Er wollte es ihm sagen. Er musste es ihm sagen. Endlich. Und vor allem, bevor es diese Emma Hansen tun würde, die bei ihren Recherchen sicherlich irgendwann auch dahinterkommen würde.
Als Richard Sutherfolk so auf seinem Hotelbett im Zürich Courtyard, das nur etwas mehr als einen Kilometer von der Messe entfernt lag, saß, da wusste er, er würde von der Last der Schuld erdrückt werden, würde er nicht endlich die ganze Wahrheit sagen. Jahrelang hatte er eine heile Welt vorgespielt. Eine Welt ohne Trug und Lüge. Eine Welt, in der nur die Aufrichtigkeit zählte. Eine falsche Aufrichtigkeit.
Nur, wie sollte er es ihm sagen? Welche Worte sollte er benutzen, und wann war der passende Moment? Er ließ sich nach hinten fallen, starrte die Decke an. Doch sie blieb stumm, genauso wie das Bild einer sanft hügeligen Landschaft der Toskana im Frühling, das über ihm an der Wand hing. Wie die kleine Lampe, der Wandschrank und die gelbe Bordüre der Tapete, die den Raum freundlich und hell gestaltete.
Er hasste sich für seine Tat. Dabei war er sich damals wie ein frisch verliebter Teenager vorgekommen. Wie konnte er sich nur so gehen lassen? Warum hatte er es zugelassen? Wie hatte das alles nur passieren können? Und vor allem, es hätte noch so schön werden können, wäre sie nicht einfach so und von heute auf morgen wie vom Erdboden verschwunden. Sie hatte sich noch nicht einmal von ihm verabschiedet, dabei hatte er ihr die Welt zu Füßen gelegt, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne je nach dem Preis zu fragen. Ein Tiffany-Ring, eine Gucci-Tasche, ein Dolce & Gabbana-Kleid. Es waren die eher kleineren Alltäglichkeiten, die er ihr, wenn sie gemeinsam durch Zürich geschlendert waren, so im Vorübergehen geschenkt hatte. Wie gerne wäre er mit ihr nach St. Moritz zum Skifahren geflogen, hätte mit ihr eine Woche an der Côte d’Azur verbracht oder einfach mal ein gemeinsames Wochenende in New York genossen. Aber immer wieder hatte sie ihn daran erinnert, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei, ihre Liebe öffentlich zu machen. Dass sie noch nicht aus dem Ort weg könne. Dass sie noch ein wenig warten müssten. Ein Warten, das nun schon 15 Jahre andauerte. Mittlerweile hatte er die Hoffnung aufgegeben. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, auf ein Leben mit ihr. Und so waren aus einer abgöttischen Zuneigung, einem intensiven Verlangen, einer grenzenlosen Begierde nur noch Enttäuschung, Wut und Hass geblieben. Wie konnte sie nur so mit ihm spielen? Wie konnte sie ihm das antun und vor allem: Wie konnte sie ihn nur so bloßstellen vor seinen Freunden und seiner Familie? Menschen, die ihm alles bedeuteten und die ihn schon damals gewarnt hatten, auf die er aber nicht hatte hören wollen. Verrückt hatte er sie gemacht und um Akzeptanz gebettelt, sie mögen sich doch mit ihm freuen. Sie taten es, ihm zuliebe. Doch wegen ihr vernachlässigte er die ihm so wichtigen Menschen, zog sich immer mehr zurück, nur um ganz für sie da zu sein.
Doch sie hatte ihn verlassen, war einfach verschwunden, während er seine große Liebe betrauerte, seine Schulden mühsam abarbeitete und keinen Menschen mehr zum Reden hatte. Eine Träne kullerte seine Wange herab, während sich seine Hände in das flauschige Oberbett krallten, bis seine Knöchel weiß anliefen.
Den Tod hatte er ihr gewünscht. Nicht nur einmal. Nein, nahezu täglich hoffte er, man würde ihre Leiche irgendwo finden. Misshandelt, vergewaltigt, grausam zerstückelt. Er wünschte sich, jemand hätte sich an ihr gerächt, hätte sein Gedankenwerk ausgeführt. Sie sollte bestraft werden. Daran glaubte er immer mehr, je mehr Tage, Monate und Jahre vorübergingen, in denen sie nichts von sich hören ließ, und er ließ diese so bestialischen Gedanken zu, heilten sie doch die tiefen Wunden, die Charlotte bei ihm hinterlassen hatte.
Und doch war er sich im Klaren, dass er so nicht weiterleben konnte. Ein Leben, das nicht lebenswert war, war es doch auf Hass und Wut aufgebaut, während ein anderer Teil in ihm täglich hoffte, sie würde sich melden, ein Lebenszeichen von sich geben und sagen, dass es ihr gut ginge. Reinhold Nägele war ein Mensch, der ihn als Freund schätzte. Dem man alles sagen und anvertrauen konnte. Dem man die Wahrheit sagen konnte. Nun war es an der Zeit, dass er ihm endlich die Wahrheit sagte. So grausam diese auch war.