zwanzig

Der Nebel war nach der heftigen Regenphase zu einer Mauer geworden, die mit ihrer allgegenwärtigen Präsenz jedem, der durch diese Wand hindurch wollte, eine gehörige Portion Respekt abverlangte. Die Nacht hingegen schluckte alles, was ihr entgegentrat. Doch beide zusammen ließen im Zusammenspiel mit jeder Lichtquelle alles unwirklich und fremd erscheinen. Als ob man hinter einer dunklen Scheibe säße und mit ansehen müsste, wie die Welt an einem vorüberzieht – ohne Chance, irgendein Objekt festhalten zu können.

Besonders Stefan Alt fühlte sich merklich unwohl, als er kurz vor 18 Uhr bereits zum dritten Mal an diesem Tag in Nöggenschwiel aus dem Wagen stieg.

„Manchmal hat man das Gefühl, wenn man so in das graue Nichts schaut, dass es nie mehr hell wird, weil die Sonne von diesem Nebel einfach verschluckt wurde“, bemerkte er, ohne auf eine Reaktion Strittmatters zu hoffen. Umso überraschter war er, als sein Kollege dann doch antwortete: „Der Nebel hier oben ist schon immer etwas Besonderes gewesen. Unaufhaltsam, zäh, und man kann ihm einfach nicht entkommen.“

So wie ich dir, dachte Alt und konnte sich eine abfällige Grimasse nicht verkneifen. Nachdem er bei Nägeles zweimal die Türklingel betätigt hatte, öffnete ihnen Sekunden später ein fast schon gut gelaunter Reinhold Nägele, der die beiden Kommissare über die schmalen Gläser seiner Lesebrille interessiert musterte.

„Guten Abend meine Herren. Treten Sie ein, ich habe Sie bereits erwartet.“ Zur Begrüßung schüttelte er jedem die Hand und bat sie mit einer galanten Geste in sein Haus.

„Bitte, nach Ihnen. Einfach geradeaus durchgehen.“

Nicht schlecht, dachte Stefan Alt und schaute sich beim Gang durch den überdimensional großen Flur ins Wohnzimmer interessiert um. Während der Flur, der von der Größe her fast dem Foyer eines Fünf-Sterne-Hotels glich, eher spartanisch eingerichtet war und nur mit einem großen Kleiderschrank in einer Nische möbliert war, wirkte der Wohnraum hingegen fast überfrachtet. Teure Teppiche und Läufer bedeckten edles Parkett, das mit seinem geschachtelten Muster besser in ein französisches Gutshaus als in ein altes Bauernhaus im Schwarzwald gepasst hätte. Eine große Sitzecke in hellbeigem Leder dominierte den Raum und wurde dabei von einer großen Schrankwand aus massiver Eiche, einem Bücherschrank und einer Kommode in dunklem Holz eingerahmt. Ein Flachbildschirmfernseher und ein Beistellwagen mit verschiedenen Likören und Schnäpsen krönten das Ensemble, das trotz all der wohnlichen Behaglichkeit und perfekten Harmonie keine Gemütlichkeit bei Stefan Alt aufkommen lassen wollte.

„Wie, Sie haben mit uns gerechnet?“, polterte Karl Strittmatter in einem Ton, den Reinhold Nägele sanft, aber bestimmt zu übergehen wusste.

„Wenn ich Sie bitten dürfte, etwas leiser zu sein. Ich habe hohen Besuch in meinen bescheidenen vier Wänden, und er hat sich kurz etwas hingelegt“, entgegnete er freundlich, setzte sich in seinen Sessel und wies die beiden Beamten an, es ihm gleichzutun.

„Es geht um den Mord an meinem Freund Franz Marder, und da ich ihn als einer der Letzten lebend gesehen habe, musste ich ja damit rechnen, dass Sie früher oder später auch mich befragen werden. Sie wissen ja, so etwas spricht sich in einem kleinen Ort wie Nöggenschwiel besonders schnell herum.“

„Aha.“ Stefan Alt staunte über das selbstsichere, fast schon leicht arrogant anmutende Auftreten seines Gegenübers, auch wenn er Reinhold Nägele und dessen Einschätzung über das Klatschverhalten der Dorfbewohner mehr als Recht geben musste. Und Mord gehörte neben außerehelichen Affären und ungewollten Schwangerschaften ganz klar zu den Klatschthemen, für die man auch schon mal länger am Gartenzaun, an der Bushaltestelle oder im kleinen Gemischtwarenladen verweilt, um mit den neuesten Informationen versorgt zu werden oder das eben Gehörte weiter an den Mann und vor allem an die Frau zu bringen.

„Und was können Sie uns dazu sagen? Sie sollen Franz Marder nicht nur als Letzter lebend gesehen, sondern einen Tag vor seinem Tod auch einen heftigen Streit mit ihm gehabt haben“, fragte Stefan Alt und löste sich damit von seinen analytischen Gedanken über das Redebedürfnis der Nöggenschwieler.

„Der guten Frau Reisinger entgeht aber auch gar nichts“, stellte Reinhold Nägele mit einem etwas zu gewollten Grinsen fest. „Ja, ich habe mich mit dem Franz unterhalten und es wurde auch etwas lauter, aber ob ich es einen Streit nennen würde, möchte ich jetzt nicht sagen. Der Franz redete schon seit Langem nur noch wirres Zeug, so auch gestern Abend. Und da ich für diesen Unsinn keine Zeit hatte, habe ich das Gespräch schnell beendet.“

„Es ging um Ihre Tochter, stimmt das?“, fragte nun Karl Strittmatter und wartete gespannt auf die Antwort seines Gegenübers. Wie vom einen auf den anderen Moment eingefroren erstarrte Reinhold Nägele in seinem Sessel. Mit einer ruckartigen Bewegung nahm er die Hände in seinen Schoß und presste sie dort mit aller Kraft zusammen.

Das scheint wohl der wunde Punkt zu sein, dachte Strittmatter und fuhr mit der Befragung fort: „Ihre Tochter ist seit 15 Jahren verschwunden. Niemand hat seit jener Nacht des Rosenballs mehr von ihr gehört. Wir fragen uns, was hat Franz Marder damit zu tun und vor allem: Wie konnte er Sie deshalb so in Rage bringen?“

Langsam löste sich Reinhold Nägeles Verspannung und fast etwas eingeschüchtert und äußerst zaghaft antwortete er: „Charlotte war mein Ein und Alles, erst recht, nachdem meine Frau mich von heute auf morgen wegen eines anderen Mannes verlassen hat. Doch während der Franz alles durch seinen Alkohol verloren hat und noch nicht mal die Hilfe seiner Freunde – und darunter zähle ich mich auch – annahm, während er einfach aufgegeben und mit seinem Leben abgeschlossen hat, habe ich immer diese, mich am Leben erhaltende Hoffnung in mir getragen, dass es meiner Tochter gut geht. Auch wenn ich nicht weiß, warum sie mir das angetan hat.“

Reinhold Nägele schluchzte, trocken, fast schon kratzig, hatte er doch schon längst keine Tränen mehr, die er vergießen konnte.

„Was könnte denn der Grund ihres Verschwindens sein? Mit ihrem Freund ist sie ja nicht durchgebrannt, wie wir wissen ...“

Reinhold Nägele schaute wie paralysiert geradeaus. Seine Hände zitterten. „Dieser Mensch hätte hier nie auftauchen dürfen. Erst zerstört er Lottis Leben und anschließend meins.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Strittmatter erstaunt.

„Gibt es in der Schweiz nicht genügend Mädchen, die er hätte besitzen und mit seinem Geld hätte gefügig machen können? Aber nein, der ehrenwerte Sohn reicher Unternehmer musste ja unbedingt mit seinen Freunden im Jahr vor Lottis Verschwinden zu unserem Rosenfest kommen und unseren Mädchen mit seinem falschen und obendrein so aufgesetzten Charme den Kopf verdrehen. Und auch Charlotte ist darauf hereingefallen. Aber schlimmer noch: Als er sie das erste Mal sah, da wollte er sie besitzen. Und zwar ganz für sich allein. Er war regelrecht besessen von ihr, Sie hätten mal seine Augen sehen sollen. Vielleicht sollten Sie ihn mal fragen, was er mit meiner Tochter angestellt hat. Er wird Ihnen sicherlich mehr Auskunft über ihren Verbleib geben können. Ich weiß nur eins: Lotti wäre nie mit so einem Hallodri mitgegangen und hätte ihr schönes Leben für so einen berechnenden und alles beherrschenden Menschen aufgegeben.“

„Aber wie wir erfahren haben, fühlte Charlotte sich hier oben sehr eingeengt– wie in einem Gefängnis. Und diesem Leben wollte sie so schnell wie möglich entfliehen“, sagte Stefan Alt, der das nur allzu gut nachvollziehen konnte.

„Charlotte war immer etwas Besonderes. So auch mit ihren Zukunftsplänen. Sie wollte unbedingt studieren, am liebsten in München oder Berlin, ein Jahr als Au-pair in die USA gehen und einfach die Welt fernab vom Rosenzüchten, Schnapsbrennen und Familientourismus der bürgerlich-gemütlichen Art erleben. Aber sie hat mich immer in ihre Pläne eingeweiht und mir alles erzählt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander und deshalb bin ich noch immer felsenfest davon überzeugt, dass meiner Lotti etwas Schlimmes zugestoßen sein muss“, erklärte Reinhold Nägele und rang dabei um Fassung. „Aber allein diese Überzeugung macht mich noch lange nicht zum Mörder.“

Zum Mörder vielleicht nicht, aber zu einem Vater mit dem furchtbarsten Geschmack, was Kosenamen betraf, auf jeden Fall, dachte Stefan Alt und er musste sich innerlich schütteln bei dem Gedanken daran, als Mädchen Lotti gerufen zu werden.

„Das haben wir auch nicht gesagt. Dennoch möchten wir noch einmal näher auf den Streit zwischen Ihnen und Herrn Marder eingehen. Vielleicht wusste er ja, was mit Ihrer Tochter geschehen ist, wo Sie ja selbst etwas Schlimmes als Ursache ihres Verschwindens annehmen“, bemerkte Karl Strittmatter, der hoffte, dass Reinhold Nägele seine Abwehrhaltung ihnen gegenüber endlich aufgeben und dadurch wieder etwas zugänglicher werden würde.

„Sie kennen, ich meine natürlich, Sie kannten den Franz nicht. Seit dem Tod seiner Frau und dem Verlust seines Hofes ist er dem Alkohol verfallen und hat dabei jeglichen Bezug zur Realität verloren. Doch das war erst nach dem Verschwinden meiner Tochter.“ Reinhold Nägele musste sich zusammenreißen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen, ehe er mit schwacher Stimme weitersprach: „15 Jahre ist sie jetzt schon weg und ich warte immer noch täglich auf ein Lebenszeichen, auf einen Anruf oder wenigstens irgendeine Nachricht.“

Er schluckte, ehe er fortfuhr: „Martha, Franz’ Frau, ist erst vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Gott hab sie selig. Hätte er etwas über Charlottes Verbleib gewusst, wäre er sicher schon eher zu mir gekommen. So sprach bedauerlicherweise der Alkohol aus ihm und das hat mich so wütend gemacht. Obwohl er einmal mein bester Freund war, so habe ich dieses dumme Geschwätz nicht verdient und das wollte ich ihm gestern Abend klarmachen. Aber deswegen bringe ich doch nicht gleich jemanden um.“

„Zumal Sie ihm ja sogar noch geholfen haben, richtig?“

„Wie…, äh, was…, ach ja, richtig, Sie meinen seinen Bauernhof. Das ist doch keine große Sache. Das tun Freunde doch füreinander: sich in harten Zeiten gegenseitig unterstützen.“

„Sie sehen jetzt aber nicht wie ein Bauer aus, der Kühe melkt oder Heu mäht.“ Stefan Alt lächelte Reinhold Nägele an, während er einen kurzen Blick auf dessen Hände und das gepflegte Äußere seines Gegenübers warf.

„Ach, nein, wo denken Sie hin …“ Reinhold Nägele lachte, ein wenig zu affektiert, wie Stefan Alt feststellen musste.

„Ich habe den Hof etwas saniert und als uriges Bauernhaus mit drei Wohneinheiten weiterverkauft.“

„Na, da kann man ja froh sein, dass Franz Marder einen Freund wie Sie hatte.“

„Ja, ich glaube, das war er wirklich.“

Dieses Mal war es Stefan Alt, der auf seinen Kollegen wartete. Als die beiden Kriminalbeamten schon fast ihren Kombi erreicht hatten, da verspürte Karl Strittmatter einen heftigen Drang und so ging er noch einmal zum Haus der Nägeles zurück, um seine Blase zu erleichtern.

Nun saß der junge Kommissar allein in dem dunklen Fahrzeug und seine Gedanken fuhren Achterbahn. Was hatte Charlotte nur mit dem Tod des Bauern zu tun? Und hatte der Bauer wirklich gewusst, was mit Charlotte in der Nacht des Rosenfestes vor 15 Jahren passiert ist?

Stefan Alt grübelte und grübelte, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen, egal wie er die beiden menschlichen Schicksale auch drehte und wendete. Nur eins war klar: Franz Marders Tod und Charlottes Verschwinden vor 15 Jahren gehörten als große Teile zu einem Puzzle, von dem aber bisher niemand wusste, wie das Motiv des Puzzles überhaupt aussah. Aber vielleicht war ja René Lusser das fehlende und alles entscheidende Teil, das dem Puzzle ein Gesicht oder wenigstens eine Kontur gab.