Kapitel Vierundzwanzig
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Adam
Nervös saß ich neben Daiven im hinteren Teil des Militärtransporters, der uns zu den geheimen Laboratorien bringen würde. Die Atmosphäre zwischen allen Anwesenden war angespannt. Man konnte die Angst schon fast riechen. Es war jedoch nicht die Furcht vor Lamont und Smith. Es waren die Bedenken, dass für Nash jede Hilfe zu spät kam. Selbst Daiven hatte mir kurz vor Abfahrt zugeflüstert, dass er nicht damit rechnete, dass eine Apexsitzung ausreichen würde.
Ich war in dieser Hinsicht eher positiv eingestellt. Einzig Nashs Zustand bereitete mir Sorgen. Das Beruhigungsmittel setzte ihm ordentlich zu. Er hatte die Augen mehr geschlossen als geöffnet und schien kaum mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Doch vermutlich würde er sich schnell erholen, sobald das Betäubungsmittel nachließ.
Was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, waren Lamonts Pläne. Callahan für die eigenen Zwecke zu benutzen, passte zu ihm. Somit würden wir in den kommenden Stunden unweigerlich zwischen die Fronten geraten, denn beide vertraten ganz andere Ideale als wir. Zudem musste ich immer an die unschuldige Bevölkerung denken. Selbst wenn der Bauplan des Chips weitab der Wohnhäuser Elverstons aufbewahrt wurde, gab es genug Soldaten, die aufgrund zweier Psychopathen um ihr Leben fürchten mussten. Der mögliche Einsatz der Surges ließ meinen Knoten in der Magengegend auf Medizinballgröße anwachsen. Es stand mehr auf dem Spiel, als ich noch heute Morgen angenommen hatte.
Ein weiterer Gedanke wühlte mich auf. Meine Mutter lebte. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, was in all den Jahren mit ihr geschehen war. Fast die Hälfte aller Treibhäuser waren damals aufgrund eines Unfalls den Flammen zum Opfer gefallen. Niemand der Anwesenden hatte den Brand überlebt, zumindest war es so verlautet worden. Man hatte lediglich verkohlte Überreste bergen können, die nur aufgrund ihrer DNA-Profile zugeordnet werden konnten. Meinen Informationen nach, hatte man auch den Leichnam meiner Mutter gefunden. Was war tatsächlich mit ihr geschehen? Je länger ich über Lamonts Worte nachdachte, führte mich das zu dem einzigen logischen Schluss. Das Flammenmeer hatte ihren Körper zerstört, doch den Ärzten war es gelungen, sie vor dem endgültigen Ende zu bewahren. Diese Vorstellung jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Falls ich richtig lag, war Lamont grausamer, als ich bisher angenommen hatte. Nicht nur, dass er Kinder für ungeheuerliche Experimente missbrauchte, er folterte sogar die Frau, die er angeblich geliebt hatte. Unweigerlich musste ich an Daiven denken. Wenn ihm jemals solch ein Schicksal ereilen würde, könnte ich es nie übers Herz bringen, ihn für den Rest seiner Tage leiden zu lassen. So schwer und traurig sich die Vorstellung anfühlte, ich würde ihn lieber in Frieden gehen lassen, anstatt seinen Geist in einen leblosen Körper einzusperren, der ihn rund um die Uhr quälte.
Mehr denn je war ich davon überzeugt, dass ich meinen Plan durchziehen musste. Entschlossen holte ich tief Luft und rief mir die Topografie des nördlichen Stadtteils ins Gedächtnis. Unterhalb der Gewächshäuser befand sich Liberty Station . Vor den Augen jedes Unwissenden verborgen. Es war ein gut gesichertes unterirdisches Areal, bestehend aus einem Labyrinth aus Gängen. Vermutlich würden wir eine Fluchtmöglichkeit erkämpfen müssen, doch das Risiko war es mir wert.
»Was planst du wirklich?«, durchbrach ich die Stille und richtete den Blick auf Lamont, der mir gegenüber saß.
Für den Hauch einer Sekunde sah ich Unsicherheit in seinem Gesicht aufblitzen. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Er fasste sich jedoch rasch und musterte mich mit ernster Miene. Etwas seltsam Entrücktes in seinem Blick bestärkte mich in meinem Vorhaben. Vielleicht war es die Emotionslosigkeit, die er ausstrahlte. Vermutlich aber auch die Überheblichkeit, die er uns präsentierte. Höchstwahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Er und Callahan durften nicht länger wüten.
»In Bezug worauf?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.
Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Du bist so durchschaubar.«
»In Bezug worauf?«, wiederholte er und wirkte erneut einen Augenblick verunsichert.
»In allem. Du bist stets auf deinen Vorteil bedacht«, ließ ich mich herab, ihm meine Gedanken zu erklären. »Es ist ein kluger Schachzug, zu versuchen, gleich zwei Gegner in die Knie zu zwingen. Nur eine Sache verstehe ich nicht. Was treibt dich an? Warum tust du das?«
»Was tu ich deiner Meinung nach?«
»Das weißt du genau ...« Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. Endlich war die Zeit gekommen ihm all das zu sagen, was mir schon immer auf der Zunge brannte. »Hast du dir jemals in deinem Leben Gedanken darüber gemacht, was du mir und den anderen Kindern angetan hast? Hast du gar kein Gewissen? Ist dir überhaupt klar, welche Schmerzen ich erleiden musste? Oder welche Angst ich hatte? Natürlich nicht! In meinen Augen bist du ein ebenso großes Arschloch wie Callahan! Ihr könnt euch die Hand geben, denn Menschenleben bedeuten euch gar nichts! Ihr benutzt jeden um euch herum, um eure eigenen Wahnvorstellungen umzusetzen. Alles andere ist euch völlig egal. Aber für was? Was zum Teufel bezweckst du wirklich damit? Und komme mir jetzt nicht mit dem ewigen Leben! Ich bin nicht blöd.«
Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihm meine Hände um seinen Hals gelegt und zugedrückt. Zu seinem Glück rumpelte der Transporter gerade über eine unbefestigte Straße. Es war zu wackelig, um ihm an den Kragen zu gehen. Daiven griff nach meiner Hand und drückte sie fest. Sein Rückhalt war es, der mir die Kraft verlieh, meinen Stiefvater weiter zu reizen und trotzdem den angestauten Hass ihm gegenüber zu kontrollieren.
Lamont grinste. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dank dir und den anderen Kindern in der Medizin heute alles möglich ist, sonst würdest du nie so reden.«
»Du bist ein widerliches Insekt! Ich bin froh, dass du nicht mein Vater bist!«, giftete ich zurück.
Auf einmal kam das Fahrzeug zum Stehen. Für mich gab es nun kein Halten mehr. Fuchsteufelswild packte ich Lamont am Revers und zog ihn auf die Füße. Ich würde das Monster in Menschengestalt zwar nicht töten, aber ich war in der Lage ihm eine gehörige Portion Angst einzujagen. Die Stärke meines kybernetischen Armes verlieh mir ein Machtgefühl, das mir fremd war, mir aber zugleich einen inneren Frieden schenkte. Endlich konnte ich tun, was ich mir in meinen Träumen immer ausgemalt hatte. Mit Leichtigkeit hob ich ihn in die Luft und nahm ihm dabei die Möglichkeit zu atmen. Aus Lamonts Augen sprach die Panik und ich wurde von einem unbeschreiblichen Glücksmoment ergriffen. »Merk dir Folgendes ganz genau«, flüsterte ich ihm mit kalter Stimme zu. »Du lebst nur noch, weil ich mit deiner Hilfe einfacher an den Apex komme. Sobald die heutige Nacht endet, wird dir kein Flehen mehr helfen. Ich hoffe, du hast mich verstanden?« Ich stellte ihn auf seine Füße und richtete ihm fein säuberlich den Kragen seines teuren Anzugs. Er sollte wissen, dass ich die Worte nicht leichtfertig ausgesprochen hatte.
Lamont sah mich ausdruckslos an. Ich konnte dennoch Erleichterung wahrnehmen, als der Colonel die Plane zur Seite schob und den Kopf herein streckte.
»Alles in Ordnung?«, hakte Smith skeptisch nach.
»Natürlich! Lasst uns gehen. Ich denke, es wird inzwischen alles vorbereitet sein«, antwortete Lamont, als wäre nichts vorgefallen. »Wir müssen uns beeilen. Die Apexsitzung sollte beendet sein, bevor Callahans Männer hier eintreffen.« Ein letztes Mal taxierte er mich und seine Körpersprache zeigte, dass ihn weder meine Worte noch der Angriff überrascht hatten.
»Ich habe dem Labor vor unserer Abfahrt per Funk Bescheid gegeben. Sie warten auf euch«, sagte der Colonel und strotzte nur so vor Selbstgefälligkeit.
»Wunderbar! Siehst du, ich halte meine Versprechen. Dann lasst uns keine Zeit verlieren!« Ein weiteres Mal grinste Lamont mich an und kletterte von der Ladefläche.
Lio nickte mir stumm zu und gab mir zu verstehen, dass er mit dem Vorschlag einverstanden war. Er schnappte sich Nash und folgte meinem Stiefvater hinaus ins Freie. Wenigstens musste er unseren Halbbruder nicht mehr stützen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels hatte bereits nachgelassen.
»War es klug ihm zu drohen?«, flüsterte mir Daiven ins Ohr, während wir ausstiegen.
»Damit musste er früher oder später rechnen. Zumindest konnte ich mir ein wenig Luft verschaffen. Er wird nichts unternehmen. Wenigstens solange nicht, solange er glaubt, dass seine Position gesichert ist. Uns nimmt er gar nicht für voll. Er wird erst merken, dass er uns unterschätzt hat, wenn es für ihn zu spät ist. Sobald es Nash besser geht, werden wir sofort verschwinden.«
»Bist du dir sicher?« Daivens besorgter Blick verunsicherte mich. Doch ich hatte mich für den riskanten Plan entschieden und ihn längst in Gang gesetzt. Uns blieb somit keine andere Möglichkeit. Zumal mir ohnehin keine einfiel.
»Bei nächster Gelegenheit gibst du das, was ich dir jetzt sage, an Lio weiter«, wisperte ich und achtete peinlich genau darauf, dass weder Lamont noch Smith es bemerkten. Zum Glück liefen sie vorneweg. Sie wussten, dass wir ihnen folgten. »Haltet euch bereit. Sobald ich den Befehl gebe, müsst ihr drei schnell handeln und genau das tun, was ich sage. Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ihr müsst mir vertrauen. Wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, geht es gut aus.«
»Kommt ihr?«, fragte Lamont ungeduldig über die Schulter hinweg.
Daiven nickte und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Kurz darauf erreichten wir den versteckten Eingang zu Liberty Station . Dort erwartete uns eine kleine Schar bewaffneter Soldaten. Das überraschte mich keineswegs. Die Stahltür zum unterirdischen Bunker lag inmitten eines der Gewächshäuser, getarnt hinter einigen Obstbäumen. Stufen führten nach unten und ich wusste genau, was uns gleich erwartete.
»Mein Präsident, ich werde mich hier verabschieden«, sagte Colonel Smith unerwartet. »Ich muss mich noch um eine Sache kümmern.«
»Ja, ich weiß. Wir sehen uns dann später im Labor«, antwortete Brent, ohne ihn anzusehen, und hielt unbeirrt auf das Ziel zu.
Nach einem Sicherheitscheck, bei dem uns die Waffen abgenommen wurden, betraten wir den langen Flur, den ich in meiner Kindheit viel zu oft entlang gelaufen war. Wehrlos waren meine Freunde trotzdem nicht. Ich wusste, zu was sie im Stande waren, und vertraute auf ihre Fähigkeiten. Ohne dass es jemandem auffiel, gab ich Daiven ein Zeichen, dass er sich alles gut einprägen sollte. Ein kaum merkliches Nicken zeigte mir, dass er genau das bereits tat. So ließ ich es zu, dass meine Gedanken für ein paar Momente in die Vergangenheit abschweiften.
Ich sah mich wieder als kleinen verängstigten Jungen, der nicht verstand, warum man ihn fortwährend quälte und unzähligen Experimenten aussetzte. Für den Bruchteil einiger Sekunden fühlte ich mich erneut hilflos und suchte heimlich nach Daivens Hand, um ein wenig Halt zu finden. Deutlich erinnerte ich mich daran, dass ich mir als Erwachsener geschworen hatte, nie wieder einen Fuß hier hineinzusetzen. Doch jetzt marschierte ich durch den Hauptflur, der durch Neonröhren in grelles Licht getaucht war. Heute war alles anders als früher. Heute war ich in der Lage mich zu wehren und alles zu beenden. Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper verdrängte ich die Gedanken und konzentrierte mich nur noch auf die Gegenwart. Daivens fester Händedruck bestärkte mich in meinem Vorhaben.
Wie in Trance ging ich weiter und rief mir die unterschiedlichen Abteilungen in Erinnerung. Die Operationssäle und die Versuchslabore befanden sich auf der ersten Ebene der großen Anlage. Die Zellen auf der zweiten. Es dauerte nicht lange und wir erreichten den Teil, der für uns von Wichtigkeit war. Nur noch drei Türen und unser erstes Ziel war zum Greifen nahe. Instinktiv griff ich nach dem Fläschchen mit dem kostbaren Medikament, das ich versteckt in der Hosentasche behielt. Ich würde es erst herausrücken, sobald der Zeitpunkt gekommen war, keine Sekunde früher.
Aufmerksam beobachtete ich Lamont und betrat als Letzter den Raum. Wir wurden von einer der Wissenschaftlerinnen begrüßt, doch ich achtete nicht auf sie, denn etwas anderes zog mich schlagartig in seinen Bann. Es war eine verglaste Wand, hinter der ein einzelnes Krankenbett stand, in dem eine Person lag, die an unzählige medizinische Geräte angeschlossen war. Lediglich die intimsten Körperteile waren bedeckt. Die vernarbte Haut war ein grauenhafter Anblick. Obwohl ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an meine Mutter besaß, sagte mir eine Welle heftiger Emotionen, dass sie es war, die da vor sich hinvegetierte.
Geschockt rannte ich zur Glasscheibe und starrte wie versteinert auf die Frau im Bett. Meine Mutter lag bewegungslos da und doch wusste ich intuitiv, dass sie alles um sich herum mitbekam. Woher ich die Gewissheit nahm, konnte ich nicht sagen, aber ich spürte es umso intensiver. Je länger ich den entstellten Körper betrachtete, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass sie in jeder Minute, in der sie am Leben gehalten wurde, furchtbare Qualen litt.
»Was hast du getan?«, flüsterte ich bestürzt, kaum fähig überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen.
»Samantha geht es gut. Sie liegt im künstlichen Koma und wird rund um die Uhr versorgt. Dank deiner DNA und den bisherigen Fortschritten bei den Tests, sind wir schon bald in der Lage Samanthas Geist für immer mit ihrem neuen Körper zu verbinden.« Lamonts Stimme klang in meinen Ohren wie der Schrei eines unbesiegbaren Monsters. Ich hörte die Worte, aber ich begriff sie nicht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Wie in einem Albtraum gefangen, drehte ich mich zu ihm um und starrte ihn erschüttert an. »Was hast du vor?«
Lamont gab der Frau ein Zeichen. Daraufhin ging sie hinüber zu einer Art gläsernem Tank aus dunklem Glas und gab auf einer Tastatur an der Seite ein paar Befehle ein. Plötzlich wurde sichtbar, was das Behältnis verbarg. Vor Schreck vergaß ich beinahe, Luft zu holen. Vor mir schwamm ein Körper in einer durchsichtigen Nährlösung. Doch es war nicht irgendein Körper. Es war ein künstliches Konstrukt, das bis ins kleinste Detail einem Menschen nachempfunden worden war. Das Ding, denn als etwas anderes konnte ich es nicht bezeichnen, war über und über mit durchsichtigen Schläuchen versehen, durch die eine weiße Flüssigkeit gepumpt wurde. Der Oberkörper des kybernetischen Wesens war fast vollständig mit Haut überzogen. Beim unteren Teil waren die mechanischen Komponenten noch zu erkennen. Am meisten schockierte mich jedoch der Kopf. Das Antlitz war mir nicht fremd. Es war das Gesicht meiner Mutter.
»Nicht mehr lange und wir können ihr intaktes Gehirn verpflanzen. Dann wird Samantha wieder sie selbst sein können. Ein gesundes, lebensfrohes Wesen.«
Als seine Worte meinen Verstand erreichten, ballte ich von unbändiger Wut getrieben die Hände zu Fäusten. So sehr mir die Vorstellung gefiel, dass Mum wieder ein Teil meines Lebens sein könnte, wusste ich, dass es falsch war. Meine Mutter war nicht dieser außergewöhnliche Cyborg vor mir. Meine Mutter war der zerstörte Körper in dem Raum nebenan, der qualvoll am Leben erhalten wurde.
»Niemals!«, schrie ich hasserfüllt und zitterte am ganzen Leib. »Niemals werde ich zulassen, dass du so etwas tust! Du bist ein teuflisches Ungeheuer! Hast du sie jemals gefragt, ob sie das überhaupt will? Bist du dir sicher, dass sie nicht lieber schon vor Jahren in Frieden gegangen wäre? Wie kannst du sie nur derart quälen?«
Als Antwort lachte Lamont lauthals. Zwei starke Arme, die mich von hinten umschlangen, hielten mich zurück, ehe ich mich auf mein Gegenüber stürzen konnte.
»Nicht, Adam«, flüsterte mir Daiven ins Ohr. »Ich kann deine Gefühle verstehen, aber er ist es nicht wert. Geh und verabschiede dich von deiner Mutter, bevor wir Nash zurückholen.«
Verwirrt drehte ich mich zu ihm um. Er nickte mir kaum merklich zu.
»Du musst dich jetzt konzentrieren, dafür brauchst du einen freien Kopf«, bekräftigte er wispernd seine vorangegangene Aussage, danach bellte er Lamont an: »Mach die Tür auf!«
Ich atmete tief durch und versuchte meinen Pulsschlag wieder zu verlangsamen. Daiven hatte recht. Es stand zu viel auf dem Spiel. Ich durfte mich ab sofort von nichts ablenken lassen. Nicht einmal von meiner totgeglaubten Mutter.
»Okay«, erwiderte ich wieder etwas gefasster und berührte mit den Fingern Daivens Hand, die auf meiner Schulter lag.
Lamont bewegte sich auf die Tür mit dem Zahlenschloss zu und tippte den dazugehörigen Code ein. Binnen ein paar Sekunden ertönte ein leises Piepen. Die Glastür zum Krankenzimmer schob sich lautlos auf und gab den Weg frei. Lio hinderte meinen Ziehvater daran, den Raum zu betreten. Der Moment würde somit nur meiner Mutter und mir gehören.
Seufzend presste ich die Lippen aufeinander und sah hilfesuchend zu Daiven. Sein aufforderndes Lächeln verschaffte mir den notwendigen Mut. Langsam betrat ich den Raum und näherte mich Schritt für Schritt dem Bett. Für einen Moment schloss ich die Augen und versuchte, sie mir ins Gedächtnis zu rufen. Bedauerlicherweise verfügte ich nur über bruchstückhafte Erinnerungen an Samantha Lamont. Das einzige, an das ich mich gut erinnern konnte, war ihr Porträt. Sie war eine attraktive junge Frau mit einem einnehmenden Lächeln und faszinierenden strahlenden Augen gewesen. Soweit ich wusste, gab es von diesem Bild exakt zwei Exemplare. Eines davon hatte ich einmal besessen. Das andere hing an der Wand von Lamonts Schlafzimmer.
Mein Blick wanderte über ihren völlig entstellten Körper. Er war eine peinigende Hülle, in der mein Stiefvater ihren Geist schon viel zu lange gefangen hielt. Meine Augen füllten sich mit Tränen und verschleierten mir die Sicht. Ich hielt sie nicht zurück und ließ den quälenden Schmerz zu, der von meinem Herz Besitz ergriff. Meine Kehle schnürte sich zu und ich musste mehrmals hart schlucken, bevor ich wieder freier atmen konnte. Hastig zog ich den neben ihrem Bett stehenden Hocker heran, da mir meine Beine den Dienst versagten. Ich beugte mich zu ihr hinüber und legte ihr eine Hand auf die warme Stirn. Sanft streichelte ich ihren Haaransatz.
»Mum«, wisperte ich. »Ich bin es, dein Sohn Adam. Ich ... ich ... habe dich ... so sehr vermisst. Es gab keinen Tag an dem ich ...« Schluchzend brach ich ab und holte tief Luft. Meine Hand zitterte. Mit geschlossenen Augen stellte ich mir ein weiteres Mal vor, wie mein bisheriges Leben verlaufen wäre, hätte sie an dem verhängnisvollen Tag nicht im Gewächshaus gearbeitet. Sicherlich wäre es nie zu den Experimenten gekommen, bei denen ich so leiden musste. Genauer wollte ich gar nicht erst darüber nachdenken, denn was geschehen war, gehörte der Vergangenheit an und konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Weinend sah ich sie wieder an, während eine Woge aufgewühlter Emotionen mein Herz überflutete. Ich war kaum noch in der Lage mich zu kontrollieren. Doch genau das musste ich. Zärtlich griff ich nach den Fingern ihrer rechten Hand, die gänzlich ohne Verbrennungsnarben war. Ihre Körperwärme zu spüren war schön und unerträglich zugleich.
»Mum, weißt du eigentlich, dass ich einen Halbbruder habe?«, fragte ich sie mit bleierner Stimme. »Er heißt Nash. Wahrscheinlich kennst du ihn sogar. Oder vielleicht auch nicht. Im Moment geht es ihm nicht so gut, aber ich werde ihm helfen, damit ich ihn endlich richtig kennenlernen kann.«
Ich stockte kurz und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Was erzähle ich dir da! Du sollst wissen, dass es mir gut geht und du es fast überstanden hast. Es tut mir so unendlich leid, dass ich nicht schon früher für dich da war und Lamont aufgehalten habe. Doch schon bald wird alles vorbei sein. Dann bist du frei. Das verspreche ich dir.« Liebevoll strich ich ihr über die Stirn und drückte sanft ihre Hand. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass sich ihr Brustkorb nur aufgrund des Beatmungsgerätes auf und ab bewegte. Nicht mehr lange und sie würde dieses grausame Gefängnis verlassen können und endlich ihre wohl verdiente Ruhe finden.
Ich schenkte ihr ein Lächeln und beugte mich zu ihr hinüber. In diesem Moment war ich mehr denn je davon überzeugt, dass mein Plan der richtige Weg war.
»Auch wenn du gerade schrecklich leiden musst, bin ich froh, dass ich dich noch einmal sehen konnte«, hauchte ich ihr ins Ohr. »Ich muss mich jetzt auch schon wieder von dir verabschieden, aber du kannst unbesorgt gehen, denn ich habe jetzt jemanden an meiner Seite, der mir wichtiger ist, als mein eigenes Leben. Ich glaube, du würdest Daiven mögen. Er ist der ehrlichste Mensch, den ich je kennengelernt habe ... Mum ... du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich diesen schüchternen Kerl liebe ... und er mich.«
Mit wild hämmerndem Pulsschlag berührten meine Lippen ihre Stirn. Sodann richtete ich mich auf und nahm überrascht eine einzelne Träne wahr, die plötzlich ihren Augenwinkel verließ und über ihre Wange lief.
Mit einem befreiten Lächeln wischte ich sie ihr fort. Sie hatte mir geantwortet. Das war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.
»Danke, Mum ... Ich liebe dich«, flüsterte ich schluchzend und gab ihr einen weiteren Kuss. Sie hatten mich von einer großen Last befreit. »Leider muss ich jetzt gehen, aber du wirst in meinem Herzen ewig leben.«
Mit einer Mischung aus Freude, Angst und Zuversicht streichelte ich ihre Hand ein letztes Mal mit dem Daumen und ließ sie schließlich los. Ich trocknete mir das feuchte Gesicht mit dem Hemdsärmel und wandte mich endgültig von ihr ab. Zum ersten Mal, seitdem ich erfahren hatte, dass meine Mutter noch lebte, fühlte ich einen inneren Frieden.
»Ich wäre dann so weit«, sagte ich laut, als ich aus dem Krankenzimmer zurückkehrte.
»Kommst du klar?« Daiven blickte mich besorgt an.
Ich nickte lächelnd. »Mir geht es gut. Lasst uns loslegen, damit Mum nicht mehr so lange leiden muss.«
»Verstanden.« Gemeinsam gingen wir hinüber zum Apex. Ich setzte mich auf den freien Stuhl und schielte hinüber zu meinem Bruder. Nash war bereits festgeschnallt und mit Elektroden bestückt. Es fehlte nur noch das Palostadil, das ich aus der Hosentasche zog und der Frau im weißen Kittel überreichte.