Kapitel Neunzehn
* * * * *
Adam
Meine Freunde und ich wurden während der Fahrt auf der abgedeckten Ladefläche eines alten Militärtransporters ordentlich durchgerüttelt. Daiven lag bewusstlos in meinen Armen. Das fortwährende Holpern des Fahrzeugs und die damit verbundenen Schläge waren zu viel für ihn gewesen, sodass er unter qualvollem Stöhnen umgekippt war. Einerseits war ich froh, andererseits wuchs meine Sorge mit jeder Minute.
Wir hatten keine Ahnung, wer sich hinter den Guardians verbarg und ob sie uns gut oder böse gesinnt waren. Dennoch hoffte ich, dass sie meinem Freund wenigstens ärztliche Hilfe gewähren würden.
»Aussteigen!«, ertönte der harsche Befehl, als der Truck mit einem Ruck anhielt. Styles, der uns die ganze Zeit im Auge behalten hatte, stand auf und klappte die Laderampe nach unten. Er und seine vier Kameraden sprangen ins Freie. Dort drehten sie sich sofort um und hielten uns mit ihren Schusswaffen in Schach.
Meine innere Anspannung wuchs. Nervös tauschte ich mit Lio und Caren einen Blick aus. Wir wussten nicht, wohin sie uns gebracht hatten, doch wir waren uns einig. Daivens Gesundheitszustand besaß oberste Priorität, also würden wir uns erst einmal still verhalten. Da man uns keine Fesseln angelegt hatte, verspürte ich einen Hauch von Zuversicht.
»Lio, hilf mir mal!« Ich deutete mit dem Kinn zu Daiven.
»Das übernehmen Pete und Evan!«, bestimmte die Frau, die augenscheinlich die Anführerin der Truppe war. Sogleich traten zwei der Männer an die Ladefläche heran und hoben Daiven behutsam auf eine Trage.
»Wo bringen sie ihn hin?«, erkundigte ich mich nervös. Behutsam griff ich nach seiner Hand und streichelte sie. Seine Haut war kalt und der Verband am Bein war durchgeweicht.
»Zu unserem Arzt ...«, antwortete die Frau mit einem freundlichen Lächeln. »Du musst dir keine Sorgen machen. Bei Daniel ist er gut aufgehoben. Nachher bringe ich dich zu ihm. Aber nun wartet erst einmal das Tribunal auf euch.«
»Wir sehen uns gleich wieder«, flüsterte ich und musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, um mich von Daivens Anblick loszureißen. Inständig betete ich, dass es ihm bald wieder gut gehen würde. Ich beobachtete seufzend, wie die beiden Guardians meinen Freund davontrugen. Augenblicklich bemerkte ich einen schmerzhaften Stich im Herzen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich es nicht ertragen könnte, sollte er sterben.
»Los! Raus aus dem Wagen!«, schreckte mich Styles Befehl auf. Er hatte Nash den Angriff noch nicht vergeben und zog ihn unsanft von der Ladefläche. Erstaunlicherweise war weder ein spöttisches Kommentar zu hören, noch wehrte er sich gegen das grobe Verhalten des deutlich Jüngeren. Offensichtlich schien er verstanden zu haben, dass es derzeit besser war, zu schweigen. Dennoch traute ich dem Frieden nicht ganz.
Neugierig wanderte mein Blick umher. In der Abenddämmerung zeichneten sich die Umrisse mehrerer Häuser ab, die von einer Steinmauer umgeben waren. Das obere Wehr, auf dem bewaffnete Wachen in Uniform patrouillierten, war mit Stacheldrahtzaun versehen. Die Siedlung war eindeutig kleiner als Timbermore Point, wirkte allerdings nicht weniger bewacht. Ich stimmte Daivens Vermutung zu. Die Guardians waren keine Rebellen, schienen sich jedoch durchaus zur Wehr setzen zu können.
»Wo sind wir?«, erkundigte sich Caren und inspizierte misstrauisch die nähere Umgebung.
»In Ailmoor. Ihr braucht keine Angst zu haben. Die Waffen sind reine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete die Frau mit einem weiteren Lächeln. Trotz ihres autoritären Auftretens verliehen ihr ihre glänzenden hellbraunen Augen etwas Sympathisches. Dennoch blieb ich auf der Hut. Noch blieben uns ihre wahren Absichten verborgen.
»Na, das beruhigt mich aber«, sagte Lio gereizt und legte schützend den Arm um seine Verlobte. »Ich warne euch, falls meinem Freund etwas passiert, kann ich sehr ungemütlich werden.«
Ich musste unweigerlich schmunzeln, denn das erinnerte mich an meine Ankunft bei Callahans Rebellen. Im Gegenzug zu den Guardians waren sie allerdings nicht so sanft mit mir umgegangen.
»Ich kann eure Skepsis verstehen«, bedeutete die Frau mit ruhiger Stimme. »Doch ihr könnt euch entspannen. Bei uns seid ihr in Sicherheit. Ich bin Isabell und jetzt folgt mir bitte. Hier entlang.«
Ihre Worte waren kein Befehl, sondern eine freundliche Aufforderung und damit überraschte sie mich zum zweiten Mal.
»Wie lange lebt ihr schon hier?«, erkundigte ich mich. Von dem Ort hatte ich bisher noch nie etwas gehört.
»Seit über drei Generationen«, antwortete Styles an Isabells Stelle. Zum ersten Mal klang er nicht wie ein Soldat, obwohl er mir weiterhin den Gewehrlauf unter die Nase hielt. Er zog sich die Sturmhaube vom Kopf. Sprachlos erkannte ich, dass er kaum älter als sechszehn Jahre zu sein schien. Möglicherweise sogar jünger. Mein verdutzter Gesichtsausdruck brachte ihn zum Lachen.
»Los ... macht schon! Wir haben nicht ewig Zeit!«, diktierte er und fuhr sich mit einer Hand selbstbewusst durch die Locken.
Flankiert von den Guardians hielten wir auf einen rechteckigen Steinbau in der Mitte der Siedlung zu. Aus den Fenstern fiel flackerndes Licht nach draußen. Menschen traten aus ihren Häusern und beäugten uns tuschelnd. Man brachte uns in einen großen Saal. Bis auf zahlreiche Stühle, die man in mehreren Reihen zu beiden Seiten aufgestellt hatte, war der Raum schmucklos. Das einzige, das mir sofort ins Auge stach, war die beachtliche Anzahl von brennenden Kerzen und Fackeln an den Wänden, die alles in einen angenehmen orangefarbenen Schein tauchten. Offensichtlich besaßen die Guardians keinen Strom.
Mit einer einladenden Handgeste bat uns Isabell weiterzugehen. Gegenüber des Eingangs erwartete uns ein langer Tisch. Daran saßen fünf Personen unterschiedlichen Alters. Drei Männer und zwei Frauen. Jeder von ihnen musterte uns verwirrt.
Lio und ich tauschten einen Blick aus. Er wirkte ebenso überrascht, wie ich mich fühlte. In seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass er auch keine Ahnung hatte, was auf uns zukommen würde.
»Isabell, wer sind diese Leute?«, erkundigte sich ein älterer Mann.
Die Angesprochene spannte die Schultern an und trat nach vorne. Ohne dass wir ein Wort verstanden, redete sie mit ihm und er nickte mehrmals stumm. Nachdem sie geendet hatte, kam sie wieder zu uns zurück.
»Interessant. Unser Spähtrupp hat euch also in unserem Gebiet aufgespürt«, richtete sich Mann nun an uns. In seiner Stimme lag eine Spur Neugierde. »Ihr seid laut eurer Aussage mit einem Pyrobird von Timbermore Point nach Elverston unterwegs gewesen. Wisst ihr nicht, dass die Grenze und die Stadt absolutes Sperrgebiet sind? Was führt euch tatsächlich hierher? Seid ihr Spione?«
Ich trat taktvoll einen Schritt nach vorne. »Wir sind keine Spione! Uns war nicht bewusst, dass wir das Terrain der Guardians betraten. Bisher hat keiner von uns etwas von euch gehört. Wir mussten fliehen und hofften, in Elverston Schutz suchen zu können. Wir ...«
»Nur Narren näheren sich freiwillig dem Grenzgebiet«, unterbrach mich unerwartet eine der beiden Frauen zischend. Ich schätzte sie in Sophies Alter. »Nur wer die Codes kennt, kommt an den Supervisors vorbei. Alle anderen werden ohne Vorwarnung abgeknallt.«
»Das wissen wir, Madam. Trotzdem müssen wir versuchen durchzukommen. Viele Leben hängen davon ab«, erklärte ich unser Vorhaben und konnte kaum meine wachsende Nervosität im Zaum halten. Vor allem, weil ich in Gedanken ständig bei Daiven war.
Lio trat an meine Seite. Wir sahen uns kurz an, dann nickten wir beide. Vermutlich war es das Beste, wenn wir nichts verheimlichten. »Die Black Devils verfolgen einen heimtückischen Plan«, erklärte er mit fester Stimme.
»Wir haben etwas in unserem Besitz, dass für Brent Lamonts Augen bestimmt ist«, übernahm ich wieder das Wort. »Es ist von äußerster Wichtigkeit. Nur deshalb haben wir den weiten Weg in Kauf genommen. Leider hat der Pyrobird aufgrund der Verfolgung durch die Rebellen ordentliche Schäden davon getragen, sodass wir notlanden mussten. Er kann nicht mehr abheben.«
»Wichtigkeit liegt stets im Auge des Betrachters«, antwortete der Alte besonnen und lächelte überraschend freundlich. »Für uns steht das Wohl von Ailmoor und dessen Bevölkerung an oberster Stelle. Der Name Black Devils ist für uns mit nichts Gutem verbunden. Also ... warum sollen wir euch glauben? Ihr müsst zugeben, dass ihr nicht gerade vertrauenswürdig erscheint. Einer von euch ist halbtot und wird gerade von unserem Arzt behandelt, ein anderer steht in Handschellen vor mir und diese junge Frau ist schwanger. Nicht gerade eine Truppe, die ich mit einer wichtigen Arbeit betrauen würde.«
»Habt ihr nicht behauptet, ebenfalls Rebellen zu sein?«, hakte einer der anderen Männer nach.
Lio räusperte sich. »Das waren wir ... bis vor Kurzem. Doch überraschende Erkenntnisse brachten meine Freunde und mich dazu umzudenken. Der wahre Feind entpuppte sich als Kommandant Ray Callahan. Jetzt sind wir lediglich fünf Menschen, die versuchen eine Lösung für ein Problem zu finden, das eventuell zu einem blutigen Krieg führen könnte.«
»Krieg?« Isabell starrte uns konsterniert an. Sodann wandte sie sich an den offensichtlichen Rädelsführer der Guardians . »Dad, erinnerst du dich an die Gerüchte?«
»Isabell, jetzt nicht!«, befahl ihr Vater und sie senkte beschämt den Kopf. Er wiederum musterte uns der Reihe nach mit einem unentschlossenen Gesichtsausdruck. Dann wandte er sich erneut an Lio und mich. »Gerüchte gibt es viele und niemand weiß, welche stimmen und welche von der blühenden Fantasie eines Spinners in die Welt gesetzt wurden. Um aufs Wesentliche zurückzukommen ... Wir sind nicht die Bösen. Ailmoor ist nur eine von mehreren kleinen Siedlungen im näheren Umkreis, die mit Elverston Geschäfte treiben. Wir sind neutral. Damit wir uns ein besseres Bild von euch machen können, möchte ich mehr wissen. Wer seid ihr? Was hat es mit den schwierigen Problemen auf sich? Ihr seht ziemlich erschöpft aus. Wenn wir mit euren Antworten zufrieden sind, erhaltet ihr ein warmes Essen und ein Dach für diese Nacht.«
»Callahan baut Surges! Bum. Bum. Bum. Er bringt die braven Schäfchen um!«, sagte Nash aus heiterem Himmel.
»Nash, nicht jetzt!«, giftete ich ihn verärgert an.
Er grinste und streckte mir die Zunge raus.
»Was will er damit sagen?«, erkundigte sich Isabells Vater verwundert.
»Hört nicht auf ihn! Er ist zurzeit nicht er selbst«, antwortete ich und warf meinem Halbbruder einen zornigen Blick zu. »Wir erklären euch gerne alles, aber senkt eure Waffen. Das hinterlässt keinen guten Eindruck.«
Der Mann nickte in Richtung Styles und dessen Kumpanen. Mürrisch kamen sie dem stummen Befehl nach und steckten die Schusswaffen weg. Trotzdem behielten sie uns wachsam im Auge.
»So ist es gleich viel besser. Um unsere Geschichte zu unterstützen, möchte ich euch zuerst etwas zeigen.« Ich holte den kleinen Lederbeutel zum Vorschein und übergab ihn Isabell. Sie nahm ihn mir misstrauisch ab. Nachdem sie sich versichert hatte, dass er nichts Bedrohliches enthielt, reichte sie ihn an ihren Vater weiter.
»Was sind das für Dinge?«, fragte dieser und beäugte alles genauer. Besonders die Ampulle mit der klaren Flüssigkeit schien ihn zu interessieren.
»Ich schlage vor ... ihr hört uns zu und danach beantworten wir alle Fragen.« Ich sah jeden einzelnen meiner Freunde an, die mir stillschweigend ihr Einverständnis gaben.
»Ich bin Adam und wurde in Elverston geboren. Daher könnt ihr mir über die Stadt nichts erzählen, was ich nicht schon weiß«, fing ich an zu berichten. Unterstützt von Lio und Caren erzählte ich, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte. Als die Sprache auf unsere Flucht kam, war es Lio, der mit belegter Stimme von der Ermordung seiner Mutter erzählte.
»Jetzt wisst ihr alles über uns«, beendete ich meine Geschichte mit dem Absturz des Pyrobirds und dem anschließenden Fußmarsch durch den Wald. Ich hoffte inständig, dass wir die Guardians überzeugt hatten und sie nicht mehr annahmen, dass wir in arglistiger Absicht in ihr Territorium eingedrungen waren.
Für einen langen Moment herrschte Schweigen. Nash unterbrach die Stille, indem er anfing, eine unbekannte Melodie zu summen. Ich blickte ihn wütend an, er jedoch tat, als würde er mich nicht wahrnehmen. Auch die Anwesenheit der anderen schien er auszublenden. Aber lieber er sang vor sich hin, als dass er die Menschen wahllos beleidigte, die wir zu überzeugen versuchten.
»Hey, Jungs!«, sagte er und legte die gefesselten Hände auf Lios Schultern. »Dylan und Margee warten auf uns. Wir müssen uns beeilen. Callahan plant uns zu töten. Wir müssen die Surges zerstören, bevor sie uns angreifen.« Mitten im Satz drehte er sich einmal im Kreis und es wirkte, als wollte er die Umgebung sondieren. »In Deckung, sie haben uns im Visier!« Ohne Vorwarnung ging er in die Hocke und zog seinen Bruder mit sich.
»Es reicht! Halt endlich die Klappe!«, zischte Lio. Er stand auf, verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und entfernte sich zwei Schritte von ihm.
»Nash ist im Grunde harmlos. Er kann nicht klar denken und trägt die Handschellen eher aus Schutz vor sich selbst«, warf ich erklärend ein.
Irritiert tauschten die Mitglieder des Tribunals einen Blick aus, dann übernahm Isabell Vater erneut das Wort. »Keine Ahnung warum, aber ich glaube euch. Zurück zum Thema: Verstehe ich das richtig? Ihr erhofft euch Hilfe von Präsident Lamont. Nicht nur wegen dem Zustand eures Freundes, sondern hauptsächlich um die Pläne des Kommandanten Callahan zu durchkreuzen?«
Als ich nickte, seufzte er laut. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was ich von der Geschichte halten soll. Doch ich mache euch einen Vorschlag zur Güte. Ihr esst jetzt erst einmal etwas und verbringt die Nacht als Freunde bei uns. Wir werden uns alles in Ruhe ansehen und darüber beraten. Morgen früh sehen wir uns wieder. Einverstanden?«
Ich lächelte erleichtert und spürte eine große Last von meinen Schultern fallen. Unsere Ehrlichkeit hätte auch nach hinten losgehen können. »Einverstanden. Ich hätte allerdings noch eine Frage: Wie heißt du?«
»Edmond«, antwortete er mit einem Schmunzeln. »Ich bin Vorsitzender des Tribunals von Ailmoor. Willkommen in unserer bescheidenen Siedlung, Adam und deine Freunde.« Sodann sah er zu seiner Tochter. »Isabell, da unsere Kapazitäten begrenzt sind, können sie bei dir übernachten?«
Sie nickte, ließ sich dabei aber nicht anmerken, ob ihr der Vorschlag gefiel oder nicht.
»In Ordnung. Dann folgt bitte meiner Tochter. Sie versorgt euch mit Speisen und zeigt euch, wo ihr schlafen könnt. Nachher dürft ihr euren kranken Freund besuchen. Wir sehen uns morgen.«
* * *
»Moment, ich mache schnell Licht« Isabell trat als erste in die Dunkelheit ihres Hauses ein. Kurz darauf hörte man das Geräusch eines zündenden Streichholzes und kurz darauf wurde der Raum von mehreren Kerzen in einen sanften Lichtschein getaucht.
Beim Eintreten beobachtete ich Isabell, die sich bemühte, ein Feuer im Kamin zu entfachen. Nachdem die kleine Flamme endlich gierig Besitz vom trockenen Holz ergriff, drehte sie sich zu uns um und winkte uns näher heran.
»Caren, nimm am besten hier Platz. Es ist nichts Besonderes, aber für eine Nacht wird es reichen. Daniel wird gleich kommen und nach dir sehen.« Sie warf Caren einen freundlichen Blick zu und deutete zu einem älteren Sofa.
Im Gegensatz zu dem, was wir die vergangenen Nächte erlebt hatten, kam mir das schlichte Holzhaus erstaunlich einladend, fast schon luxuriös vor. Der Raum war überfüllt mit alten Möbeln, dennoch wirkte er größer als Sophies gesamtes Haus. Eine Holztreppe führte nach oben. An den Wänden reihten sich zahlreiche Regale aneinander, die mit Büchern und allerlei Krimskrams vollgestopft waren. Im hinteren Bereich konnte ich eine kleine Küchenzeile erkennen.
»Habt ihr keinen Strom?«, erkundigte sich Caren und setzte sich mit einem erleichterten Seufzen. Lio folgte ihr auf dem Fuß.
»Eigentlich schon. Nur manchmal gehen ein paar Transistoren kaputt. Bis wir wieder Ersatz bekommen, setzen wir auf Altbewährtes.« Isabell lächelte und lief in Richtung Treppe. »Ihr Jungs müsst leider mit dem Fußboden vorliebnehmen. Ich hol euch ein paar Decken und Kissen.« Eilig verschwand sie im oberen Stockwerk.
»Können wir ihnen wirklich trauen?«, platzte Lio heraus, als er sich sicher war, dass unsere Gastgeberin ihn nicht hörte. »Nicht falsch verstehen. Ich finde es toll, dass sie sich gleich um Daiven gekümmert haben und sich jetzt sogar Caren ansehen wollen. Aber die haben immer noch unsere Waffen ... und dank dir jetzt auch Mums Sachen.«
Ich grinste. »Ich erinnere dich nur ungern daran, wie ihr mich behandelt habt, Lio. Dagegen ist das hier wie ein Wellnessurlaub. Ehrlich gesagt habe ich ein gutes Gefühl. Zuerst war ich mir nicht sicher, aber überleg mal ... Sie wollen sich beraten und bieten uns einen Platz zum Schlafen an. Wenn sie uns nicht trauen würden, hätte sie uns bestimmt ...«
»Eingesperrt?«, erklang Isabells Stimme.
Ertappt zuckte ich zusammen. »Habe ich recht?«, hakte ich nach und versuchte, die Situation mit einem Lächeln zu überspielen.
Isabell lachte amüsiert. »Im Höchstfall wärt ihr über Nacht im Vorratslager festgesetzt worden. Dann hättet ihr den Ratten und Mäusen Gesellschaft leisten können. Mein Dad hat noch nie jemanden gefangen genommen. Im Grunde ist er froh, dass er euch helfen kann.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich und bedeutete Nash, er sollte sich auf den Boden setzen. Summend kam er dem Befehl nach, wobei seine Augen stur auf unsere Gastgeberin gerichtet waren. Ich nahm auf der Lehne des Sofas Platz.
»Ihr habt kein Gefängnis?« Lio setzte sich neben seine Verlobte und nahm ihr Hand.
»Bislang gab es keinen Anlass dazu«, bestätigte Isabell und warf jedem von uns eine Wolldecke zu. Sie schlenderte zum Kamin hinüber und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. »Wir sind friedliche Menschen. Unser Schwerpunkt liegt auf der Jagd und dem Getreideanbau. Ab und an tauschen wir mit den anderen Siedlungen in der Nähe Nahrung und andere Dinge aus. Zudem treiben wir Handel mit Elverston. Es ist mehr oder weniger eine Art Zweckgemeinschaft. Wir liefern ihnen Frischfleisch und im Gegenzug erhalten wir Waffen und Munition, aber auch Transistoren und Kleidung.«
»Dann besitzt ihr die Codes, um das Grenzgebiet sicher durchqueren zu können. Das heißt, ihr könnt uns helfen?« Lio sah sie aufgeregt an.
»Könnten wir«, bestätigte Isabell. »Ob wir es tun, ist allerdings nicht meine Entscheidung, sondern die des Tribunals. Doch so, wie ich Dad kenne, wird euch das Ergebnis freuen. Bis dahin seid ihr meine Gäste.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, klopfte es an der Tür und ein Mann trat ein. Ich schätzte ihn auf höchstens Mitte dreißig. Er trug eine Arzttasche bei sich und musterte uns neugierig der Reihe nach.
»Isabell?«, fragte er unsicher.
»Daniel! Schön, dass du da bist. Wir warten schon auf dich. Wie geht es deinem anderen Patienten?« Sie winkte ihn hinein.
»Guten Abend, in die Runde. Falls du damit den jungen Mann meinst, der bewusstlos zu mir gebracht wurde. Er schläft jetzt. Ich habe seine Wunden genäht und versorgt und ihn an den Tropf gehängt. Das Schmerzmittel hat gerade angeschlagen, deshalb konnte ich ihn beruhigt in Abigails Obhut lassen.«
»Können wir zu ihm?«, fragte ich unverzüglich. Mein Herz raste vor Freude und ich konnte es kaum erwarten Daiven zu sehen.
»Natürlich. Ich nehme euch gerne mit zur Krankenstation. Wartet am besten draußen, während ich eure Freundin untersuche.«
Freudestrahlend nickte ich. Lio lächelte mir zu und auch Caren wirkte sichtlich erleichtert.
»Na, Hotty. Soll ich deine sexy Beine in die Waagerechte bringen?«, gurrte Nash unerwartet an Isabell gewandt, die augenblicklich irritiert einen Schritt zurückwich.
»Oh verdammt, halt einfach die Klappe, du Idiot!«, schnauzte Lio ihn an, zog ihn hoch und bugsierte ihn in Richtung Ausgang.
»Was ist?«, fragte er mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck und zwinkerte ihr zu. »Ich sage nur die Wahrheit. Das Mädel ist verdammt heiß!«
Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Bitte ignoriert ihn. Manchmal hat er seine fünf Minuten. Das vergeht wieder.« Ich folgte den Brüdern und schloss hastig die Tür hinter mir. Im letzten Moment sah ich Caren, die frustriert den Kopf schüttelte.
Lio knurrte. »Na klasse. Du Vollpfosten! Wegen dir stehen wir jetzt wieder blöd da. Seit wann stehst du nicht mehr auf Männerärsche? Ich dachte, du könntest mit Frauen nichts anfangen?«
»Eine berechtigte Frage«, schloss ich mich interessiert an und positionierte mich mit verschränkten Armen direkt neben Lio.
»Mein Bruder und der Freak.« Nash grinste breit von einem Ohr zum anderen. »Warum machen wir nicht einen flotten Dreier?«
Lio platzte der Kragen. Er atmete tief ein und verpasste ihm einen heftigen Schlag ans Kinn. »Du hast auch nur Sex in deiner Birne, du durchgeknallter notgeiler Saftarsch!«
Nashs Antwort war lautes Gegröle, das sein Bruder mit einem Wutschnauben beantwortete und sich dann von ihm abwandte.
»Wir brauchen auf schnellstem Weg einen Apex, sonst drehe ich durch«, murmelte ich und lehnte mich gegen die Hausmauer. Noch immer fühlte ich mich schuldig und das würde so lange anhalten, bis Nash wieder er selbst war. Hoffentlich.
Lio gesellte sich zu mir. »Bei allem was recht ist, aber er geht mir gehörig auf die Nerven. Bist du dir wirklich sicher, dass die Testergebnisse stimmen?«
Irritiert sah ich ihn an. »Warum sollte dieser Douglas sie fälschen? So wie ich es aus den Notizen der beiden herauslesen konnte, standen sie auf derselben Seite. Es war nicht Callahan, der die Tests veranlasste.«
Lio senkte den Kopf. »Ich weiß. Aber es will mir nicht in den Schädel, dass du und er Callahans Söhne seid. Somit seid ihr Halbbrüder. Was bin dann ich? Ist Nash überhaupt noch mein Bruder?«
»Hallo? Was soll diese doofe Frage? Ihr habt schließlich die gleiche Mutter.« Ich legte Lio eine Hand auf die Schulter und ließ zum ersten Mal den Gedanken zu, dass der skrupellose Mörder von Sophie und Daivens Eltern mein Vater war. Zugleich erinnerte ich mich an Brent Lamont zurück. Er hatte mich nie wie sein eigen Fleisch und Blut behandelt und mir wurde schlagartig klar warum. Lamont wusste, dass er nicht mein Erzeuger war und so war es ihm leicht gefallen, mich auf brutalste Weise meiner Kindheit zu berauben.
»Küssen! Küssen! Küssen! ...«, riss mich Nashs verhöhnende Stimme aus dem Gedankenspiel.
Ich musterte ihn nachdenklich. Mir fiel es schwer, ihn als meinen Bruder anzusehen, vor allem, da ich in der Annahme aufgewachsen war, ein Einzelkind zu sein. Dazu kam der quälende Gedanke, dass Nash Daiven nur aufgrund meines Hasses angegriffen hatte. Er hätte ihn beinahe getötet.
»Nash ist unser Bruder«, wisperte ich und seufzte. »Aber glaube mir, ich kann es auch nicht begreifen. Manchmal spielt das Schicksal ein merkwürdiges Spiel und wir sind nur die kleinen Spielfiguren, die ihre Rollen erfüllen. Ob es uns gefällt oder nicht.«
»Hm ...«, war alles, was Lio von sich gab und wir beiden verfielen in nachdenkliches Schweigen.