Kapitel Einundzwanzig
* * * * *
Adam
Aufgewühlt wanderte mein Blick immer wieder zu Lio hinüber. Er saß neben Nash auf der Ladefläche des Militärtransporters und starrte unentwegt nach draußen. Unser Bruder trug inzwischen keine Handschellen mehr. Dennoch hatte Styles ein wachsames Auge auf ihn. Hin und wieder sah mich Daiven nervös an. Ich konnte seine und Lios Sorge um Caren verstehen, denn auch ich hätte sie gerne an unserer Seite gewusst. Aber ihr Wohl und das des ungeborenen Kindes stand über unseren Wünschen. Sie durfte nicht in Callahans oder Lamonts Schusslinie geraten.
»Ich hoffe, Nash reißt sich zusammen, sobald wir am Ziel sind«, flüsterte mir Daiven ins Ohr und hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Ich seufzte. »Das muss er, etwas anderes bleibt ihm nicht übrig.«
»Sagt mal ihr zwei«, kam es von Styles. Sein stets überheblich wirkender Gesichtsausdruck hatte sich in Neugier verwandelt. »Ihr beide seid also wirklich ein Paar.«
»Schlaues Kerlchen. Hast du ein Problem damit?« Herausfordernd sah ich ihn an.
Er zuckte mit den Schultern und lachte. »Ich stehe auf mehr Oberweite ... aber wem’s gefällt ...«
Daiven und ich grinsten. Doch schon bald verfielen wir erneut in nachdenkliches Schweigen. Ich gab es nur ungern zu, aber je näher wir uns auf Elverstons Grenze zubewegten, desto mehr Angst verspürte ich. Ich hatte den Brief an Lamont samt den Testergebnissen und dem Medikament für die Apexsitzung wasserdicht versiegelt in dem Lederbeutel verwahrt, den ich
unter dem Hosenbund trug. Ob die Schreiben von Vorteil waren oder nicht, würde sich noch herausstellen. Unser grundlegendes Ziel war es, sicher und unbemerkt durch die Kanalisation in die Stadt einzudringen, denn für Elverstons Soldaten waren wir Freiwild. Sie würden keine Sekunde zögern und uns töten.
Fortwährend grübelte ich darüber nach, wie wir uns Lamont nähern konnten und am Ende unser Leben behielten. Er war ständig von Bodyguards umgeben. Insbesondere Colonel Smith war immer in seiner Nähe. Zudem hatte ich keine Ahnung, was sich in meiner Abwesenheit in Elverston geändert hatte. Schon die üblichen Kontrollpunkte zu passieren, war eine trickreiche Aufgabe, doch dafür hatte ich bereits einen Plan.
Der Militärtransporter blieb ruckartig stehen. Styles packte Nash am Arm und zog ihn mit sich. Daiven, Lio und ich sprangen ebenfalls von der Ladefläche.
»Näher ran können wir nicht. Der Eingang befindet sich ungefähr achthundert Meter südlich von hier durch das Dickicht. Er ist nicht zu verfehlen. Ihr kennt den Code auswendig?«, erkundigte sich Styles ein letztes Mal.
Ich nickte bestätigend.
»Dann aktiviert jetzt den Sender! Solange ihr euch nicht mehr als zehn Meter voneinander entfernt, nehmen euch die Supervisors hier nicht als Bedrohung wahr. Wie es in der Stadt aussieht, weiß ich nicht.«
»In Elverston kenne ich mich aus«, erklärte ich ihm mit einem Lächeln. Es kam mir vor, als läge zwischen meiner Arbeit als Programmierer und dem Heute ein ganzes Leben. »Richte Edmond unseren Dank aus. Und bitte, kümmert euch gut um Caren, bis wir zurückkommen.«
»Sag ihr, dass ich sie über alles liebe und noch vor der Geburt zurückkomme«, schloss sich Lio mit brüchiger Stimme an.
»Geht klar, Jungs. Ich glaube fest an euch. Wer es schafft, den Black Devils
zu entkommen, der schafft es auch in die Stadt und
wieder raus. Wir sehen uns schon bald wieder.« Styles hob die Hand zum Gruß und am Ende überraschte er mich nicht nur mit seinen Worten, sondern vor allem mit einem ehrlichen Lächeln, das ich mit einem Nicken beantwortete. Sodann verschwand er wieder auf der Ladefläche des Transporters.
Während Daiven den Sender aktivierte und Lio die nähere Gegend in Augenschein nahm, wanderte mein Blick zu Nash. Er hatte die Fahrt über überraschenderweise geschwiegen. Möglicherweise hatte er verstanden, was wir vorhatten und ahnte, wie schwer es werden würde, in die Stadt zu gelangen. Vielleicht lag es auch daran, dass wir uns auf einer Mission befanden, die seinem üblichen Aufgabenbereich entsprach. Lautlos vorrücken und mit dem Gegner Katz und Maus spielen, das war es, was er bis ins kleinste Detail perfektioniert hatte. Egal warum, ich war froh, dass er es uns so leichtmachte, denn ab jetzt mussten wir ständig auf der Hut sein. Die Gefahr lauerte nicht nur in Elverston, sondern auch in der Kanalisation, die mir völlig fremd war.
»Bist du bereit, großer Bruder?«, fragte ich Nash und überrumpelte mich damit selbst. »Begreifst du, was auf dem Spiel steht? Wir wollen dir helfen, damit du wieder der Alte wirst.«
»Die Surges sind uns dicht auf den Fersen. Wir müssen uns verstecken«, kam flüsternd seine Antwort und er deutete mit dem Kinn ins Dickicht.
»Genau! Wir dürfen keinen Laut von uns geben und du hörst auf jedes Wort. Verstanden?«
Nash nickte und marschierte geduckt hinüber zu Lio. »Haltet die Waffen bereit und bleibt in Deckung. Der Bird wartet auf uns.«
Lio sah mich verdutzt an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Besser so, als dass er wie auf einem Marktplatz durch die Gegend grölt.«
»Von mir aus können wir ...« Daiven kam zu mir und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie das Fahrzeug der Guardians
hinter der ersten Straßenbiegung verschwand. Ich holte tief Luft, bevor ich sagte: »Los geht’s! Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
Besonnen bahnten wir uns einen Weg durch die wilde Vegetation. Dabei achteten wir sorgsam darauf, immer nahe beisammen zu bleiben. Daiven übernahm die Führung, gleich dahinter folgte Lio und ich bildete mit Nash die Nachhut. Ich nutzte die Fähigkeit meines künstlichen Auges. Aufgrund der Infrarotsicht war ich in der Lage die Surges schon aus der Ferne zu erkennen, denn sie hoben sich durch ihre leistungsstarken Antriebsquellen von der natürlichen Umgebung ab. Wie erwartet, wurden wir bereits nach den ersten hundert Metern auf die Probe gestellt.
Daiven blieb stehen und streckte die Faust nach oben. Das Zeichen in Deckung zu gehen. Wir verbargen uns im dichten Gebüsch und sahen zu, wie eine Fünfergruppe Surges einen schmalen Pfad entlang marschierte. Ihre eingebauten Waffen waren schussbereit. Sie gaben kein Geräusch von sich, doch ich wusste, dass sie mithilfe des Chips in ihrem Halsbereich fortwährend miteinander kommunizierten.
Besorgt beobachtete ich Nash. Würde er nur einmal zu laut atmen, wären wir in Gefahr. Wundersamerweise achtete er höchst konzentriert darauf, nicht aufgespürt zu werden. Ob er tatsächlich verstand, was vor sich ging? Ich wusste es nicht, aber sein aktuelles Verhalten schenkte mir vorerst neue Zuversicht.
Nachdem sich die Gruppe weit genug entfernt hatte, wagten wir es weiterzugehen. Wie von Isabell beschrieben, fanden wir wenige Minuten später den Eingang zur Kanalisation. Daiven und Lio näherten sich dem Gitter, während ich mit Nash im Unterholz zurückblieb. Mit rasendem Puls beobachtete ich, wie
sie das verschlossene Kanalisationsrohr an der Grenzmauer in Augenschein nahmen. Es maß ungefähr eineinhalb Meter im Durchmesser und mündete in einen Bach direkt unterhalb der Öffnung. Es roch es unangenehm muffig nach etwas, das ich nicht näher beschreiben konnte und auch nicht wirklich wollte.
Lio holte einen Schraubenschlüssel aus der Innentasche der Uniform. Dann hob er einen Ast auf und warf ihn zur Kontrolle gegen die Stäbe. Als nichts passierte, löste er eilig die beiden Bolzen am Gitter und hob es mithilfe von Daiven aus der Öffnung, dann winkte er uns zu sich.
»Es kann losgehen! Beeilt euch!«
»Ich hätte es mir nie so einfach vorgestellt«, flüsterte ich und zog Nash aus der Sicherheit des Gestrüpps.
»Da die Guardians
den Eingang oft benutzen, wundert mich das nicht.« Daiven setzte sich die einzige Stirnlampe auf, die wir dabei hatten, und kletterte in das Abwasserrohr hinein.
Lio folgte ihm grinsend. Er schien die Gefahr tatsächlich zu lieben. Denselben Gesichtsausdruck hatte er, als ich mit ihm in Callahans Büro eingebrochen war.
Zufrieden stellte ich fest, dass Nash sich ohne Aufforderung in Bewegung setzte. Entweder er hatte heute einen guten Tag, oder sein Gehirn hatte einen Weg gefunden, das Chaos ein wenig zu ordnen. Ich bildete wie immer die Nachhut. Angeekelt tastete ich mich vorwärts. Mir behagte es gar nicht, mich durch das graue Gemisch aus Matsch, Wasser und längst verrottenden Dingen fortzubewegen, die alles Mögliche sein konnten. Der Schlamm klebte wie Honig an Händen und Kleidung und stank zum Himmel.
Unser Weg führte uns durch eine gespenstische Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle war die brennende Stirnlampe. Daher entschied ich mich ein weiteres Mal für die Infrarotsicht. Sofort nahm ich ringsherum kleinere Wärmesignaturen wahr, die mich sofort an Ratten denken ließen. Das Fiepen sprach
gleichermaßen dafür. Gerade als ich dachte, der Weg würde nie enden, rief Daiven uns über die Schulter zu, dass er eine Öffnung gefunden hatte. Ich beeilte mich und erreichte kurz darauf das Ende. Das Rohr mündete in einen breiten Gang. Hier stand uns das eiskalte Wasser bis zu den Knien, doch zum Glück roch es nicht mehr so streng.
»Erinnert mich daran, dass ich nie mehr durch ein Rohr klettere.« Ich tauchte meine Hände ins Wasser, um mich wenigstens ein wenig vom Schlamm zu befreien. Den Gestank würde ich so schnell nicht mehr loswerden.
»Wo müssen wir jetzt lang?«, erkundigte sich Lio.
Er und auch Daiven sahen mich an, als wäre ich allwissend.
»Schon vergessen, ich war noch nie hier. Ich würde sagen, einfach der Nase nach. Das stinkende Abwasser führt uns direkt in die Stadt.« Nervös blickte ich mich um und deutete in die Richtung, aus der ich eine leichte Strömung an den Beinen verspürte.
Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte ich los und die anderen folgten mir dicht auf den Fersen. Nur wenige hundert Meter weiter spaltete sich der Abschnitt der Kanalisation erneut. Drei weitere Kanäle zweigten ab. Wir bogen nach rechts ab und hielten uns laut Kompass nach Osten.
»Habt ihr euch schon überlegt, wie wir vorgehen? In der Stadt können wir uns zwar ohne den Codesender bewegen, aber das bringt uns nicht näher ans Ziel. Ohne gültige Zutrittsgenehmigung kommen wir an keinem Kontrollposten vorbei«, sprach ich nach kurzem Schweigen meine Sicht der Dinge aus.
»Was schlägst du vor?«, erkundigte sich Daiven angespannt.
»Ich kenne jemanden. Mary. Sie hat lange Zeit mit mir gemeinsam an der Programmierung der Surges gearbeitet. Mit ihrem Equipment kann ich uns Ausweise besorgen. So werden wir zumindest auf dem Papier zu waschechten Bürgern
Elverstons. Dazu bräuchte ich allerdings etwas Zeit«, erklärte ich und lief zielgerichtet weiter. Im Moment wollte ich nur noch raus aus dem bitterkalten Wasser. Meine Beine fühlten sich bereits ganz taub an.
»Ausweise? Was genau hast du vor?«, erkundigte sich Daiven neugierig.
Als Antwort grinste ich, obwohl es keiner sah. »Es hört sich vielleicht leicht an, ist es aber nicht.«
»Raus mit der Sprache!«, bedeutete Lio ebenfalls interessiert.
»Wenn wir an Lamont herankommen wollen, können wir nicht einfach vor den Justizrat treten oder ihn auf offener Straße ansprechen. Seine Bodyguards begleiten ihn rund um die Uhr«, fuhr ich fort und verkrampfte mich bei der Nennung des Namens einen Moment. Auf der einen Seite war er der Mann, der mich großgezogen hatte. Andererseits hatte er mich den grauenhaften Experimenten und zahlreichen Operationen ausgesetzt. Der Gedanke, ihn wiederzusehen, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
»Schön zu wissen ...«, warf Lio harsch ein.
»Ich war ja nicht fertig«, antwortete ich ebenso forsch. »Es gibt durchaus einen Ort, an dem er alleine anzutreffen ist und an dem ich mich rein zufällig verdammt gut auskenne.«
Abrupt hielt mich Daiven am Hemd fest und ich drehte mich zu ihm um. Der Schein seiner Stirnlampe blendete mich für einen Augenblick. »Kann es sein, dass du direkt in die Höhle des Löwen gehen willst?«
»Dann können wir den Sender gleich deaktivieren und den Surges zuwinken. Das ist der helle Wahnsinn!«, ergänzte Lio und positionierte sich neben seinem besten Freund.
»Jungs! An was dachtet ihr denn? Wolltet ihr in Elverston Urlaub machen?« Ich erhob die Stimme, um ihnen zu verdeutlichen, dass es nur diese eine Chance gab. »Übrigens,
im Vergleich mit Lamont ist ein Löwe ein Schmusekätzchen. Wir befinden uns eher auf direktem Weg zum Drachenhort. Im Klartext ... wir besuchen mein früheres Zuhause und stellen uns dort der doppelzüngigen feuerspeienden Echse. Versteht ihr?«
»Was hast du vor? Du vergisst Nash. Ich glaube kaum, dass er spuren wird. Mit ihm im Schlepptau fliegen wir auf, noch bevor du bei Lamont einbrechen kannst.«
»Wir können ihn nicht fesseln und knebeln ... und hoffen, dass er den Mund hält ... vergiss es!«, warf Lio ungeduldig ein.
Ich lächelte zufrieden. »Nash laden wir bei Mary ab und holen ihn später ab. Selbst mir ist das Risiko zu groß, dass der Große einen Aufstand anzettelt. Wir können ihr vertrauen. Sie wird uns nicht verraten. Ursprünglich wollte sie mit mir dem Widerstand beitreten, hat aber aus Angst einen Rückzieher gemacht. Sie besorgt uns sicherlich auch ein paar neue Klamotten. In Uniformen, die auch noch widerlich stinken, kommen wir nicht weit. Einverstanden?«
Für einen Moment herrschte Stille. Schließlich räusperte sich Daiven. »Okay. Ich hoffe nur, dass du recht behältst. Jetzt lasst uns schnell weiter gehen. Ich bin kurz vorm Erfrieren und dem Frieden traue ich gerade nicht über den Weg.«
Ich griff nach seiner Hand und zog ihn zu mir heran. »Es wird klappen. Vertrau mir, mein Süßer, ich weiß genau, was ich tu.«
»Mein Süßer?«, hakte er mit süffisantem Unterton nach.
»Bist du das etwa nicht?«, säuselte ich grinsend zurück.
»Über den Kosenamen reden wir noch«, flüsterte er mir ins Ohr, küsste flüchtig meine Wange und wir ließen einander wieder los.
»Seid ihr jetzt endlich fertig?«, fragte Lio seufzend.
Als Antwort lachte ich leise und übernahm mit Daiven an meiner Seite die Führung durch die äußere Kanalisation der Stadt. Auch ohne mich auszukennen, wusste ich, dass noch
etliche Kilometer Fußmarsch durch das eiskalte und stinkende Wasser vor uns lagen.
* * *
Nervös musterte ich mich in dem mannshohen Spiegel und fuhr mir mit den Fingern durch die feuchten nackenlangen strohblonden Haare. Ich war blass und die Augenringe verrieten nur zu deutlich, dass ich in den vergangenen Nächten nicht viel Schlaf gefunden hatte. Die gleichen aufwühlenden Gedanken, die mir die Nachtruhe geraubt hatten, wirbelten auch jetzt durch meinen Kopf.
»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen, Adam? Es ist viel zu gefährlich.« Marys zartes Gesicht tauchte neben meinem im Spiegel auf.
Mit einem beruhigenden Lächeln drehte ich mich zu ihr um. Wir waren im gleichen Alter und die meisten Männer würden sie wohl als äußerst attraktiv bezeichnen. Im Moment jedoch verfinsterte ein dunkler Schatten ihre Miene. Angst blitzte in ihnen Augen auf.
Behutsam legte ich die Hände auf ihre Schultern. »Was soll ich noch großartig darüber nachdenken. Lamont hat sein Lieblingsexperiment zum Tode verurteilt und zudem fliehe ich mit neuen Freunden vor den Black Devils
, die mir ebenfalls nach dem Leben trachten. Egal wohin ich mich wende, das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich kann mich nicht für den Rest meines Lebens verstecken. Dann stelle ich mich lieber Lamont und hoffe, dass er uns zuhört.«
Mary senkte seufzend den Blick. »Ich verstehe dich gut. Du bist ein Mensch, der weiterkämpft, auch wenn er bereits tot am Boden liegt. Das habe ich schon immer an dir bewundert. Als ich von deiner Verhaftung erfuhr, dachte ich, wir sehen uns nie
wieder. Und jetzt stehst du aus heiterem Himmel gesund und munter von mir. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du lebst. Jetzt sag mir ehrlich ... ist dein Leben das Risiko wert?« Sie hob den Blick und sah kurz zu Nash hinüber, der im Türrahmen auf dem Boden hockte und uns anstarrte. »Nicht nur du, auch deine Freunde sind in Gefahr. Und was geschieht mit ihm, falls du nicht mehr zurückkommst?«
»Wir alle nehmen die Gefahr in Kauf ... freiwillig.« Ich schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. »Mach dir um Nash keine Gedanken. Ich komme wieder. Egal wie. Bevor ich gehe, rede ich noch mit ihm. Er ist leicht verwirrt, das ist alles.«
»Das ist alles?« Mary hob skeptisch die Augenbrauen. »Ich weiß, dass du mir einiges verschweigst und ich will auch gar nicht wissen was. Aber es hat mit ihm zu tun, stimmt’s?« Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Nash. »Sag nichts! Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst und wiederkommst.«
Ich zwinkerte ihr zu. »Versprochen. Ich muss dir doch noch Daiven vorstellen.«
Mary lächelte, wenngleich etwas gezwungen. »Einverstanden. Ich schlage vor, du brichst jetzt auf. Lass deine Freunde nicht so lange warten. Das Arbeiterviertel ist zwar sicher, aber seit du weg warst, wurden die Patrouillen erhöht. Und bitte achte auf Charlys Klamotten. Er wird nicht begeistert sein, wenn er merkt, dass ein paar von seinen Sachen fehlen. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich ihm den Typen hier verkaufen soll, sobald er nach Hause kommt.«
Ich lachte und zupfte den beigefarbenen Pullover zurecht, den ich von ihr bekommen hatte, um auf der Straße nicht aufzufallen. »Dein Bruder kann drei seiner Uniformen verkraften. Und wegen Nash ... Charly ist doch derjenige, der ständig neue Tussis anschleppt. Gleiches Recht für alle.« Ich ging neben meinem Bruder in die Hocke. »Großer Bruder, hör mir gut zu. Du verstehst das meiste, was um dich herum passiert. Ich
weiß aber, dass dir auch dein Gehirn Dinge vorgaukelt, die nicht echt sind. Deshalb erteile ich dir jetzt eine Anordnung, die du zu befolgen hast, egal was passiert. Es ist verdammt ernst. Hast du verstanden?«
Gespannt wartete ich auf eine Reaktion. Zu meiner Überraschung nickte er. »Adam, pass auf dich auf«, flüsterte er mir zu und wirkte leicht erschöpft. Er hatte einen klaren Moment.
Vor Freude hätte ich ihn beinahe in den Arm genommen. Stattdessen packte ich ihn an den Oberarmen. »Lio und Daiven werden mit mir etwas sehr Gefährliches tun. Daher wirst du bei meiner Freundin Mary bleiben und dich benehmen. Sie gibt dir etwas zu essen. Du darfst kein Wort sprechen, zu niemanden. Dass du das kannst, hast du mir schon gezeigt. Also warte hier, bis wir dich abholen. Halte die Position und bleib in Deckung. Das ist ein Befehl!«
»Sir. Ja. Sir.« Seine Antwort schockierte mich dieses Mal nicht.
»Gut Soldat.« Ich erhob mich und salutierte.
Nash tat es mir gleich und ich seufzte. Ich hatte meine Bedenken, dass er ruhig blieb. Leider musste ich das Risiko eingehen. Wir konnten ihn nicht mitnehmen.
»Am besten du ignorierst ihn, dann wird er es auch tun«, erklärte ich Mary und hoffte, dass ich mich nicht irrte. Zumindest hatte diese Taktik in Ailmoor funktioniert. »Ich versuche, ihn so schnell wie möglich abzuholen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin, dass du mir ... dass du uns hilfst.«
Mary nickte lächelnd. »Ich wünsche mir sehnlichst, dass das alles endlich ein Ende hat. Die Surges werden immer zahlreicher und irgendwann sind wir Menschen überflüssig. Bei diesem Gedanken wird mir übel. Dennoch verstehe ich nicht,
wie du deinen Vater dazu bringen willst, mit den Experimenten aufzuhören.«
Seufzend nahm ich Mary in den Arm und flüsterte: »Ich weiß es nicht. Meine Freunde und ich werden wohl improvisieren müssen. Vielleicht gelingt es uns, ihm die Augen zu öffnen. Er besitzt genug Macht, um dagegen vorzugehen. Ich hoffe, dass er sie wenigstens einmal richtig einsetzt. Wenn schon nicht für mich, dann für eine alte Freundin von ihm, die für unsere Sache ihr Leben gelassen hat.«
»Hoffentlich passiert dir nicht das Gleiche. Ich denke an dich und halte beide Daumen.« Mary löste sich traurig aus der Umarmung und eilte in ihr Arbeitszimmer. Als sie zurückkam, drückte sie mir einen Rucksack in die Hand. »Während du geduscht hast, hat das System die Arbeit übernommen. Hier drin befinden sich drei Speicherkarten und Klamotten. Ich habe auch etwas zum Essen und Trinken eingepackt. Bald wird sich zeigen, ob die Passiergenehmigungen und der neue Arbeitsstatus euch bis zum Ziel bringen werden.«
Ich schenkte ihr dankbares Lächeln. »Ich vertraue deinen Fähigkeiten. Wir müssen nur durch die Kontrolle kommen, den Rest schaukel ich schon. Du vergisst, dass ich Jahre lang in dem Haus lebte und weiß, wie man ungesehen rauskommt. Diesmal werde ich es ausnahmsweise andersherum probieren.«
Sie seufzte. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
»Es gibt kein Zurück.« Ich klopfte ihr ein letztes Mal auf die Schulter und schnappte mir den Rucksack. Ohne ein weiteres Wort nickte ich Nash zu und trat dann in den Hausflur. Rasch eilte ich ohne Verabschiedung zur Treppe. Ich war ihr für die Hilfe mehr als dankbar, trotzdem konnte ich es nicht aussprechen. Es würde sich wie ein Abschied für immer anfühlen und ich wollte sie unbedingt wiedersehen.
»Pass auf dich auf! Ich möchte dich kein zweites Mal verlieren!«, rief Mary mir leise nach.
»Wirst du nicht!«, antwortete ich und stürmte die Stufen nach unten. Ich schämte mich, da ich es nicht übers Herz brachte, ihr in die Augen zu blicken. Hätte ich es getan, hätte sie die Wahrheit sofort erkannt. Es war alles andere als sicher, dass wir diese Nacht überleben würden. Mit Lamont zu verhandeln war, als wollte man einen Hurrikan kontrollieren. Als ich den Bürgersteig erreichte, marschierte ich schnurstracks in Richtung Park. Daiven und Lio warteten dort im Gebüsch auf mich.
Mit jedem Schritt wuchs die Nervosität in mir und vermischte sich mit der Angst vor der Ungewissheit. Ich hatte Nash bei Mary zurückgelassen, ohne zu wissen, was mit uns geschehen würde. Doch ich vertraute ihr. Sie wusste, was zu tun war, falls ich nicht zurückkäme. Er durfte keinesfalls mit ihr oder uns in Verbindung gebracht werden. Sie würde instinktiv richtig handeln und Nash dem eigenen Schicksal überlassen, indem sie ihn auf die Straße setzte. Soweit wollte ich es aber nicht kommen lassen. Ich schuldete es ihm, alles zu versuchen, um ihn vom Apexfluch zu befreien. Darüber hinaus hatte ich es mir zum Ziel gesetzt, den wahren Nash kennenzulernen. Im biologischen Sinn waren wir Brüder, vielleicht erhielten wir die Möglichkeit, uns auch als solche zu begegnen.
Der Wunsch war während unseres Aufenthalts in Ailmoor erwacht und von Tag zu Tag stärker geworden. Er war es, der mich antrieb. Ich beschleunigte das Tempo und eilte die Straße entlang. Um den Kontrollposten auf dem Rückweg zu umgehen, nahm ich wie schon zuvor einen Umweg in Kauf.
In Gedanken kehrte ich zurück in eine Zeit, in der ich mich zum ersten Mal losgelöst von meiner Kindheit gefühlt hatte. Nach dem Auszug aus Lamonts Villa war ich in meine eigenen vier Wände gezogen. Die Wohnung lag in der Nähe von Mary und ihrem Bruder Charly. Für einen flüchtigen Moment verspürte ich den Wunsch, dort vorbei zu schauen. Ob inzwischen jemand eingezogen war? Womöglich lagen
meine Habseligkeiten längst auf dem Müll. Darunter auch das einzige Foto, das ich von meiner verstorbenen Mutter besaß. Ich verwarf die Idee sofort wieder. Das Risiko erkannt zu werden war zu groß. Ebenso widerwillig verdrängte ich die Erinnerungen an all die Orte, an denen ich mich gerne aufgehalten hatte. Die Bar, in der ich Dylan kennengelernt hatte. Mein Lieblingsimbiss, der die besten Chickenwings der Stadt zubereitete. Selbst über den Markt war ich hin und wieder flaniert, nicht nur um Lebensmittel einzukaufen, sondern weil dort Antiquitäten verkauft wurden. Ich hatte es geliebt uralte Fotoapparate und andere technische Geräte aus den Anfängen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu erwerben, sie auseinanderzunehmen und wieder zum Funktionieren zu bringen.
Das alles kam mir plötzlich wie ein fremdes Leben vor. Zu viel war passiert und ich wusste, dass es nie wieder so sein würde. Meine Zukunft, sowie die meiner Freunde und vor allem die von Nash war ungewiss. Ich war mir nur sicher, dass ich mich Hals über Kopf in Daiven verliebt hatte und ihn unter allen Umständen beschützen wollte. Selbst wenn ich mich für ihn opfern müsste.
In Gedanken versunken bog ich um die nächste Straßenecke und eine der zahlreichen Patrouillen schreckte mich auf. Auf dem Hinweg war sie noch nicht da gewesen. Zum Glück sah ich weit und breit keinen Surge. Leider war es mir nicht mehr möglich, umzukehren, ohne das es auffiel. Daher reihte ich mich in die lange Menschenschlange ein und vertraute ganz Marys und meinem Können. Jetzt würde es sich zeigen, ob die gefälschten Ausweiskarten die Scanner von meiner neuen Identität überzeugen konnten.