dreizehn

Das Gebiet rund um den Witznaustausee entlang der geteerten Straße zum Umspannwerk war großräumig abgesperrt. Ein Streifenwagen stand in der Ortsmitte der kleinen Ansiedlung Witznau, die außer einer alten Mühle, in der das Café untergebracht war, zwei Bauernhäusern, ein paar Scheunen in unterschiedlichen Größen und einer Bushaltestelle nichts mehr zu bieten hatte.

Zwei weitere Einsatzwagen der Polizei parkten am Uferrand, als Karl Strittmatter und Stefan Alt kurz vor 11 Uhr die Geschwindigkeit ihres silbernen Kombis drosselten. Sie kamen erst direkt an der abschüssigen Uferböschung zum Stehen.

Der See lag bedächtig vor ihnen, vereinzelt wehte eine leichte Böe vom Wald herüber. Während die wenigen Laubbäume, die zwischen den schlanken Fichten zu sehen waren, schon ihr Blätterkleid verloren hatten, sahen die Nadelhölzer in ihrem dichten und dunklen Gewand noch bedrohlicher aus als sonst. Stefan Alt vernahm, als er ausgestiegen war und in die Stille des Sees hineinhörte, ein leises, aber beständiges Surren, das vom Umspannwerk zu kommen schien. Ansonsten war alles ruhig.

Er folgte Strittmatter zu den Kollegen, die der Ankunft der beiden kaum Beachtung schenkten.

„Guten Morgen. Was haben wir hier?“, fragte Strittmatter einen Kriminaltechniker, der die Spuren am Tatort sicherte.

„Es handelt sich um einen Bauern aus Nöggenschwiel. 64 Jahre. Witwer. Kinderlos“, stellte Hubert Sieberle kurz die Fakten zusammen.

„Woher wissen Sie das denn?“, fragte Strittmatter leicht irritiert.

„Ich kenne ihn. Er ist der Bruder eines Mitglieds aus meinem Männergesangverein“, erklärte Hubert Sieberle.

„Sie singen?“

„Ja, Tenor, schon seit gut zehn Jahren“, sagte Sieberle und erntete dafür einen ungläubigen Blick. Strittmatter konnte und wollte einfach nicht glauben, dass der schmächtige Mann vor ihm überhaupt singen konnte.

„Und was ist die Todesursache?“, fragte nun Stefan Alt, der den Fundort der Leiche aufmerksam begutachtete. „Schließlich wurde die Mordkommission gerufen.“ Hoffentlich nicht umsonst, wie er innerlich hinzufügte.

„Und nicht grundlos. Schaut euch das mal an.“ Hubert Sieberle zeigte auf die offene Stelle am linken Oberkopf.

„Das sieht schwer nach einem Schädeltrümmerbruch aus. Verursacht durch Fremdeinwirken, darauf verwette ich mein Haus. Der Leichnam wird in die Rechtsmedizin nach Freiburg gefahren und vielleicht wissen wir heute Abend sogar schon ein bisschen mehr. Die Kollegen kommen extra aus ihrem Wochenende, denn einen Toten, oder besser gesagt, ein Mordopfer gab es bisher noch nie in diesem kleinen, verschlafenen Ort“, sagte Sieberle und strahlte dabei vor lauter Sensationslust. Sein Kollege sicherte am Ufer und um den Fundort der Leiche herum Spuren, machte Fotoaufnahmen und nahm jedes noch so auffällige Detail ins Visier.

„Übrigens, der Mann heißt Franz Marder und kommt von oben.“ Er zeigte Richtung Wald.

„Sie meinen Nöggenschwiel?“

„Ja.“

„Und er hatte wohl ein Alkoholproblem, oder hat er einfach letzte Nacht nur zu viel gefeiert, bevor er ermordet wurde?“, fragte Strittmatter und setzte seine Fragen leidenschaftslos fort. Ihm war aufgefallen, dass der Tote eine Flasche in der Hand hielt.

„So gut kenne ich ihn nicht. Es wurde im Gesangverein eben nur gemunkelt, dass der schon erwähnte Sänger einen Bruder habe, der nur zu gerne und zu tief ins Glas schauen würde. Nur, Erwin Marder hat eben zwei Brüder. Und Sie wissen ja, wie so im Dorf geredet wird.“

So notierte sich Stefan Alt die Worte „Franz Marder“, „drei Brüder“ und „Alkohol“ in sein in Leder gebundenes Notizbuch, das ihm seine Freundin Tina zum Geburtstag geschenkt hatte. Wobei er hinter dem Wort „Alkohol“ ein großes Fragezeichen setzte und vor die „drei Brüder“ ein Kreuz malte, das so viel wie „zu befragende Personen“ bedeutete.

Jede Notiz, jedes anfänglich noch so unbedeutende Detail konnte wichtig sein, um die Ermittlungen entscheidend voranzubringen und damit schnell einen Verdächtigen, am besten sogar den Mörder ermitteln zu können. Denn er wusste, dass man gerade auf dem Land, wo jeder jeden kannte und man sich vor nichts mehr fürchtete, als womöglich neben einem potenziellen Mörder zu wohnen, schnell Ergebnisse, Fakten und vor allem eine Verhaftung erwartete und so der Druck immens hoch sein würde. Ein Druck, der sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde noch verstärken würde. Auch deshalb wollte er sich an seinen erfahrenen Kollegen und Partner für dieses Wochenende halten, ohne sich aber von ihm den Schneid abkaufen zu lassen. Denn während seine Zeit nun endlich gekommen war, lief Strittmatters Uhr in der Dienststelle langsam und unaufhörlich ab.