Mühevoll quälte sich Emma aus dem Bett. Heute war schon Mittwoch und damit der Urlaub schon zur Hälfte vorbei, doch wirklich erholt hatte sie sich bisher noch nicht. Die ganze Aufregung, Hektik und vor allem die sich so langsam immer mehr steigernde Angst hatten das sonst so gemütlich vor sich hin schlummernde Rosendorf in einen einzigen Ameisenhaufen verwandelt. Man konnte die Unruhe förmlich greifen. Und auch Emma, die sonst die Ausgeglichenheit in Person war – zumindest wurde ihr das nachgesagt – konnte eine gewisse Nervosität nicht verleugnen. Ganz im Gegenteil: Je mehr sie in den Strudel hineingezogen wurde, desto mehr beschlich sie das Gefühl, dass noch längst nicht alles ausgestanden war.
Ob Reporter aus ganz Deutschland, Polizisten der Sonderkommission oder voyeuristische Touristen, die extra wegen des Thrills Zimmer und Apartments gebucht hatten und mit ihrer Anwesenheit allen Beteiligten ziemlich auf die Nerven gingen – im Dorf war in diesen Tagen mehr los als bei allen bisherigen Rosenfest-Wochenenden zusammen.
Emma wusste, sie musste etwas tun. So wollte sie zuerst zu Reinhold Nägele gehen und ihm das Medaillon geben, das René nicht hatte annehmen wollen. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie Reinhold Nägele auf das Schmuckstück, das ihn an seine verschwundene Tochter erinnern und ihn damit mehr aus der Bahn werfen als trösten könnte, reagieren würde.
Um flexibler zu sein und unter Umständen direkt nach Zürich weiterzufahren, falls ihr Reinhold Nägele das Hotel seines Freundes Richard Sutherfolk nennen würde, fuhr sie dieses Mal mit ihrem Mini zum Wolfbachweg.
Emma war sich sicherer denn je, dass ihr der Rosenzüchter und gute Freund der Familie Nägele noch längst nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, weswegen sie unbedingt auch noch einmal mit ihm sprechen wollte, ja musste. Offen, direkt und vor allem unter vier Augen – ohne Reinhold Nägele. Doch nur er konnte ihr sagen, wo sie den Engländer in Zürich finden würde.
Es war bereits fast 10 Uhr, als sie die schmiedeeiserne Klingel des Nägeleschen Anwesens drückte. Doch selbst nach dem dritten Sturmläuten regte sich nichts.
Komisch. Reinhold Nägele arbeitet doch meistens von zu Hause aus, und wenn er nicht da ist, dann doch wenigstens Gerald, dachte sie und probierte es erneut. Aber als selbst nach dem vierten Klingeln niemand öffnete, ging sie zurück zu ihrem Wagen. Sie hatte gerade die Tür geöffnet und war mit einem Bein schon eingestiegen, als Gerald Nägele schlaftrunken an der schweren Holztür erschien.
„Ha ...“ Er gähnte erst einmal ausgiebig, ehe er seine Begrüßung beenden konnte. „Hallo.“
„Oh, guten Morgen. Ich habe dich wohl geweckt?“
„Hmmmm, nicht schlimm“, grummelte Gerald Nägele in seinen Bart.
„Ich würde gerne zu deinem Vater.“
„Der ist nicht da.“ Gerald Nägele kratzte sich am Hinterkopf, während er Emma signalisierte, ins Haus zu kommen. Barfuß, mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet, das mindestens eine Nummer zu klein war und in dem Gerald aussah, als sei er in darin eingenäht worden, machte er keinen besonders einladenden Eindruck, aber Emma wollte endlich das Medaillon loswerden und noch einmal mit Reinhold Nägele über die besagte Nacht des Rosenballs sprechen, weshalb sie dann doch seiner Aufforderung folgte.
„Und wann kommt er wieder?“
„Der kommt für ’ne ganze Zeit nicht wieder.“
„Was heißt das?“ Emma schaute Gerald irritiert an. Sie verstand nicht so recht, was er meinte und schob es auf seine immer noch sehr stark vorhandene Müdigkeit zurück, da er immer wieder im regelmäßigen Abstand von gefühlten 30 Sekunden inbrünstig gähnte und Emma daran vollen Anteil nehmen ließ.
„Er ist gestern Abend in St. Stephan von hinten attackiert worden und liegt mit schwersten Kopfverletzungen auf der Intensivstation. Ich glaub, im Koma oder so“, sagte er und konnte einen erneuten Anflug seiner Müdigkeit nicht unterdrücken.
„Oh, mein Gott. Weiß man schon Näheres?“, sagte Emma.
„Nein, sie waren gestern Abend noch hier und haben mich befragt. Feinde hatte der Alte ja viele.“
Emmas Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Reinhold Nägele zusammengeschlagen, schwer verletzt und auf der Intensivstation? Wie konnte das sein? Warum jetzt auch noch er? Hatte er wirklich so viele Feinde, wie Gerald fast schon mit stolzgeschwellter Brust erzählte, oder hatte der Mörder es gar nicht auf ihn abgesehen? Wollte er einfach nur Spuren verwischen, indem er einen Unbeteiligten wie Charlottes Vater töten wollte? Oder war es bloße Willkür?
Oder?
Emma stockte, während ihre Gedanken weiter ratterten.
Charlotte. Warum komme ich bloß wieder auf Charlotte? War sie der Anlass, warum erst Franz Marder, dann Maria Reisinger und nun auch Reinhold Nägele dem Täter zum Opfer gefallen waren? Welches Geheimnis verband die drei? Und was ist das für ein Geheimnis, für das jemand auch nicht vor einem Mord zurückschreckt? Und vor allem: Wer wusste noch alles von diesem todbringenden Geheimnis, wer steht also noch alles auf dieser Todesliste? Wer ist der Nächste, der mit seinem Leben bezahlen muss, nur weil er etwas weiß, das er am besten nie gewusst hätte?
„Und was wolltest du vom Alten?“, fragte Gerald, der Emma wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
„Was? Ach, ist nicht so wichtig“, erwiderte sie. Sie starrte wie in Trance in den breiten Flurgang hinein, der zum großen Wohnbereich mit Wohnzimmer, Esszimmer und der Küche führte. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie die vielen Bilder, die alle Charlotte zeigten.
„Charlotte ist wohl wirklich ein Vaterkind“, bemerkte sie belanglos, fast schon gleichgültig, obwohl die Dominanz des einzigen Bildmotivs eigentlich keine Beiläufigkeit zuließ.
„Das ist den Bullen auch schon aufgefallen. Man meint fast, er war in sie verliebt, so wie der Fotograf, der anscheinend vom Alten für diese Bilder bezahlt wurde.“