin jeden Schmerz stoisch herunterschlucken, um zu beweisen, dass er der Stärkere war. Wohin das letztendlich führte, hatte ich einst am eigenen Leib erlebt.
Genau so hatte ich mich in den Laborsitzungen verhalten. Mein indolentes Verhalten war für mich zu einem Schutzschild geworden. Ich hatte schnell gelernt, dass jeder kleinste Anflug von Schmerz unweigerlich weitere Qualen nach sich zog. Deshalb hatte ich damals alles über mich ergehen lassen und war bis auf einige Ausnahmen recht erfolgreich damit gewesen.
Diese Gedanken und aufwühlenden Gefühle hatten sich scheinbar in Nash festgesetzt und er lebte sie nun willkürlich aus. Er wurde von dem hemmungslosen Hass auf meinen Vater, den ich bis heute tief in mir verwahrte, regelrecht überrollt, und hatte dem Verlangen nach Rache nachgegeben. Ohne seine Tat damit verharmlosen zu wollen, hatte er seine Wut, die eigentlich die meine war, bei der nächstbesten Person ausgelassen und Daiven war der Leidtragende des Ganzen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Ich schloss kurz die Augen. So mies wie jetzt, hatte ich mich noch nie gefühlt. Mir wurde übel und mein Herz raste. Ich spürte die aufkeimende Schuld schwer auf den Schultern
lasten, obwohl der wahre Täter Ray Callahan hieß. Er war es, der den Apex für seine Zwecke an uns genutzt hatte, ohne seine Funktionsweise zu kennen. Zu gerne hätte ich ihm auf der Stelle eine Kostprobe der eigenen Skrupellosigkeit verpasst. Irgendwie gelang es mir, mich zusammenzureißen und wieder einen klaren Gedanken zu fassen. In erster Linie musste es uns gelingen, Nash für eine Zeitlang ruhig zu stellen, um einen Plan schmieden zu können.
Nashs Gehirn war momentan ein Wirrwarr aus Gedanken und Gefühlen, das dringend geordnet werden musste. Erst dann würde ihm bewusst werden, was er getan hatte. Wobei mir meine Menschenkenntnis verriet, dass er diesen Angriff nie ausgeführt hätte, wäre er er selbst. Innerlich fühlte ich mich für ihn und seine Tat verantwortlich.
»Ich fürchte, auch wenn du ihn zu Brei schlägst, führt das zu nichts. Damit ist Daiven nicht geholfen«, sagte ich geknickt und erntete von Lio einen fragenden Blick. Seine Miene verhärtete sich und er blickte zwischen Nash und mir hin und her.
»Du meinst, ich soll ihn einfach davonkommen lassen?«, fragte er schließlich fassungslos.
»Ich sag’s nur ungern ... aber ich glaube, Nash weiß nicht einmal, was er getan hat. Das heißt nicht, dass er unschuldig ist. Sieh ihn dir aber mal genau an. Er befindet sich in einer völlig anderen Welt. Vermutlich versteht er nicht einmal, was wir ihm vorwerfen.«
Erstaunlicherweise kam Lio meinem Rat ohne auszurasten nach. Lediglich sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich.
»Callahan! ... Der Apex!«, schlussfolgerte Lio richtig.
Ich nickte bekümmert, denn meine unheilvolle Vorausahnung war bitterer Ernst geworden. Beinahe hätte sie mit dem Tod von Daiven geendet.
Plötzlich trat Nash mit einem siegessicheren Lächeln vor uns. Seine Blessuren schienen ihn nicht im Geringsten zu stören.
»Wisst ihr eigentlich, dass Callahan über euren Einbruch im Bilde ist?«, fragte er höhnisch.
Entsetzt sog ich die Luft ein und starrte ihn mit großen Augen an. Mein Puls raste, als würde mich eine ganze Horde fleischfressender Dinosaurier jagen.
»Was redest du da für eine Scheiße?«, brüllte Lio ihn an und zog mich dabei ein Stück zur Seite. »Will er uns testen?«, flüsterte er mir ins Ohr.
»Keine Ahnung ...«, antwortete ich wahrheitsgemäß und beobachtete Nash aufmerksam, der entspannt die Arme vor der Brust verschränkte und sich an den nächstgelegenen Baum anlehnte.
»Ihr glaubt mir nicht, stimmt’s?«
»Von wem stammt die Information?«, erkundigte ich mich vorsichtig und versuchte, das leichte Zittern in meiner Stimme zu kontrollieren. Es war unmöglich, dass Callahan die Wahrheit kannte, außer Sophie hätte uns getäuscht und es ihm erzählt. Doch mein Instinkt sagte mir, dass sie nichts verraten hatte, denn dann hätte sie sich als Mittäterin offenbart.
»Schon mal was von Back-up-Dateien gehört, Freak? Die hast du wohl vergessen, meine Mum übrigens auch! Callahan platzte vor Wut, als er die Aufnahmen gesehen hat.« Nash lachte markerschütternd. Seine Haltung verriet mir, dass er genau wusste, wovon er redete. Dennoch bestand die Eventualität, dass er uns testete, um Beweise zu finden, die uns ans Messer lieferten.
»Was genau gab es denn da zu sehen? Konnte man überhaupt etwas erkennen? Soweit ich mitbekommen habe, war doch der Strom ausgefallen«, hakte ich nach. Mit den letzten Funken Hoffnung, klammerte ich mich an die Möglichkeit, dass der Mistkerl bluffte. Aus den Augenwinkeln entdeckte ich, wie Lio erblasste.
Nash grinste und erzählte mit stolzer Stimme: »Es war hell genug, um zu erkennen, dass du der Arsch am Computer warst und mein Bruder und Daiven neben dir standen.«
Weder Lio noch ich hatten mit dieser unerwarteten Wendung gerechnet. Fieberhaft überlegte ich, wie es überhaupt möglich war? Ich hatte doch den Ordner vollkommen gelöscht? Oder hatte ich etwas übersehen? Hatte ich uns alle durch meine Nachlässigkeit in Gefahr gebracht?
»Falls wir das wirklich gewesen wären, warum hat Callahan uns nicht längst festgenommen?«, konterte ich. Es gelang mir nur bedingt, ruhig zu bleiben.
Lio, der sich etwas gefangen hatte, stand kurz davor, sich erneut auf seinen Bruder zu werfen.
Nash kam mit schnellen Schritten auf uns zu. »Ihr wisst, dass Verräter sterben müssen! Jeder von euch! Zuerst Daiven! Dann Mum und Caren! Natürlich auch du, mein Bruder. Und dich nehme ich mir am Schluss zur Brust ... du Freak!«
Diese Worte brachten den ohnehin brüchigen Geduldsfaden in mir zum Reißen. Ich wusste zwar immer noch nicht, wie es möglich war, dass wir aufgeflogen waren, aber die Zeit für Überlegungen war vorbei. Instinktiv schoss mein kybernetischer Arm nach vorne und ich legte ihm die Finger um den Hals. Mit Leichtigkeit hob ich Nash in die Höhe. Seine Zehenspitzen schwebten wenige Zentimeter über den Boden. Er begann wild um sich zu schlagen und rang nach Luft. Ich hatte nicht vor ihn zu erwürgen, ich wollte ihm nur so viel Angst einjagen, dass er redete.
Lio verstand meine Absicht und positionierte sich mit düsterem Blick direkt vor seinen Bruder. »Hast du den Auftrag, Daiven kalt zu stellen?«, fragte er mit frostiger Stimme.
Nash grunzte und versuchte verzweifelt meine Finger zu lösen. Vergeblich, mein Griff blieb eisern.
»Raus mit der Sprache! Ist es so? Gab Callahan dir den Befehl, Daiven zu töten?«, keifte ich ihn an.
Nashs leicht angeschwollenes Gesicht wurde röter und röter. Er röchelte nach Luft, grinste mich jedoch weiterhin diabolisch an. Zu guter Letzt verdrehte er die Augen, sodass das Weiße deutlich hervorstach. Mit all seiner Willenskraft kämpfte er einige Momente gegen die Besinnungslosigkeit an, dann wurde sein Körper schlaff. Erst jetzt lockerte ich den Griff und ließ ihn unsanft auf den Waldboden fallen.
»Verdammte Scheiße! Was machen wir jetzt?«, fluchte Lio und lief nervös im Kreis umher. »Wenn Callahan es weiß, dann sind wir erledigt!«
»Können wir Nash irgendwo einsperren?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Er ist eine tickende Zeitbombe und kann nicht frei herumlaufen. Wir müssen mit deiner Mutter reden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns verpfiffen hat.«
»Stimmt.« Trotz der Worte schien Lio nicht davon überzeugt zu sein. Er blieb stehen und sah mich an. »Es gibt einen Ort, wohin wir Nash bringen können. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist.«
»Wohin?«, erkundigte ich mich. »Wir müssen uns beeilen, bevor er wieder aufwacht.«
»Unter Mum’s Haus gibt es einen kleinen Keller. Davon weiß keiner. Aber wir müssen ihn ruhig stellen.«
»Na, damit habe ich keine Probleme. Pack ihn an den Beinen, und wir schaffen ihn erst einmal dorthin. Ich schnüre dann schon ein schönes Päckchen aus ihm.«
Ohne weitere Worte schnappten wir uns Nash. Der schlaffe Körper war schwerer als gedacht. Nichtsdestotrotz gelang es uns, ihn ungesehen bis zum Haus zu schleppen. Als wir eintraten, saß Daiven sichtlich geschwächt auf dem Sofa. Sophie und Caren waren bei ihm. Sofort ließ ich Nashs Oberkörper fallen und sein Kopf knallte unsanft auf den Fußboden. In diesem Moment
zählte nur eines für mich: Mein Freund war wach und saß ohne Hilfe aufrecht. Ich stürmte auf ihn zu und nichts und niemand konnte mich davon abhalten.
Fast der gesamte Oberkörper war mit Verbänden bedeckt. An den freien Stellen schimmerten blaue Flecken hindurch. Sein blasses Gesicht war ein Indiz dafür, dass er noch lange nicht über den Berg war. Nash hatte ganze Arbeit geleistet.
»Geht’s dir gut?« Ich kniete mich vor ihn und griff behutsam nach seiner Hand. Die Finger waren kalt, aber ich spürte Leben darin pulsieren. Ich konnte nicht beschreiben, wie glücklich ich mich fühlte, dass er aufgewacht war. Mein Herz raste vor Freude.
Anstatt zu antworten, schenkte mir Daiven ein tapferes Lächeln und drückte schwach meine Hand, um mir zu beweisen, dass es ihm den Umständen entsprechend besser ging. Als sein Blick zu Nash wanderte, der immer noch bewusstlos am Boden lag, verfinsterten sich seine hübschen Gesichtszüge.
»Was habt ihr getan?« Anklagend sah uns Sophie an. Sie kniete neben ihrem älteren Sohn und musterte ihn besorgt.
»Nichts! Dem geht’s gut, Mum. Adam hat ihn lediglich ins Land der Träume geschickt.« Lios Stimme klang emotionslos. »Wir haben ganz andere Probleme.«
Rasch berichtete er, was vorgefallen war und ich ergänzte den Rest. Niemand von uns konnte sagen, was Callahan plante und vor allem, ob Nash nicht erneut jemanden von uns angreifen würde, sobald er dazu in der Lage war. Die Bedenken bezüglich Sophies möglicher Illoyalität behielt ich vorerst für mich. Ebenso meine wachsenden Schuldgefühle.
»Großer Gott! Nash hat bestimmt nicht gelogen. Ich kenne Ray verdammt gut, wie ihr wisst. Das ist eine seiner Taktiken. Zuerst die Verdächtigen in Sicherheit wiegen, nur um dann hinterrücks zuzuschlagen. Wir müssen auf der Stelle verschwinden! Niemand ist mehr sicher.« Sophie wirkte
geschockt, und sie schien es nicht vorzutäuschen. Sie stand auf und eilte ins Schlafzimmer.
»Verschwinden? Wohin?«, rief ihr Caren nervös nach, ohne eine Antwort zu bekommen.
Wir vier tauschten einen fragenden Blick aus, da kam Sophie auch schon wieder zurück. In der einen Hand hielt sie einen kleinen Lederbeutel, den sie sich in den Hosenbund steckte. In der anderen einen Rucksack, den sie Caren zuwarf. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihre Furcht.
»Zuerst einmal weit weg von hier. Vielleicht nach Norden oder in den Süden«, erklärte sie hektisch. »Daiven? Fühlst du dich fit genug, um einen Pyrobird zu fliegen?«
»Ich?« Nicht nur er sah sie entsetzt an.
»Ich weiß, du hattest noch nicht viele Flugstunden. Aber außer Nash kann sonst niemand hier so ein Ding fliegen. Im Moment möchte aber ich aber nicht, dass er am Steuer sitzt.«
»Also mir bist du auch lieber. So wie mein Bruder drauf ist, knallt er den Vogel absichtlich gegen ’ne Wand, nur weil Callahan unsere Köpfe will«, ergänzte Lio, seinem besten Freund ein hoffnungsvolles Lächeln zuwerfend.
Daiven blickte mich verwirrt an und auch ich gab ihm nickend zu verstehen, dass es die beste Lösung sei.
»Ihr scheint euch alle einig zu sein«, seufzte er. »Dann will ich mal mein Bestes geben! Die Frage ist nur, wie wir an einen der Pyrobirds kommen? Sie werden strengstens bewacht.« Umständlich erhob er sich und ich half ihm dabei. Für einen Moment stand er wacklig auf den Beinen, dann machte ihm die Stichwunde am Oberschenkel einen Strich durch die Rechnung. Kraftlos sank er zurück aufs Sofa.
Sophie lächelte zuversichtlich. »Lass das mal meine Sorge sein. Warte, so kannst du nicht gehen.« Sie lief noch einmal in ihr Schlafzimmer und als sie zurückkam, warf sie Daiven ein Uniformhemd zu. »Zieh es über! Das ist ein Andenken von
James.« Ohne zu stoppen, eilte sie zur Küchenzeile hinüber und öffnete einen der unteren Schränke. Dort betätigte sie einen Mechanismus und eine Geheimkammer öffnete sich. »Lio. Adam. Helft mir mal.«
Sie drückte uns mehrere Handfeuerwaffen, Granaten und drei Funkgeräte in die Hand. Verblüfft teilten wir die Sachen unter uns auf. Sophie hastete auf die andere Seite des Raumes und nahm ein altes Ölgemälde von der Wand. Dahinter lag ein weiteres getarntes Depot, aus dem sie unter anderem mehrere kugelsichere Westen hervorholte.
»Seit wann versteckst du das dort?«, erkundigte sich Lio mit großen Augen.
»Schon lange«, antwortete Sophie. »Hier! Nehmt die und die Peilsender. Sie sind zurzeit nicht aktiv, aber bestimmt nützlich für später.«
Lio und ich kamen ihrer Aufforderung nach. Kurz darauf waren wir besser ausgerüstet, als wenn wir zu einem Einsatz ausrückten. Selbst Sophie trug eine der Halbautomatik im hinteren Hosenbund. Während Caren die zwei Feldflaschen mit Wasser füllte, kniete sich Sophie neben ihren ältesten Sohn, zog ein Medikament in einer Spritze auf und verabreichte ihm die Flüssigkeit. Bereits nach wenigen Sekunden öffnete dieser die Augen und setzte sich benommen auf.
»Das dürfte reichen, damit wir ihn unbemerkt an den Wachen vorbeischleusen können.« Sie wandte sich an Daiven: »Die Tablette ist für dich. Ein leichtes Schmerzmittel, mehr kann ich dir im Moment nicht geben, da du all deine Sinne brauchen wirst.«
»Du hast an alles gedacht«, meldete sich Daiven zu Wort, der von Caren gestützt erneut aufgestanden war. Artig nahm er die dargebotene Pille und schluckte sie.
»Ich war seit der Rückkehr aus Elverston immer auf alles vorbereitet. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass
ich mein eigenes Kind zudröhnen muss. Aber jetzt lasst uns verschwinden. Adam und Lio, ihr helft Nash, die anderen folgen mir.« Sie lächelte, doch ich ahnte, dass sie uns ihren Optimismus nur vorspielte.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließen wir das Haus und begaben uns auf direktem Weg in Richtung Hangar. Hinter einer kleinen Baracke suchten wir Deckung, während Sophie gemeinsam mit Daiven zur großen Halle weiterging, vor dem drei Pyrobirds parkten.
»Ich hoffe, das geht gut«, flüsterte Lio.
»Bis jetzt hat mich deine Mum ganz schön überrascht. In ihr steckt mehr, als ich vermutet habe. Sie weiß, was sie tut, also wird auch das funktionieren«, beschwichtigte ich ihn, obwohl ich von meinen eigenen Worten nicht wirklich überzeugt war. Ich hatte nur Augen für Daiven, dem es schwerfiel, seine Verletzung am Bein zu verschleiern.
Aus sicherer Entfernung beobachtete ich neugierig aber mit einem mulmigen Bauchgefühl, wie Sophie die Mechaniker in ein Gespräch verwickelte. Kurz darauf stieg Daiven in einen der Fluggleiter ein und verschwand aus meinem Blickfeld.
Es dauerte einige Sekunden, bis der Antrieb gestartet wurde. Sophie gab uns unbemerkt ein Zeichen näher zu kommen. Wir folgten ihrer Anweisung und nahmen Nash in unsere Mitte. Es schien alles glattzugehen, doch eine schreckliche Vorahnung erfasste mich und verstärkte sich bei jedem weiteren Schritt. Aus den Augenwinkeln sah ich Caren. Sie zitterte.
»Es wird gutgehen. Wir sind fast da«, wisperte ich, um sie zu beruhigen.
»Wir stehlen einen Pyrobird!«, antwortete sie und ihre Nervosität übertrug sich auf mich.
Inständig hoffte ich, dass wir die letzten Meter unbeschadet überbrücken und einsteigen konnten. Bevor ich den Gedanken beendete, entdeckte ich am anderen Ende des Rollfeldes
Männer, die hastig auf uns zu rannten. Dann ging alles rasend schnell.
»Wir sind aufgeflogen!«, rief Lio und zog das Tempo an. So schnell wie möglich rannten wir auf den Pyrobird zu. Schließlich schafften wir die drei Stufen ins Innere und schnallten Nash in einem der Sitze fest. Lio kümmerte sich um Caren, deren Beine zu versagen drohten. Ich dagegen eilte wieder nach draußen und suchte Sophie. Das eben noch friedlich wirkende Bild hatte sich verändert. Sie hielt ihre Halbautomatik in der Hand und zielte auf die Mechaniker, mit denen sie eben gesprochen hatte. Die beiden wichen mit erhobenen Händen zurück.
»Komm endlich!«, forderte ich sie lautstark auf, doch sie schüttelte den Kopf.
»Geht! Verschwindet!«, rief sie und griff nach dem Lederbeutel, den sie in meine Richtung warf. Er landete vor meinen Füßen. Ich überlegte nicht lange und hob ihn auf. Doch ich war nicht bereit, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Daher zog ich ebenfalls die Waffe. Leider war die Zeit gegen uns. Immer mehr bewaffnete Rebellen kamen näher und eröffneten das Feuer. Rasch ging ich hinter dem nächsten Stapel Kisten in Deckung. Sophie stand weiterhin unbeeindruckt an Ort und Stelle. Mitten im Kugelhagel stoppte ein Fahrzeug in unmittelbarer Nähe und Callahan stieg aus. Mit gezogener Waffe schritt er in aller Seelenruhe auf Sophie zu.
»Verschwinde!«, brüllte sie mich an.
Ich war immer noch nicht bereit, sie aufzugeben, und verdrängte die anschwellende Angst. Obwohl mein Herz raste, nahm ich all meinen Mut zusammen und eilte auf sie zu. Ich packte sie am Handgelenk und zog sie mit mir. Gemeinsam stürmten wir zum Pyrobird zurück, aus dem Lio soeben ins Freie rennen wollte.
»Bleib drin!«, schrie ich ihm entgegen, während Sophie und ich gerade noch rechtzeitig Deckung am Heck des
Fluchtfahrzeuges fanden, bevor weitere Kugelsalven abgefeuert wurden.
Nervös sah ich sie an und entdeckte einen immer größer werdenden Blutfleck an ihrem rechten Oberarm. Sofort war mir klar, dass sie getroffen worden war. Ich riss ihr mit einem Ruck den Ärmel ihrer Kleidung aus, um die Blutung damit abzubinden. Erstaunt starrte ich auf das Tattoo eines feuerspeienden Drachens.
»Was bedeutet das?«, erkundigte ich mich und umwickelte die betroffene Stelle mit dem Stoff. »Ich dachte, das ist das Abzeichen von Daivens Einheit.«
»Nicht so ganz«, antwortete sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Der Drache war unser Markenzeichen in Elverston. Callahan hat ihn für seine loyalsten Rebellen beibehalten.«
Ehe ich das Thema vertiefen konnte, kamen die Kugeln plötzlich auch aus der anderen Richtung auf uns zugeflogen. Sofort rannten wir los, um ins Innere des Pyrobirds zu gelangen.
Wir hatten die letzte Stufe erreicht, da ging Sophie plötzlich stöhnend in die Knie. Hektisch drehte ich mich um und wollte ihr aufhelfen, doch sie stieß mich mit aller Kraft von sich, sodass ich ins Innere des Gleiters stolperte. Ich wollte zurückzukehren, aber ihr gefestigter Blick verriet mir, dass sie bereit war, für unsere Flucht die notwendige Zeit zu erkaufen. Auch wenn es bedeutete, sich selbst zu opfern.
»Nun mach schon! Bring meine Söhne in Sicherheit!«, flüsterte sie mir zu. »Im Beutel liegt der Schlüssel zu Elverston. Du wirst es verstehen. Und jetzt verschwindet!«
Sie rappelte sich auf und ging die Treppe hinunter, um sich Callahan entgegenzustellen. Lio stand mit schockierter Miene neben mir und starrte hilflos zu Sophie.
»Mum«, hörte ich ihn wispern. Es war offensichtlich, dass er nicht akzeptieren wollte, dass niemand in der Lage war, sie
zu retten. Doch seine Mutter hatte sich entschieden und wir mussten ihren Entschluss respektieren.
»Daiven! Jetzt!«, brüllte ich nach vorne ins Cockpit und umklammerte Lio von hinten, um ihn davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen.
»Lass mich los! Wir können sie nicht einfach zurücklassen!«, brüllte Daivens bester Freund aufgebracht. Er wehrte sich vehement und es grenzte an ein Wunder, dass wir nicht nach draußen stürzten.
»Es ist ihre Entscheidung. Tu jetzt nichts Falsches!«, versuchte ich ihn zur Vernunft zu bringen.
Plötzlich erstarrte er und vergaß jegliche Gegenwehr. Ich folgte seiner Blickrichtung und sah entsetzt dabei zu, wie Sophie von mehreren Schüssen getroffen zu Boden ging.
Geistesgegenwärtig griff Caren nach dem Hebel der Tür und sie schloss sich. Lio krallte sich wie ein Ertrinkender daran fest, seine Augen stur durch das kleine Fenster gerichtet. Fortwährend schluchzte er den Namen seiner Mutter.
Ich gab Caren zu verstehen, dass sie sich um ihn kümmern sollte. Dann eilte ich nach vorne ins Cockpit, nahm neben Daiven Platz und setzte mir den Kopfhörer auf. Mein Freund hatte aufgrund seiner Verletzungen Probleme, den Pyrobird in die Luft zu bringen.
»Sag mir, was ich tun soll!« Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie man so ein Ding steuerte, griff ich zum Steuer des Copiloten.
»Zieh den Hebel zu dir!«, befahl er mir schweratmend. Ich nickte und mit meiner Unterstützung gewannen wir rasch an Höhe.
»Ich glaube, ich habe ihn jetzt im Griff«, seufzte Daiven kurz darauf erleichtert auf. Er betätigte mehrere Hebel und Knöpfe, bis sich der Fluggleiter spürbar stabilisierte.
»Was denkt ihr, wie weit ihr kommt? Ihr werdet Sophie bald in die Hölle folgen!«, erklang unerwartet Callahans eiskalte
Stimme durch den Kopfhörer. Ich war ich nicht überrascht, ihn zu hören, dennoch verspürte ich die ersten Anzeichen von Panik. Daiven blickte mich geschockt an, denn er hatte nicht mitbekommen, was vor dem Start passiert war.
Ich schloss für einen Moment die Augen, schluckte und straffte die Schultern. »Callahan!«, antwortete ich. »Egal was du planst, es wird nicht funktionieren. Nash ist bei uns.«
»Nash ist schon lange ein Kollateralschaden. Er wird euch nicht helfen können«, kam prompt die Antwort, wobei ich von seinen Worten nicht überzeugt war, denn seine Stimme kippte leicht. »Sobald ich euch in die Finger kriege, werdet ihr euch wünschen, ihr wärt längst tot. Ihr widerlichen kleinen Insekten! Ihr werdet mir nie entkommen!«, brüllte Callahan und lachte wie von Sinnen.
»Für Sophies Tod wirst du büßen! Falls Lio dich nicht vorher in die Finger bekommt, werde ich dich bei lebendigem Leib häuten. Das ist ein Versprechen!«, presste Daiven mit wütender Stimme hervor. Er bebte am ganzen Körper. Bevor Callahan ihm antworten konnte, schaltete mein Freund den Funk ab.
Ich benötigte einige Sekunden, um mir den schrecklichen Ausgang des Ganzen vor Augen zu halten. Die Gefahr schwebte über unseren Köpfen und die Jagd hatte erst begonnen. Sophie musste gewusst haben, dass es für sie keine Rettung gab. Sie hatte sich geopfert, um uns allen die Flucht zu ermöglichen. Aus diesem Grund durften wir nicht zulassen, dass uns Callahan erwischte.