achtundzwanzig

Wie Stefan Alt erwartet hatte, herrschte im Ort helle Aufregung über den zweiten Todesfall binnen 48 Stunden. Die Erzieherin aus dem Kindergarten diskutierte auf dem kleinen Spielplatz vor der zur Kita umgebauten Scheune mit einer Mutter, die ihren Jungen fest an sich drückte, obwohl dieser lieber mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz gekickt hätte. Zwei Ehepaare, die sich gerade zu einer Wanderung in Richtung Höchenschwand aufmachen wollten, wurden von der Briefträgerin auf den neuesten Stand gebracht. Und ein Bauer versperrte mit seinem Traktor die halbe Straße, nur um dem hektischen Treiben vor dem Haus beizuwohnen.

Der Tod fasziniert die Menschen mehr denn je – Stefan Alt überkam der Gedanke, dass die Menschen nichts mehr brauchten, als sich durch das Unglück anderer von ihrem eigenen Schicksal ablenken zu lassen. Was sind wir doch alles für bemitleidenswerte Voyeure, dachte er und ging ins Haus, wo er schon die laute Stimme seines älteren Kollegen Karl Strittmatter durchs Treppenhaus hören konnte.

„Wie, Sie haben bisher keine Spuren finden können?“, echauffierte sich Strittmatter und murrte auch dann noch vor sich hin, als Stefan Alt die Treppe hinaufgestiegen und ins Badezimmer, dem Schauplatz der Unterhaltung zwischen Strittmatter und einem Kriminaltechniker, eingetreten war.

„Wir haben bisher alle Gegenstände, die aus unserer Sicht von Belang sind, kriminaltechnisch untersucht, aber der Täter muss Handschuhe getragen haben, als er die Frau mit dem Duschschlauch erwürgt hat.“

Stefan Alt, der durch einen Anruf seiner Schwester aufgehalten worden war, bot sich am Tatort ein Bild des Grauens von größter Brutalität und roher Gewalt.

Die Zunge weit herausgestreckt, die Augen glasig und mit starrem Blick lag die Frau mit dem Gesicht Richtung Decke auf der Badewannenvorlage. An ihrem Hals sah man deutlich die Druckstellen des Schlauchs, der tiefe Spuren im dünnen Hautgewebe hinterlassen und die schwache Muskulatur im Halsbereich zerquetscht hatte. Es schien, als habe die Frau noch gekämpft, denn ihre Arme lagen unkontrolliert von ihrem Körper ab. Ihr Nachthemd war im oberen Rückenbereich durchnässt. An den Füßen hatte sich eine Wasserlache gebildet, während das Shampoo, das beim Todeskampf wohl von ihr heruntergestoßen worden sein musste, nun den Boden vor der Wanne in ein zartes Flieder färbte.

Und es war nicht irgendeine Frau, die so bestialisch hingerichtet worden war, wie Stefan Alt entsetzt feststellen musste. Es war Maria Reisinger, wie ihnen die Kriminaltechniker mittlerweile bestätigten, und damit die Frau, mit der sie gestern noch gesprochen hatten.

„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte er nun. Maria Reisinger war 57 Jahre alt, ledig und kinderlos. Neben ihrer Tätigkeit als Verkäuferin im Lädele lebte sie vom Erbe ihrer Eltern und ihrem Ersparten. Bis vor fünf Jahren hatte sie noch hauptberuflich als Pharmareferentin gearbeitet und damit vor allem in der angrenzenden Schweiz durch den Verkauf von Medikamenten sehr gute Umsätze erzielt, sodass sie sich zeitlich neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im kleinen Supermarkt des Dorfes auch bei den Landfrauen, im Heimat- und Geschichtsverein und in der Trachtenkapelle mit Leidenschaft einbringen konnte.

„Soweit ich das bis jetzt beurteilen kann, muss sie gestern Abend zwischen 22 Uhr und Mitternacht, plus minus eine Stunde vielleicht, erwürgt worden sein. Ihre Nachbarin Silvia Trötschler hat sie heute Morgen gegen 10.20 Uhr leblos aufgefunden“, berichtete Franz Stöckle, der heute nach zwei Wochen Urlaub wieder seinen Dienst in der Kriminaltechnik angetreten hatte und sich nichts mehr gewünscht hätte, als gleich zu Beginn der neuen Arbeitswoche von so einem Fall und vor allem so einer zugerichteten Leiche verschont zu bleiben.

„Sie sitzt übrigens unten und wird gerade von einer Kollegin betreut. Die ist ganz schön mit den Nerven am Ende, ist aber auch kein Wunder – bei dem Anblick.“

„Hatte sie heute frei, oder warum hat sich noch niemand im Lädele Sorgen um ihren Verbleib gemacht?“, wandte sich Strittmatter nun wieder seinem Kollegen zu, der etwas zur Seite ging, um den Kriminaltechnikern Platz zu machen.

„Das habe ich mir auch überlegt. Frau Reisinger besitzt aber weder ein Handy noch einen Anrufbeantworter, und da ihre Kollegin alleine so viel im Lädele zu tun hatte, konnte sie noch nicht nach ihr schauen, so war eben Frau Trötschler, ihre Nachbarin, die Erste, die sie aufgefunden hat“, wiederholte Stefan Alt das, was er kurz vor dem Anruf seiner Schwester von dem Streifenbeamten erfahren hatte, der gerade im Lädele gewesen war, um dort mit der Aushilfskraft zu sprechen.

„Komisch. Irgendwie hatte ich den Eindruck, die Einheimischen seien etwas mehr umeinander bemüht, als jemanden so lange mit seinem Schicksal alleine zu lassen“, entgegnete Strittmatter.

„Das ist wohl so, wenn man keinen Mann und keine Kinder hat, ganz allein lebt und auf die Nachbarn angewiesen ist, die dann auch nachschauen müssen, wenn etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Das Opfer hatte nur eine Katze, die wir im Heizungskeller eingesperrt und völlig verstört vorgefunden haben. Auch an ihr haben wir keine brauchbaren Spuren sichern können. Aber eins dürfte klar sein, die Tote hat das Tier sicherlich nicht eingeschlossen. Dafür hat sie ihre Katze viel zu sehr geliebt, als dem Tier so etwas anzutun, sagt die Nachbarin“, meinte Franz Stöckle, der noch einmal ins Badezimmer zurückgekehrt war, um seinen Technikkoffer zu holen.

„Warum ermordet jemand Menschen, die so normal sind wie du und ich, die anscheinend ihre Eigenarten haben, aber keiner Fliege etwas zuleide tun können“, stellte Stefan Alt ungläubig als rhetorische Frage in den Raum. Denn die Antwort wusste er selbst, auch wenn – wie in einer Art Gedankenübertragung – Franz Stöckle für ihn antwortete: „Weil sie wohl einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren.“

„Oder aber“, ergänzte Karl Strittmatter, „weil sie etwas wussten, das ihnen zum Verhängnis wurde.“