vierundfünfzig

Sie hatten es schon seit Stunden probiert – auf dem Mobiltelefon, bei seinen Eltern, in der Firma, im Golfclub und im Fitnessstudio – aber René Lusser war einfach nicht zu erreichen. Die Nachfrage bei der Schweizer Kantonspolizei hatte Erfolg gehabt. Innerhalb weniger Stunden wussten Strittmatter und seine Kollegen so ziemlich alles über René. Nur eins nicht – wo er sich gerade aufhielt.

„Sehr verdächtig“, hatte Karl Strittmatter andauernd geraunzt, als er nach einem weiteren vergeblichen Versuch den Hörer aufs Telefon knallte. Die meisten Kollegen waren längst gegangen, und seine Laune war so unterirdisch, dass Stefan Alt es nicht gewagt hatte, ihn anzusprechen, hatte er doch keine Lust gehabt, ebenfalls nur angeblökt zu werden. Der Dienstagabend gehörte Karl Strittmatter so wie der Montag-, Mittwoch-, Donnerstag- und Freitagabend. Gab es doch auch heute Abend wieder ein Fußballspiel und das sogar noch in der Königsklasse, der Champions League. Da waren Würstchen und Kartoffelsalat, kaltgestelltes Bier und sich gemütlich aufs Sofa lümmeln angesagt. Und eben nicht irgendwelchen reichen Bonzenkindern hinterhertelefonieren und sich andauernd von der Mailbox, unfreundlichen Bediensteten oder dem nur gebrochen Deutsch sprechenden Fitnesscoach eine Abfuhr einholen.

„Nun ist es schon nach 21 Uhr, die erste Halbzeit längst angepfiffen und ich bin immer noch hier“, grummelte Strittmatter vor sich hin und ertappte sich dabei, wie er gerade einen völlig unschuldigen gelben Bleistift in zwei Teile brach.

Strittmatter wollte sich gerade aufmachen zu gehen – er hatte seinen etwas mitgenommen aussehenden Mantel mit dem eingetrockneten Senffleck bereits vom Kleiderbügel an der Garderobe genommen – da klingelte das Telefon. Stefan, der noch einige Dokumente abgeheftet, seinen Schreibtisch aufgeräumt und die Blumen gegossen hatte, tippte gerade angestrengt eine Mail und ließ keinen Zweifel daran, dass, wenn er noch arbeitete, Strittmatter gefälligst ans Telefon gehen könne.

Mit vor Ärger zusammengezogenen Augenbrauen und einem verächtlichen Raunen machte dieser auf dem Absatz kehrt und stapfte zum Telefon.

„Kriminalpolizei Waldshut-Tiengen, Kriminalhauptkommissar Strittmatter.“ Ehe Stefan herüberschauen konnte, um zu erfahren, wer am anderen Ende der Leitung war, schnaubte Strittmatter schon in den Hörer: „Ja, wir warten hier auf Sie. Folgen Sie einfach Ihrem Navi.“

Keine 20 Minuten später – die erste Halbzeit der Champions League war bereits vorbei – saß Strittmatter an einem fast quadratischen Metalltisch, der mitten im Raum stand. Zu seiner Linken hatte es sich Stefan Alt mit Block, Stift und dem obligatorischen Aufnahmegerät bequem gemacht. Auch der Videorekorder war bereits eingeschaltet. Das Licht im Vernehmungsraum war kalt, steril, fast schon unwirklich. Die Wände waren zwar hellblau gestrichen, doch der Farbton war so zart, dass er kaum auffiel und dem Raum eher den Charme einer Pathologie verlieh. Ein Zimmerfarn sollte ein wenig Gemütlichkeit verbreiten, aber in der hinteren Ecke und in einem weißen Übertopf stehend verfehlte die Pflanze ihre angedachte Aufgabe völlig.

René Lusser schien sich auch merklich unwohl zu fühlen und er zeigte das, indem er sich den beiden Kriminalbeamten in seinem dicken schwarzen Mantel und mit demonstrativ verschränkten Armen gegenübersetzte.

„Sie wollten mit uns sprechen? Dann schießen Sie mal los.“ Karl Strittmatters Laune war unter dem Gefrierpunkt und das ließ er jeden im Raum auch mehr als deutlich spüren. Stefan Alt ärgerte sich über den unfreundlichen Umgangston seines älteren Kollegen, konzentrierte sich aber im nächsten Augenblick auf sein Gegenüber, das immer noch wie ein fröstelndes Häuflein Elend in seinem Stuhl saß.

Nur zögerlich erzählte er den beiden Beamten von seinem Streit mit Charlotte, den er am Abend des Rosenballs vor 15 Jahren mit ihr hatte, kurz bevor sie verschwunden war. Er ließ kein Detail aus, sondern legte ihnen auch dar, wie sie sich kennengelernt und welch schöne Zeit sie miteinander verbracht hatten und vor allem – das hatte er zumindest über all die Jahre geglaubt – wie glücklich sie gemeinsam gewesen waren. Ein Glück, das an jenem Abend jäh zerstört wurde, als Charlotte ihn zutiefst verletzt hatte, indem sie ihm freudestrahlend von ihrer Affäre mit dem Rosenzüchter Richard Sutherfolk erzählt und ihn dabei mit ihrer hochnäsigen und arroganten Art bloßgestellt hatte.

„Das war einfach zu viel.“

„Zu viel? Soll das etwa bedeuten, Sie haben sich an ihr gerächt, sie ermordet und irgendwo verscharrt?“ Karl Strittmatter wusste nicht genau, ob er sich freuen oder ärgern sollte, bezogen sich doch die für ihn eindeutig nach einem Geständnis aussehenden Worte auf einen angeblichen Mordfall, der mehr als 15 Jahre zurücklag. Über die Mordopfer der vergangenen Tage und die hinterlistige Attacke auf Reinhold Nägele – immerhin René Lussers ehemaliger Schwiegervater in spe – hatte der Schweizer Millionärssohn kein einziges Wort verloren.

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich war sicher, dass Sie so die Suche nach Charlotte in eine andere, neue Richtung lenken würden. Bisher galt ich immer als der, der mit ihrem Verschwinden etwas zu tun gehabt haben soll. Aber da ich mit ihrem Verbleib nun wirklich nichts zu tun habe, ergeben sich ja jetzt ganz neue Zusammenhänge, die vielleicht auf ein Verbrechen schließen lassen.“

„Wer sagt Ihnen denn, dass wir überhaupt noch nach ihr suchen?“ So langsam hatte Strittmatter keine Lust mehr auf eine Vernehmung, die nun aber auch wirklich keine neuen Informationen ans Licht brachte.

„Ich habe es gehofft, zumal eine Kollegin von Ihnen, die gerade in Nöggenschwiel Urlaub macht, mir dazu geraten hat, Ihnen auch nach dieser langen Zeit die Wahrheit über den Abend des Rosenballs zu sagen.“

„Das heißt, Sie wissen noch gar nichts vom Mordversuch an Reinhold Nägele?“ Stefan sah, wie René die kaum vorhandene Gesichtsfarbe entglitt und er sich noch tiefer in den Stuhl hineindrückte.

„Mordversuch? Nein, das habe ich nicht gewusst“, stammelte er und schaute dabei abwechselnd von Stefan Alt zu Karl Strittmatter und wieder zurück in der Hoffnung, den Gesichtern irgendeine Regung entnehmen zu können. „Was ... was ist passiert?“

Nachdem Stefan Alt in kurzen Worten skizziert hatte, wie Reinhold Nägele niedergeschlagen in der Kirche aufgefunden worden war und dass man davon ausging, dass jemand den Mörder bei seiner Tat gestört hatte, suchte René Lusser nach einem Taschentuch, um sich den Schweißfilm auf seiner Stirn wegzuwischen. Er genoss sichtlich den Moment der Ruhe und inneren Einkehr, der jäh durch das heftige Aufklatschen zweier Hände auf den Metalltisch unterbrochen wurde. Mit einem kräftigen Armdruck hievte sich Karl Strittmatter aus seinem Stuhl und baute sich – die Arme dabei auf den Tisch gestützt – vor René auf.

„Haben Sie uns dazu etwas zu sagen? Wann haben Sie Reinhold Nägele zuletzt gesehen?“

„Das muss lange her sein.“

„Und was machen Sie dann in Nöggenschwiel? Etwa auch Urlaub?“ René überhörte den sarkastischen Unterton bewusst. Wusste er doch, wenn er sich nur einmal ausfallend äußern oder in irgendeiner Art danebenbenehmen würde, dann hätte er verloren und käme heute nicht mehr als freier Mann aus diesem Gebäude.

„Ich habe jemanden besucht.“

„Und wen, wenn ich fragen darf?“ Strittmatter war gereizt.

„Charlottes Oma. Ich bin jedes Jahr in Nöggenschwiel, um Maga – so haben wir sie immer genannt – zu ihrem Geburtstag einen großen Strauß rote Rosen aufs Grab zu stellen.“ René lächelte zaghaft. „Sie war wie meine eigene Großmutter für mich.“

„Das ist ja schön. Aber Sie haben nicht zufällig auch bei Reinhold Nägele vorbeigesehen, wo Sie doch schon mal den weiten Weg von Zürich auf sich genommen haben?“

„Ich sagte Ihnen doch bereits, dass ich ihn nicht gesehen, geschweige denn besucht habe. Außerdem: Was sollte ich bei ihm, wo ich doch in seinen Augen eine persona non grata bin? Er würde mich doch erst gar nicht auf sein Grundstück lassen, wo er doch immer noch denkt, dass ich seine Tochter entführt habe und sie ihm vorenthalte.“

„Kennen Sie eine Maria Reisinger?“, schaltete sich nun Stefan Alt in die Vernehmung ein.

„Nein, den Namen habe ich bisher noch nie gehört.“

„Und einen Franz Marder?“

„Nein, wer sind diese Menschen?“

„Lesen Sie keine Zeitung?“, blaffte Strittmatter und schüttelte irritiert den Kopf.

„Doch, aber ...“

„Nichts aber. Marder und Reisinger waren die ersten Opfer unseres Täters, nur dass er bei beiden anscheinend mehr Zeit hatte, seine Tat zu Ende zu bringen. Denn sie sind beide tot.“ Strittmatter starrte sein Gegenüber regelrecht an, doch wenn er auf eine verdächtige Reaktion gehofft hatte, so wurde er enttäuscht.

„Das tut mir leid, aber wie bereits erwähnt, ich kenne weder Frau Reisinger noch Herrn Marder persönlich. Was natürlich nicht heißen will, dass ich ihnen nicht schon einmal begegnet bin.“

„Wie Reinhold Nägele ist Franz Marder mit einem harten Gegenstand wie einem Baseballschläger oder Golfschläger erschlagen worden. Spielen Sie eigentlich Golf?“

„Das wissen Sie doch. Sie haben doch versucht, mich im Club zu erreichen, wie man mir gesagt hat.“

Strittmatter grinste, während René krampfhaft überlegte, worauf der Kriminalhauptkommissar mit der kräftigen Statur und der rahmenlosen Brille eigentlich hinaus wollte.

„Und Maria Reisinger ist erdrosselt worden. Das kann nur ein starker Mann gewesen sein, da sie nur einen kurzen Todeskampf hatte. Sie machen doch auch Krafttraining, oder?“