Was hatte Richard Sutherfolk nur damit gemeint, dass René nur ein Blender und für Charlotte alles andere als der ideale Umgang gewesen sei? Das fragte sich Emma, als sie den Gasthof Kranz hinter sich gelassen hatte. Und warum hatte sich Reinhold Nägele in diesem Punkt so zurückgehalten, obwohl er sonst bereits hochging, wenn er nur Charlottes Namen hörte, und dabei gleichzeitig alles dafür tat, seine Tochter verbal zu verteidigen?
Auch nach diesem Gespräch hatte Emma das Gefühl, bei ihrer Suche nach Charlotte wieder keinen einzigen Schritt weitergekommen zu sein. Ob der Tod Franz Marders wirklich etwas mit Charlottes Verschwinden zu tun hat?, fragte sie sich, und sie spürte, wie die Selbstzweifel sie übermannen wollten. Was, wenn ich mich da wirklich in etwas hineinsteigere und einer Theorie nachgehe, die nur auf Mutmaßungen und Annahmen aufgebaut ist und deren Urheber – warum auch immer – nicht mehr am Leben ist?
Aber genau das war der springende Punkt: Denn Franz Marder war nicht einfach so gestorben – was ihr sowohl Reinhold Nägele als auch Richard Sutherfolk unbedingt weismachen wollten. Der alte Bauer musste etwas gewusst haben, wofür er hatte sterben müssen, denn wäre dieses Wissen – und dessen war sich Emma ganz sicher – an die Öffentlichkeit gekommen, wäre dies für mindestens eine bestimmte Person ganz gefährlich geworden.
Aber wer kennt oder kannte den Bauern denn noch, und wem hätte sich der Bauer anvertraut, wenn es darum ging, seine Vision von Charlottes Verbleib zu überprüfen? Emma überlegte und überlegte, aber ihr wollte partout niemand einfallen, vielleicht auch deshalb, weil sie Franz Marder vor 15 Jahren zuletzt gesehen hatte und die einzige Bezugsperson, die ihr einfallen wollte – seine Frau Martha – bereits vor ihm gestorben war.
Sie kam einfach nicht weiter. Sie musste voller Wehmut an ihren Großvater Anders denken, der früher als Kripochef von Kopenhagen immer ein Geheimrezept hatte, wenn er bei seinen Ermittlungen nicht vorangekommen war. „Emma, atme tief durch, mach’ deinen Kopf frei und dann setzt du dich hin und bestellst eine heiße Tasse Schokolade mit einem ordentlichen Spritzer Rum und du wirst sehen, wie deine kleinen grauen Gehirnzellen vor Freude hüpfen. Sind sie erstmal losgelassen, dann werden sie es dir danken und dir ganz neue Perspektiven aufzeigen, an die du vorher nie gedacht hast“, hörte sie seine Worte so klar und deutlich, als ob er neben ihr stünde und sie in den Arm nähme, während ein stechender Schmerz der Sehnsucht ihre Gedanken ergriff.
Nein, aufgeben gilt nicht, antwortete sie ihrem Großvater in Gedanken, und für einen Moment dachte sie auch wirklich daran umzudrehen und zum Gasthof Kranz zurückzukehren, sich in eine der gemütlichen Sitzecken zu lümmeln und für sich und zur Unterstützung der kleinen Arbeiter in ihrem Kopf eine Tasse Kakao mit aufgeschäumter Milch zu trinken. Doch so sehr sie sich auch mit diesem Gedanken anfreunden konnte, sie hatte keine Lust, erneut Richard Sutherfolk zu begegnen. Sie wollte, sie musste unbedingt noch einmal mit Reinhold Nägele sprechen, aber nur ihn allein, ohne seinen alten Freund, der ihr einfach nicht ganz koscher war. Irgendetwas sagte ihr, dass auch Richard Sutherfolk so seine Geheimnisse hatte. Und sie wusste, sie konnte sich auf ihre Intuition verlassen, wenn es darum ging, jemanden nach seiner Aufrichtigkeit beurteilen zu müssen. Doch das arrogante Gehabe des englischen Rosenzüchters, der nahezu kein Gespräch ausließ, um über seine bunten Lieblinge zu referieren, ganz gleich, ob man daran interessiert war oder nicht, hatte etwas, das Emma nicht genau einschätzen konnte.
Sie fröstelte. Die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt herum und die Nebelschleier hatten immer noch eine Schwere, die den ganzen Ort zu erdrücken schien. Zumindest war dies Emmas Eindruck, und so ließ sie die Schulter hängen, als ob sie als Stütze die gesamte Last des Dorfes mitzutragen hätte.
Es hat alles eine unheimliche Magie, die einen anzieht und doch bewusst werden lässt, dass man nicht dazugehört, dachte sie, als plötzlich eine Katze ihren Weg kreuzte. Dasselbe Tier, das sie schon am Morgen gesehen hatte und das ein kleines Glöckchen um seinen schmalen Hals gebunden hatte. Es lugte aus einer kleinen Stallung heraus, bevor es vorsichtig, bedacht und jeden Schritt und jede Bewegung genau abschätzend über die Straße lief. Als sie Emma wahrgenommen hatte, beschleunigte die Katze ihren Gang und huschte in die gegenüberliegende Scheune. Fast so, als ob sie nie wirklich da gewesen wäre.
Der Ort schien wie ausgestorben zu sein. Durch den dichten Nebel konnte man die Umrisse der einzelnen Häuser, Scheunen und Gehöfte nur noch erahnen. Selbst das Zweifamilienhaus, in dem heute Morgen durch die beleuchteten Fenster noch so viel Leben nach außen gedrungen war, war vom Nebel nahezu völlig verschluckt worden. Emma konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt einen so dichten Nebel erlebt hatte.
Der Nebel – mächtig, unwirklich und unentrinnbar.
Dieses Gefühl hatte sie auch, als sie Richard Sutherfolk in die Augen gesehen hatte. Augen, vor denen man Angst haben konnte. Dunkel, fast schon düster, tief und unberechenbar. So hätte sie die beiden Tore zu seiner Seele beschrieben, wenn ihre Psychologin Maya Kirscher-Kresch sie danach gefragt hätte. Doch der Mann, dem sie gehörten, war berechnend und zielstrebig und sie wusste, dass er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen würde.
Immer wieder gingen ihr seine Worte im Kopf herum. Worte, die auch Reinhold Nägele aufhorchen ließen, obwohl die beiden seit mehr als 20 Jahren gute Freunde waren und sich sehr nahe standen, also alles miteinander teilten und angeblich auch keine Geheimnisse voreinander hatten, wie Reinhold Nägele heute Vormittag noch besonders betont hatte.
Was wollte dieser Mann nur andeuten, als er sagte, Charlottes Freund René sei ein Verlierertyp, ein Kerl, mit dem sie sich nur vergnügt habe, anstatt etwas Ernstes zu wollen, da sie viel eher auf reifere, lebenserfahrenere Männer gestanden habe? Und warum hatte er das zu ihr gesagt, zu einer Person, die er bis dato noch nie gesehen hatte, die ihm also völlig fremd war? Waren es nur Worte eines Wichtigtuers oder hatte es wirklich eine Affäre gegeben? Aber warum hatte ihr Charlotte nie etwas davon erzählt? Hatte sie vor ihr gar etwas zu verbergen gehabt? Zumindest hatte sie das Gefühl, dass Richard Sutherfolk mehr war als nur ein guter Freund der Familie.
Vielleicht kann ja Maria Reisinger mehr Licht ins Dunkel bringen, erinnerte sich Emma an ihr Vorhaben, der Lädele-Verkäuferin noch einen Besuch abstatten zu wollen. So ging sie, anstatt nach links in den Witznauweg abzubiegen, der zu ihrem Apartment und damit zum Haus der Villingers führte, weiter den Rosenweg entlang. Große Gehöfte wechselten sich mit urgemütlichen und typischen Schwarzwaldhäusern ab, deren Besitzer bei der Renovierung, Sanierung oder einfach nur der Erhaltung der Häuser nicht nur auf jedes Detail geachtet, sondern viele Dachböden oder ehemalige Scheunen, die dem Haupthaus angegliedert waren, zu Ferienwohnungen mit Auszeichnung ausgebaut hatten.
Während im Sommer die Vorgärten, Spaliere und Fensterbänke ein einziges Blumenmeer waren und sich gegenseitig in ihrer Pracht überstrahlten, hingen jetzt die noch nicht eingepackten Rosenranken kahl und traurig an den Rosenbögen und Rankgittern, als ob sie sich aufgegeben und ihren Glauben an den kommenden Frühling und die mit ihm wiederkehrende Schönheit der Natur längst verloren hätten.
Maria Reisingers Haus lag etwas von der Straße nach hinten versetzt und wurde von einer großen Auffahrt gesäumt. Ein gepflegter Vorgarten, verschieden hohe Blau- und Nordmann-Tannen und eine ebenfalls verblühte Rosenhecke rahmten das Anwesen ein und sorgten so für eine heimelige Idylle.
Sie scheint nicht nur sehr eitel im Umgang mit sich selbst zu sein, dachte Emma, als sie die Haustür erreicht hatte. Erwartungsvoll, endlich mehr über Franz Marder und seine Geschichte zu Charlottes Weggang und ihren jetzigen Aufenthaltsort zu erfahren, drückte sie den Klingelknopf.
Sie fluchte, als sich auch nach mehrmaligem Klingeln im Haus nichts rührte, weder Geräusche noch Maria Reisingers Stimme zu hören waren. Mir kommt es fast so vor, als wolle jemand nicht, dass man hinter ein gut und vor allem lang gehütetes Geheimnis kommt, überlegte sie und sie fragte sich, warum ihr gerade jetzt der bekannte Ausspruch „Lasst die Toten ruhen“ einfallen musste.
Resigniert lief sie die Auffahrt hinunter. An der Straße angekommen schwenkte sie direkt in die Hofeinfahrt der Nachbarn hinein. Vielleicht wissen ja die Nachbarn, wo Maria ist oder wann sie wieder nach Hause kommt, dachte Emma, während sie bei den Trötschlers – wie sie dem Namensschild neben der Tür entnehmen konnte – klingelte. Es dauerte keine 20 Sekunden, als ihr eine freundliche, aber etwas gehetzt wirkende Frau die Tür öffnete. Sie wischte sich gerade die Hände an einem Geschirrtuch ab.
„Ja, bitte?“
„Ich heiße Emma Hansen und war auf dem Weg zu Maria Reisinger. Doch bei ihr öffnet niemand. Wissen Sie zufällig, wann sie wiederkommt?“, fragte Emma geradeheraus.
„Oh, dass weiß ich auch nicht. Warten Sie mal, was haben wir heute für einen Tag?“
„Sonntag.“
„Sonntag, stimmt. Da ist Maria immer unterwegs. Meistens trifft sie sich dann mit Freundinnen oder fährt zu ihrer Schwester nach Stuttgart. Und das kann dann spät werden, obwohl sie morgen wieder früh raus muss.“
Die Nachbarn wissen aber auch wirklich alles, dachte Emma und grinste.
„Kann ich der Maria denn etwas ausrichten? Vielleicht sehe ich sie ja heute Abend doch noch.“
„Das wäre wirklich super nett. Richten Sie ihr bitte aus, dass ich unbedingt mit ihr sprechen muss. Dringend!“, sagte Emma und lächelte die Frau milde an in der Hoffnung, dass ihr Gegenüber diese Aussage jetzt einfach so hinnehmen würde, ohne neugierig nachzufragen oder irgendwelche Mutmaßungen anzustellen. Aber ihre Hoffnung sollte nicht lange bestehen.
„Das klingt jetzt aber ernst. Ist etwas passiert oder kann ich weiterhelfen?“, bot sich die Frau an, von der Emma den Eindruck hatte, dass sie wirklich helfen wollte, wenn sie denn konnte. Und dennoch brauchte sie einfach nicht zu wissen, weswegen Emma Maria Reisinger unbedingt sprechen musste. „Nein, nein, so ernst ist es nicht. Nur dringend. Ich wohne bei Villingers im ersten Apartment. Da kann sie mich erreichen – auch jederzeit auf meinem Handy“, sagte Emma, notierte ihre Telefonnummer auf einem Blatt ihres Blocks, riss es ab, reichte es ihrem Gegenüber und verabschiedete sich höflich, aber bestimmt von Marias Nachbarin, die eigentlich noch etwas hätte antworten wollen, aber von einer lauten Männerstimme und einem piependen Backofensignal zurück ins Haus gerufen wurde.
Emma fühlte sich wie in einem Vakuum, als sie das Haus der Villingers erreichte. Irgendwie war alles vage, unsicher, und doch war sie mittendrin. Sie versuchte krampfhaft, an einen Rand des Vakuums zu kommen. Aber je mehr sie mit ihren Armen ruderte, desto mehr entfernte sich die Wand des Raumes, der ihr eigentlich eine gewisse Geborgenheit geben sollte. Und doch war schon lange nichts mehr so, wie es einmal war. Sie wollte gerade die Tür zu ihrem Apartment aufschließen, als eine ältere Frau mit mehr weißen als grauen Haaren aus der danebenliegenden Wohnung kam. Bekleidet mit einem fliederfarbenen Hausanzug – ein Kleidungsstück, das Emma beim Zappen durchs Fernsehprogramm bei einem Einkaufssender schon öfters gesehen und sich dabei jedes Mal gefragt hatte, wer so etwas Kitschiges und Hässliches und aus ihrer Sicht auch noch völlig Überteuertes kaufen und es dann auch noch tragen würde – und weißen Gesundheitsschuhen an den Füßen, die wohl ihre Hausschuhe darstellen sollten, wollte sie gerade in den unangenehm kalten Flur treten, als sie Emma bemerkte.
„Oh, haben Sie mich jetzt aber erschreckt.“
„Das tut mir leid. Das war nicht meine Absicht. Ich war wohl etwas zu sehr in Gedanken versunken, als dass ich Sie rechtzeitig bemerkt hätte“, entschuldigte sich Emma.
„Das macht doch nichts“, sagte die Frau, die sich als Luise Kampmann vorstellte und gerade im Begriff war, ihrem Mann eine Flasche Bier aus dem ihrem Apartment genau gegenüberliegenden Vorratsraum zu holen.
„Da sind Sie nicht die Einzige.“
Emma wusste nicht genau, ob sie mit ihrem Gesichtsausdruck die Frau zum Weiterreden animierte oder ob Luise Kampmann so oder so einfach weitergeredet hätte. Auf jeden Fall fühlte sie sich berufen, Emma ein Gespräch aufzudrängen.
„Auf einmal ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wir wollten doch einfach nur spazieren gehen, und dann liegt da plötzlich dieser Mann im See. Tot. Mausetot“, war Luise Kampmann bemüht, die richtigen Worte zu finden, während sie mit der einen Hand wie abwesend am Reißverschluss ihres Hausanzuges herumspielte.
Emma, die gerade dabei war, die Schnürsenkel ihrer Schuhe zu lösen, richtete sich abrupt auf. Hatte Reinhold Nägele nicht erzählt, dass es Markus Villinger, der Sohn ihrer Vermieter war, der den alten Bauern zuerst gesehen hatte, fragte sich Emma, während sie mit dem rechten Fuß den linken Schuh abstreifte. „Das heißt also, Sie haben den Mann als Erstes gefunden und die Polizei angerufen?“, fragte Emma vorsichtig. Sie konnte gut nachvollziehen, was das für ein Gefühl gewesen sein musste, zum ersten Mal im Leben einen toten Menschen zu sehen. Das verändert alles, dachte sie und erinnerte sich dabei an ihren ersten Toten, einen Mann, der von einem Auto erfasst und mehrere Meter weit durch die Luft geschleudert worden war. Der Mann war furchtbar zugerichtet gewesen, da ihn der Aufprall auf das Fahrzeug eines 19-Jährigen so heftig erwischt hatte. Ein Arm war abgerissen und lag einige Meter entfernt, während eines der beiden Beine nur noch durch einen Hautfetzen mit dem Rumpf verbunden war. Das Gesicht war völlig zertrümmert und überall war Blut. Es war ein so schrecklicher Anblick gewesen, dass Emma minutenlang gegen das ständige Gefühl, sich übergeben zu müssen, angekämpft hatte. Sie erinnerte sich, wie sie am liebsten noch am gleichen Tag ihren Dienst quittiert und ihre Ausbildung abgebrochen hätte, wenn ihr ein älterer Kollege, der schon mehr als 20 Dienstjahre auf dem Buckel hatte und die teilweise übel zugerichteten Toten längst nicht mehr zählen konnte, nicht zugeredet hätte: „Mädel, an solche Anblicke wirst du dich schneller gewöhnen, als dir lieb ist. Vertrau mir.“ Und es stimmte: Auch Emma, so sehr sie sich bemühte, konnte mittlerweile nicht mehr genau sagen, wie viele Tote es waren, mit denen sie es in ihrer Laufbahn schon zu tun gehabt hatte.
„Ja. Es war einfach nur schlimm. Dabei, wenn ich ehrlich bin, hatte ich schon so ein ungutes Gefühl, als wir den Weg hinuntergelaufen sind und die Bäume sich so mächtig vor uns aufgetürmt haben. Man konnte den Eindruck gewinnen, sie würden uns mit ihren hohen Wipfeln drohen und davor warnen, weiterzugehen. Ich hätte auf diese innere Eingebung besser hören sollen, aber nein, ich musste ja unbedingt zum Witznaustausee. Dabei fand ich den in den Prospekten bisher immer so friedlich und unberührt.“
„Tja, diese Unschuld hat er wohl jetzt verloren, wenn man davon ausgeht, dass dort ein Mord geschah“, sagte Emma.
„Wobei ...“
„Ja?“
„Ich meine ...“, druckste Luise Kampmann ein wenig herum, ganz so, als ob sie nach den richtigen Worten suchen würde. „Als ich die Leiche zuerst gesehen habe, habe ich nur geschrien, aus Angst, der Mörder hätte sich irgendwo versteckt und würde noch einmal zurückkommen, weil wir ihn bei seiner Tat gestört haben. Aber als ich mich beruhigt habe und noch einmal auf den Toten so hinab sah, wie er da im Wasser lag, da ist mir aufgefallen, dass er so ungewöhnlich im Wasser lag.“
„Was meinen Sie mit ungewöhnlich?“
„Na ja, er hätte niemals so hineinfallen können, wenn er am Ufer einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hätte. Verstehen Sie, was ich meine? Auf jeden Fall meinte Herbert, mein Mann, der Mann sei nach einem Saufgelage unglücklich über einen großen Ast gestolpert, hingefallen und mit seinem Kopf auf einen Stein geschlagen, anschließend beim Aufrappeln ins Wasser gestürzt und dabei ertrunken. Aber ich glaube das nicht. Denn da war kein Stein, jedenfalls kein so großer. Ich wollte nichts sagen, weil ich zu viel Angst hatte, dass mein Mann mich für verrückt erklärt und die Polizei hat mich schließlich auch nicht danach gefragt ...“
„Wieso nicht?“, unterbrach Emma die Ausführungen ihrer Apartment-Nachbarin.
„Keine Ahnung. Vielleicht, weil wir den alten Mann ja nur gefunden haben. Aber die Beamten sagten uns, dass wir uns für weitere Nachfragen bereithalten sollen. Keiner weiß, wie lange wir der Polizei zur Verfügung stehen müssen. Aber zum Glück sind wir ja Rentner und haben Zeit“, sagte Luise Kampmann und lächelte dabei gequält. Sie war mittlerweile in den Vorratsraum eingetreten, hatte Licht gemacht und suchte die Reihen nach dem von ihrem Mann gewünschten Getränk ab. „Die Auswahl ist ja riesig“, bemerkte sie und ging in die Hocke, als sie meinte, das richtige Bier gefunden zu haben.
Emma war ihr gefolgt. „Haben Sie sonst noch irgendetwas beobachtet?“, fragte sie nun.
„Also, na ja, lassen Sie mich kurz nachdenken“, sagte sie, während sie sich langsam aus ihrer Hocke erhob.
„Wissen Sie, ich bin dem Mann, der da tot im See lag, erst gestern Morgen begegnet. Wobei, es war nicht wirklich eine Begegnung, denn er hat mich genauso erschreckt wie Sie mich vorhin. Wie dem auch sei, ich bin gestern wie immer die kleine Abkürzung an der Kirche entlang gegangen. Auf einmal hörte ich, wie der Mann auf der Treppe der Kirche lag und irgendetwas brabbelte. Da ich nicht wirklich was verstehen konnte, weiß ich nicht, ob das für mich bestimmt war. Sein Gelalle war einfach völlig zusammenhangslos und nicht zu entschlüsseln.
Es war wohl der Alkohol, der aus ihm sprach ...“
„Und weiter?“, unterbrach Emma, die dringend auf Toilette musste und schon anfing, von dem einen auf das andere Bein zu hüpfen.
„Oh, verzeihen Sie, ich schweife wohl ab. Auf jeden Fall habe ich gesehen, wie er in der einen Hand eine billige Flasche Schnaps hin- und herschwenkte. Und auch um ihn herum und direkt im Eingangsbereich der Kirche standen einige Flaschen – von der ganz billigen Sorte.“
„Das ist jetzt aber keine große Überraschung. Schließlich war der Mann ja ein Alkoholiker.“
„Das ist richtig. Aber wenn man immer so harte Sachen trinkt, dann verwundert es einen schon, warum er eine Bierflasche in der Hand hielt, als er da so lag.“