achtundsechzig

Als Emma erwachte, spürte sie zuerst die starke Migräne, die sich von den Schläfen aus langsam in ihrem Kopf breitmachte. Vor ihren Augen drehte sich die Welt. Waren es Tannen oder Häuser, Straßenlaternen oder Rosen, die sie da sah? Wenn sich das Karussell in ihrem Kopf doch nur mal etwas langsamer drehen würde, flehte eine Stimme in ihrem Innern.

Doch niemand schien sie zu erhören.

Ihr war kalt. Ihr Körper war nass, aber sie konnte weder genau lokalisieren, wo sie nass war, noch konnte sie genau sagen, ob sie sich in die Hose gemacht hatte oder in einem Bottich voller Wasser saß. Aber auch sonst war einiges anders als sonst. Sie konnte ihre Hände und auch ihre Beine nicht bewegen. Ihre gesamte Körperhaltung hatte etwas Unnatürliches. Verdreht. Zerknickt. Zerdrückt. Wie ein leerer Milchkarton, dessen Laschen man auseinanderzieht, ihn platt drückt, um anschließend die Packung zusammengefaltet zu entsorgen. Das war es: Sie fühlte sich entleert und weggeworfen. Und doch fehlte ihr allein der Gedanke, warum das so war. Warum sie so fühlte, warum sie so dalag und vor allem, wie sie in diese Situation gekommen war.

Sie schloss die Augen, aber selbst dann hörte das Drehen und Hämmern hinter ihrer Stirn nicht auf. Es war ein Drehen, das sie nur von den unzähligen Fahrgeschäften vom Rummel her kannte. Poseidon, Breakdance, Octopussy und wie sie alle hießen. Es fehlten zwar die grell-leuchtenden Neonlichter. Dafür drehte sich ihre Gondel immer schneller und schneller.

Sie sah, wie jemand den Turboknopf drückte, die Bremsen lahmlegte und mit einem Lächeln das Führerhäuschen verließ. Doch es war nicht die Bedienzentrale irgendeines Fahrgeschäfts. Es war das Gewächshaus, das sie aus ihrem Traum kannte. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen in der Hoffnung, der Schmerz in ihrem Kopf würde für einen Moment innehalten und sie könnte sehen, was sie da meinte zu erahnen.

Sie sah einen Mann. Mit einem breiten Grinsen in seinem Gesicht kam er aus dem Treibhaus. In seiner Hand hielt er etwas. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, nur, dass der Gegenstand sperrig sein musste und nach unten etwas größer wurde. Als er näher kam, erkannte sie, dass etwas Metallisches diesen Gegenstand nach unten hin abschloss. Sie wollte gerade etwas sagen, während sie versuchte, sich aufzurappeln, als ihr Gehirn in den Stand-by-Modus herunterfuhr und eine schwere Ohnmacht sie überkam. Ihre Augenlider waren schon fast geschlossen, als das Schaufelblatt eines Spatens den Himmel über ihr verdunkelte.

Sie wusste nicht genau, wie lange sie in der federleichten Welt der Bewusstlosigkeit gewesen war. Sie wusste auch nicht, wo sie genau war und wer sie hierhin gebracht hatte.

Aber sie ahnte, dass, wenn sie die Augen öffnete, der Tod auf sie lauern würde – wenn er sie nicht schon längst geholt hatte.

Es war die Angst, die sie erzittern ließ. Sie hasste diese Angst, aber sie wusste, sie konnte ihr nicht entkommen. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Alles schien friedlich zu sein.

Ein dichter Nebel hatte sich an die Stelle geschoben, an der sie zuvor noch das Gewächshaus gesehen hatte. Die Nebelschleier hüllten sie ein und sie fühlte sich sicher, geborgen und frei. Wie gerne hätte sie den Nebel berührt, ihn ergriffen und dicht an sich herangezogen. Doch das ging nicht. Ganz gleich, wie stark die Impulse, die Befehle waren, die sie an ihr Gehirn sandte, sie konnte sich noch immer nicht bewegen.

Sie hörte irgendwo entfernt Schritte. Sie wollte sich ducken, aber selbst das war in ihrer Lage nicht möglich. Plötzlich sah sie etwas Durchsichtiges vor sich schweben. Sie konzentrierte sich, schärfte ihre Sinne und versuchte, mit ihrem Blick die Umrisse abzutasten. Ein Glas. Ein gefülltes Glas mit Wasser, dachte sie. Erst jetzt spürte sie, wie sich ein Durstgefühl auf ihre Zunge legte und nach Wasser schrie. Jemand reichte ihr das Glas und setzte es ihr an den Mund. Endlich konnte sie trinken. Erst einen Schluck. Langsam, bedächtig, damit ja nichts daneben ging. Dann zwei, drei, vier Schlucke, bis sie das ganze Glas geleert hatte.

Sie wollte gerade den Mund schließen und spüren, wie das Leben in ihren Körper zurückkehrte, als sie sah, wer ihr das Glas gereicht hatte. Sie erschrak. Sie konnte ihren Augen nicht glauben, wen sie da vor sich stehen sah.

Thomas Albiez.

Sie fühlte, wie tief in ihrem Inneren die Übelkeit langsam emporstieg, ihre Sinne schwanden und ihr der eigene Körper willenlos entglitt. Und doch wollte die Ohnmacht nicht wiederkommen und sie in das Reich der Geborgenheit zurückbringen.

Panik machte sich in ihr breit und sie kämpfte – gegen ihre Tränen, gegen das Gefühl der Machtlosigkeit und um ihr Leben.

„Es freut mich, dass du so vernünftig warst und etwas zurückgebracht hast, was mir gehört.“ Thomas Albiez stand breitbeinig vor ihr, schaute zu ihr hinunter und lächelte dabei abfällig. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine silberne Kette, an der Charlottes Rosenanhänger baumelte.

„Ich wollte auch gerade schon zu dir und mir mein Schmuckstück wiederholen, als ich dich hier im Garten habe herumschleichen sehen. Und da dachte ich mir: Was für ein glücklicher Zufall!“

Emma schluckte. Sie schaute Thomas Albiez mit großen, verängstigten Augen an. Die Synapsen in ihrem Gehirn waren immer noch wie gelähmt, und trotzdem versuchte sie krampfhaft, die ganzen Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenzusetzen.

Thomas Albiez lachte gehässig. „Da fällt dir nichts mehr ein, nicht wahr? Das macht mich irgendwie sogar stolz, dass die so schlaue Emma zwar hinter das Geheimnis gekommen ist, aber nicht hinter den, der es bis in alle Ewigkeiten hüten wird.“

Er nahm den Spaten, der neben Emma im Erdreich steckte. Sie zuckte zusammen, als er ausholte. „Das wäre zu einfach. Ich habe mir etwas ganz Besonderes für dich ausgedacht.“ Etwas umständlich trat er den Spaten in den Boden, löste ein Stück des Erdreiches, hob es heraus und lud es neben Emma ab.

„Weißt du, Emma …“ Er stieß den Spaten wieder in die Erde.

„Du warst mir schon seit längerer Zeit ein Dorn im Auge. Die ganze Fragerei wegen des Medaillons, das ich am See verloren habe, als ich den alten Bauern ins Wasser geworfen habe. Und als du heute Morgen mein kleines Geheimnis entdeckt hast, da wurde mir bewusst, dass ich etwas tun muss. Dabei sagt man doch: ‚Tote soll man ruhen lassen. Daran hättest du dich mal besser halten sollen.“

Wieder ließ er einen Klumpen Erde neben Emma fallen. „Na ja. Aber egal. Und da ich hier sowieso etwas Neues pflanzen wollte, kann ich gleich zwei Probleme auf einmal lösen.“ Auf den Spaten gestützt schaute er sich zufrieden um. Die Tannen standen wie Soldaten regungslos vor ihm und bildeten mit den verblühten Wildrosen eine eingeschüchterte Zuschauermenge. Es war nahezu windstill. Nur die sanfte Nebeldecke war das einzige Anzeichen dafür, dass sie sich im Hier und Jetzt befanden.

Thomas Albiez machte sich wieder an sein Werk. Bereits nach dem dritten Aushub liefen ihm die ersten Schweißperlen die Stirn hinab. Nachdem er sich mit seinem Arm die Stirn abgewischt und mehrere Schlucke aus einer Wasserflasche getrunken hatte, ging er zu Emma hinüber und beugte sich zu ihr herunter.

Er streichelte ihr übers Haar, nahm eine Strähne und spielte mit ihr herum, ehe sich Emma angeekelt wegdrehte.

„So unselig schön. Aber bald nicht mehr. Dabei hätte aus dir vielleicht sogar eine ganz ordentliche Polizistin werden können. Doch dir wurde leider deine falsche Neugier zum Verhängnis. Schade eigentlich. Aber wer zu tief gräbt …“ Thomas Albiez zuckte mit den Schultern.

„Aber tröste dich, du bist nicht die Erste, der das passiert. Nur für dich tut es mir sogar fast ein wenig leid.“ Er lächelte und zwinkerte ihr mit seinem rechten Auge zu.

„Aber warum?“ Emma war immer noch fassungslos und doch hatte sie es geschafft, nach langer Zeit endlich wieder ihre Stimme zu finden. Sie schaute in sein Gesicht. Doch seine Augen waren kalt.

Leblos.

Tot.

„Warum? Was warum?“, kreischte Thomas Albiez. Unsicher drehte er sich um, um im nächsten Augenblick und mit deutlich gesenkter Stimme fortzufahren: „Du kleines, blondes Dummerchen. Weil es Sachen gibt, die niemanden etwas angehen. Und wenn doch, dann muss man eben mit Konsequenzen rechnen. Und vor allem: mit diesen auch leben – und manchmal sogar sterben.“

Es widerte sie an, wie er sie süffisant anlächelte. Am liebsten hätte sie ihm dieses Lachen ein für alle Mal aus dem Gesicht gerissen, doch ihre Hände waren immer noch gefesselt. Die Kordeln waren so fest um ihre Knöchel gebunden, dass sie ihr bereits ins Fleisch schnitten.

„Und du, meine Liebe, wirst die Nächste sein, der mein kleines Geheimnis zum Verhängnis wird.“

Emma fielen die letzten Sekunden vor ihrer Ohnmacht ein. Sie hatte sich über das Rosenbeet gebückt und versucht, behutsam und mit bloßen Händen das weiche, wenn auch feuchte Erdreich abzutragen, als sie plötzlich eine menschliche, skelettierte Hand freigelegt hatte. Charlottes Hand.

„Charlotte gehört mir. Mir allein. Warum versteht das denn keiner?“ Vor Wut rammte Thomas Albiez den Spaten in die Erde.

„Was hast du nur getan?“ Emmas Stimme versagte und dennoch versuchte sie, ihn in ein Gespräch hineinzuziehen. In der Hoffnung, er würde darauf eingehen, sich alles von der Seele reden und sie damit letzten Endes verschonen.

Sie schauderte erneut.

„Man legt sich eben nicht mit mir an. So einfach ist das. Erst dieser alte, versoffene Bauer. Der hat mir damals dieses Gewächshaus gebaut, das ich als letzte Ruhestätte für meine Königin errichten wollte. Der Glaspavillon war auch schon fast in Vergessenheit geraten, wäre er nicht eines Abends hier aufgetaucht. Richtig rumgetorkelt ist der hier, widerlich. Hat sich alles ganz genau angesehen, mit dem ewigen Licht gesprochen – wie bescheuert ist das denn – sich die Bilder angeschaut, sogar die Rose, meine Rose angefasst. Und wenn das nicht schon gereicht hätte. Nein, dann musste er auch noch mit diesem gelallten Vers aus einem Kinderlied alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In aller Öffentlichkeit und so laut, dass das sogar die Touristen und Menschen, die das überhaupt nichts anging, gehört haben. Und da musste ich dann etwas tun.“

Thomas Albiez hatte das bereits ausgehobene Loch deutlich vergrößert, als er kurz innehielt. „Am Samstagmorgen und kurz nachdem er seine Show auf dem Rathausplatz abgezogen hatte, tauchte er hier im Garten auf. Doch ich war auch da, habe ihn gesehen. Ich hatte noch eine alte Eisenstange als Lawinenschutz fürs Dach übrig. So schlich ich mich an. Er wollte sich gerade umdrehen, als die Stange ihn direkt – und besser hätte es gar nicht laufen können – an der Schläfe traf. Volle Breitseite. Er blutete zwar wie ein abgestochenes Schwein, aber ich war gut ausgerüstet, habe ihn in einen alten Teppich eingewickelt und an den See gefahren, wo ihn ja diese blöde alte Touristin finden musste, sonst läge er jetzt wohl schon unten auf dem Grund des Sees.“ Er schien sichtlich zufrieden zu sein mit seiner Tat. Und als ob er das bekräftigen wollte, nahm er einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche.

Emma sah ihm mit schweren Augen dabei zu, als ihr plötzlich Luise Kampmanns Worte wegen der Bierflasche einfielen.

„Warum hatte er denn eine Bierflasche in der Hand, wo er doch eigentlich nur …“, bemühte sie sich, den Satz halbwegs vollständig auszusprechen, doch ihr ermatteter Sprach- und Bewegungsapparat machte ihr auch hier einen Strich durch die Rechnung.

„Das war mein erster Fehler. Er kam natürlich ohne Schnaps in den Garten. Also musste ich ihm irgendetwas in die Hand drücken, sodass es zumindest für den Anfang den Eindruck hatte, dass er im Suff gestolpert ist und so tödlich verunglückt ist. Da ich keinen Alkohol trinke – mein Vater ist ja daran elendig krepiert –, also auch keinen im Haus habe, da dachte ich, ich könnte im Lädele schnell eine Flasche billigen Fusels kaufen. Aber nichts da, sie hatten nur Bier. Also musste ich ihm eine Bierflasche in die Hand drücken, wollte ich es irgendwie nach Unfall aussehen lassen. Woher konnte ich auch ahnen, dass er so schnell gefunden wird? Aber, wie sagt man so schön: Irren ist menschlich.“ Thomas Albiez grinste süffisant. „Und warum Maria Reisinger?“ Emma fragte vorsichtig. Nicht nur, um wichtige Zeit zu gewinnen, sondern auch aus Eigeninteresse. Kannte sie doch die Leute – wenn auch nur flüchtig – die Thomas Albiez auf dem Gewissen hatte.

„Die liebe Reisinger. Die Verschwiegenheit in Person. Sie musste überall ihre Nase hineinstecken, wollte alles wissen und vor allem – hat alles getratscht und weitererzählt. Das war schon zu den Zeiten so, als ich noch ein kleiner Junge war. Ob ich einem anderen Kind die Luft aus den Reifen gelassen, mal eine Stunde die Schule geschwänzt und daher einen Bus später genommen oder die Kirschen vom Baum des Nachbarn gepflückt habe – immer und alles hat sie meinen Eltern gepetzt. Wie oft wollte ich mich damals an ihr rächen, ihr eins auswischen und sie für ihre vorlaute Klappe bestrafen. Doch allein die Möglichkeit dazu fehlte mir. Bis vor ein paar Wochen. Sie dachte, ich wäre nicht zu Hause. Und so ging sie – mit mir kann man es ja machen – einfach und ohne zu fragen in den Schuppen und nahm sich eine Harke heraus. Doch damit nicht genug. Auch sie sah das Gewächshaus, und als sie die Rose entdeckte, erinnerte sie sich wohl an den Nachmittag des Rosenballs vor 15 Jahren. Ich hatte an diesem Tag Rathaus-Aufsicht, sollte Bänke und Tische herrichten, mich um die Bewirtung der Ehrengäste kümmern und die ganzen Geschenke in Empfang nehmen. So auch die Rose der Rosenkönigin, die an diesem Tag aus England extra per Kurier geliefert wurde. Als es bereits dunkel wurde und alle sich in Richtung Rosendorfhalle aufmachten, um ausgelassen zu feiern, bin ich ins Rathaus zurückgegangen und habe mir das genommen, was mir gehörte. Bis vor wenigen Tagen war ich mir sicher, dass mich niemand beobachtet hat, bis ich plötzlich einen Erpresserbrief bekam, in dem stand, dass der Absender wisse, wer die Rose damals entwendet habe und wo sie nun zu finden sei. Unterzeichnet war der Brief von Maria Reisinger. Gott, wie blöd diese Frau doch war. Sie forderte 5.000 Euro, eine Summe, die ich leicht aufbringen konnte, also habe ich bezahlt. Aber als dann nur einen Tag später ein zweiter Brief kam, in dem sie eine höhere Summe forderte und drohte, Reinhold Nägele und der Polizei von dem Diebstahl zu erzählen, da reichte es. Woher sollte ich wissen, ob sie es nicht schon längst getan hatte? Also habe ich ihr einen nächtlichen Besuch abgestattet. Mann, hat die überrascht geguckt, als sie mich sah. Ich habe ihr sogar freundlich zugelächelt, als ich ihr den Duschschlauch um den Hals gelegt und zugedrückt habe, um ihr vorlautes Maul endlich und für alle Zeiten zum Schweigen zu bringen.“

Der Nebel war noch dichter geworden. Emma konnte kaum mehr aufrecht sitzen. Sie lehnte, wie sie mittlerweile gemerkt hatte, an einer Tanne, nur einige Schritte von Thomas Albiez entfernt. Er stand bereits bis zu den Knien im Loch, das – und das war ihr längst klar geworden – ihre letzte Ruhestätte werden sollte. Rede mit ihm, ermahnte sie sich, doch allein schon das Atmen fiel ihr unendlich schwer.

„Und was hat Reinhold Nägele getan?“

„Auch er hatte es nicht besser verdient. Keiner war je gut genug für seine Tochter. Auch ich nicht, dabei habe ich sie so sehr geliebt und liebe sie immer noch.“ Er stockte und schaute mit gesenktem Blick ins Leere. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich gefangen hatte: „Wie dem auch sei: Als ich am Dienstag ganz zufällig den Streit zwischen ihm und diesem Engländer mitbekommen habe, da wusste ich, wie ich’s am besten mache. Eigentlich wollte ich dieses perverse Schwein auch töten, weil er sich an meiner Charlotte vergangen hat. Aber warum sich unnötig die Finger schmutzig machen, wenn einem die Polizei die Drecksarbeit abnimmt. Ich habe nämlich bei der Reisinger Briefe entdeckt. Sie hat auch diesen schmierigen Engländer erpresst – wegen seiner Affäre mit Charlotte.“

Verächtlich spuckte er auf den Boden. „Bäh, was für ein Perversling. Auf jeden Fall wird er nun wegen des Mordes an Maria Reisinger genauso verurteilt werden wie dieser Snob von Schweizer Millionärssohn für seinen Mord an Reinhold Nägele. Wenn ich den nur sehe, könnte ich mich vergessen. Ich frage mich immer noch, was meine geliebte Charlotte an dem alten Sack und an diesem eingebildeten Schnösel nur gefunden hat.“

Emma schaute ihn mit leeren Augen an. Sie wollte sich bewegen, allein ihr Körper versagte ihr den Dienst. Sie hatte das Gefühl zu lallen. Aber lallte man geräuschlos?

„Was ist mit dir? Etwa schon müde? Also wirklich Emma, das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht.“ Verächtlich tätschelte er ihre Wange.

„Wo waren wir? Ah ja, bei diesem Schweizer. Was für ein Depp. Der hat doch bis heute nicht gemerkt, was hinter seinem Rücken abging und wie Charlotte ihn ausgenutzt hat. Geschieht ihm ganz recht. Na ja, und nun wollte er vor lauter Hass und aus tiefstem Rachegefühl Reinhold Nägele erschlagen. Das beweisen seine Handschuhe am Tatort, die ich der Polizei richtig einladend neben Reinhold Nägele drapiert habe. Wie blöd muss man eigentlich sein, die Türen seines Wagens nicht abzuschließen.“

„Und warum sollte er das getan haben?“ Emma riss sich unter größter Anstrengung zusammen, aber sie musste Thomas irgendwie am Reden halten.

„Weil …“, Thomas Albiez stieg aus dem Loch und hockte sich vor Emma hin, „… der Nägele ihn genauso wenig gemocht hat wie mich. Er wollte seine Tochter nur für sich alleine haben. Aber mir hat das alles nichts ausgemacht, denn ich wusste, Charlotte ist mein und wird immer mein bleiben. René dagegen entwickelte Hass. Auf ihren Vater, auf dieses Dorf, auf sein gesamtes Leben. Und was ist das für ein Leben? Ein Leben als Mörder?“ Er grinste, stand auf und ging zu seinem Rucksack, der abseits unterhalb einer Tanne stand, und kramte darin herum.

„Wobei: Noch ist es ja gar kein Mord. Das war meine zweite kleine Unachtsamkeit. Aber es sind auch so viele Leute an diesem Abend auf dem Rathausplatz gewesen, da war das Risiko, erwischt zu werden, einfach viel zu groß. So konnte ich dem Alten nur kurz eins mit der Monstranz überziehen, um gleich wieder zu verschwinden. Aber der gute Nägele läuft mir ja nicht weg. Um den kümmere ich mich, wenn ich mit dir fertig bin“, freute er sich schon jetzt auf seine kommende Aufgabe, wieder den Richter über Leben und Tod zu spielen.

„Und nur weil du Charlotte nicht haben konntest, hast du sie ermordet?“

„Was heißt hier nicht haben konntest? Ich habe sie doch – für immer.“ Er zeigte auf das Gewächshaus. Dabei leuchteten seine Augen voller Besessenheit.

„Und wie ich um sie gebuhlt habe. Da musste sie doch einfach Ja sagen.“ Er grinste höhnisch. „Mein Psychologe nannte das einmal Liebeswahn, als ich vor lauter Liebe meine Katze erdrückt habe. Ich wollte sie einfach nicht mehr loslassen. Doch sie war nichts im Vergleich zu Charlotte. Ich habe extra einen Fotokurs bei der Volkshochschule belegt, nur um sie auf Fotografien festzuhalten. Wie sie das geliebt hat. Überall, wo ich mit meiner Kamera auftauchte, war Charlotte da, tanzte, posierte, spielte mit der Kamera – und mit mir. Und als ich dann erst für die Zeitung geschrieben habe, da war ich ihr bester Freund. Was hatten wir für eine tolle Zeit. Ich war richtig verknallt bis über beide Ohren.“

Er grinste. Doch es war der blanke, abgrundtiefe Hass, der aus seinen Augen sprach, als er fortfuhr: „Wie schön wäre alles geworden. Doch als ich mehr wollte, als ich sie nur fragte, ob sie meine Ballkönigin sein wolle, da hat sie nur blöd geguckt, mich ausgelacht und anschließend wie ein begossener Pudel inmitten der Menschenmenge einfach so im Regen stehen gelassen. Wie konnte sie mich nur so abweisen, nach allem, was ich für sie getan hatte?“ Er kämpfte mit den Tränen. „Warum schenkte sie mir nicht einen Tanz, nur einen einzigen?“ Thomas Albiez begann zu heulen. Was für ein kranker Typ, dachte Emma und fragte sich, ob er jetzt aus Verzweiflung, Trauer oder Wut weinte. Sie erschrak, als er plötzlich aus einem Lederetui eine Spritze herausholte.

„So blieb mir nichts anderes übrig, als ihr zu zeigen, dass man so nicht mit mir umspringt, dass man meine Liebe nicht mit Füßen tritt. Was gibt es denn schon Wertvolleres, als die reine, die selbstlose Liebe?“ Er zitterte leicht, als er die Nadel vorsichtig auf die Spritze steckte.

„Also habe ich mir – als ich die Rose nach Hause brachte – aus dem Keller Äther geholt und bin zurück zum Fest. Ich sah, wie sie Richtung Kreisstraße lief – ihrer Ewigkeit entgegen. Es konnte gar nicht besser laufen. Denn anstatt René, für den sie mit dem Dorf, mit ihrem Vater, mit mir brechen wollte, wartete ich an der Kreuzung. Ich musste nur den richtigen Augenblick abwarten und dann ging es ganz schnell. Dort oben sah uns niemand. Selbst in ihrem letzten Moment war ich ganz allein mit ihr.“ Er grinste über das gesamte Gesicht. Erst jetzt bemerkte Emma die Aknenarben in seinem Gesicht. Sie schüttelte sich, doch Thomas Albiez schien davon nichts mitbekommen zu haben.

„Es war so kinderleicht, sie zu betäuben und dann ins Auto, das ich nur wenige Meter entfernt von ihr abgestellte hatte, zu schleppen und sie im heimischen Keller einzusperren. Meine Eltern waren im Urlaub, also hatte ich freie Bahn, sie bei uns zu verstecken.“

„Warum hast du nicht mehr mit ihr gesprochen? Ihr gesagt, dass dich ihr Verhalten verletzt hat?“ Emma hasste sich für ihr mitfühlendes Geschwafel, doch als sie wenige Augenblicke zuvor die Spritze gesehen hatte, da wusste sie, dass nun auch ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Ein Stündlein, das man vielleicht noch etwas hinauszögern konnte, um sich einen Plan B zu überlegen, da bis jetzt immer noch niemand hier aufgetaucht war, um sie von diesem Psychopathen zu befreien.

„Mit Charlotte konnte man nicht reden, geschweige denn diskutieren. Aber wenn man jemanden liebt, dann nimmt man so etwas in Kauf. Schließlich ist sie ja meine Königin. So habe ich ihr ein Glas mit einem ganz besonderen Getränk darin gegeben. Du glaubst gar nicht, wie friedlich sie daraufhin eingeschlafen ist. Und so friedlich würde sie dort jetzt immer noch schlafen, wenn du sie nicht geweckt hättest.“ Seine Gesichtszüge verfinsterten sich, als er die Nadel in ein Fläschchen steckte und die Spritze aufzog.

Es war das blanke Entsetzen, das sie übermannte, als sie „Luminal“ auf der durchsichtigen Flasche lesen konnte. „Luminal“ – ein Schlafmittel, das schnell wirkte und in hoher Dosis tödlich war.

Sie wollte schreien, doch es kam kein einziger Ton aus ihrem Mund. Bitte, lieber Gott, ich will noch nicht sterben, flehte sie wortlos gen Himmel. Doch es schien, als sei es unmöglich, durch den Nebel irgendwelche Botschaften an eine höhere Macht transportieren zu können.

„Ich bin so froh, dass ich dir nun alles erzählen konnte. Es wäre wirklich schlimm gewesen, wenn du nun in den Schlaf der Gerechten fällst, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, warum die Liebe die stärkste Macht der Welt ist. So stark, dass sie einen sogar zum Mörder macht.“

Emma wehrte sich, soweit sie das in ihrem gefesselten Zustand überhaupt konnte. Doch Thomas blieb völlig unbeeindruckt vor ihr stehen, in der rechten Hand hielt er die Spritze. „Weißt du, Emma, das Schöne ist, dass ich für dieses Schlafmittel noch nicht einmal eine Vene treffen muss, um es dir zu verabreichen.“ Thomas grinste wieder abfällig, während er sanft ihre Wange streichelte.

„Die Spritze ist nur da, falls etwas schiefgehen sollte.“

Emma schaute ihn entsetzt an.

„Rate mal, was du eben getrunken hast? Arme Emma. Aber was bei Charlotte funktionierte, funktioniert auch bei dir.“

Zärtlich nahm er eine Strähne ihres goldblonden Haars und wickelte zwei Finger liebkosend darin ein. „Dann schlaf mal gut, mein Engel. Dein ewiges Bettchen ist gleich fertig.“ Thomas stieg wieder in die Grube hinein, die mittlerweile nahezu überall einen halben Meter tief ausgehoben war, und kümmerte sich um die letzten Zentimeter, als Emmas Körper sich von der Tanne löste und wie eine Marionette, deren Fäden nach gelöster Spannung nachgeben, in sich zusammensackte. Sie versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten.

Du darfst jetzt nicht einschlafen, sonst ist Opa ganz umsonst gestorben, appellierte sie an ihren Überlebenswillen und versuchte krampfhaft, ihre Augen offen zu halten.

Ein weiterer Klumpen Erde, der mit einem platschenden Geräusch neben ihr aufschlug, war das Letzte, was sie sah.