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A uf … und ab … auf … und ab …« Laurie Moran strampelte zu ohrenbetäubenden Techno-Beats und im Lichtgeflacker ähnlich einer Disco aus den späten Siebzigerjahren. Der Mann vor ihr gab erneut ein begeistertes »Wow!« von sich, was sicherlich keinen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen haben dürfte.
Rechts von ihr grinste ihre Freundin Charlotte – sie hatte den morgendlichen Spinning-Kurs vorgeschlagen – und wischte sich mit einem kleinen Tuch über die Stirn. In der lauten Musik war sie nicht zu verstehen, aber Laurie las ihr von den Lippen ab: »Gib’s zu, du findest es toll!« Linda Webster-Cennerazzo auf der anderen Seite sah dagegen genauso erschöpft aus wie sie selbst.
Nein, Laurie fand es nicht toll. Kurzzeitig war sie erleichtert, als ein ihr bekannter Song loswummerte, aber dann machte ihr perfekt gebräunter und durchtrainierter Leiter alles wieder zunichte, als er brüllte: »Leute, am Knöpfchen drehen. Zeit für den nächsten Anstieg!«
Laurie fasste zum Drehrad an ihrem Indoor Cycling Bike, doch statt nach rechts drehte sie zwei Stufen nach links. Ein höherer Tretwiderstand war jetzt das Letzte, was sie brauchte, ganz zu schweigen vom inneren Widerwillen, den es auch noch zu überwinden galt.
Aber dann war die Tortur endlich vorbei, und sie folgte den übrigen ausgelaugten Teilnehmern gemeinsam mit Charlotte und Linda zu den Umkleiden. Das Studio war mit denen, die Laurie bislang gekannt hatte, nicht zu vergleichen. Es gab mit Eukalyptusöl getränkte Handtücher, flauschige Bademäntel und einen richtigen Wasserfall in der Saunalandschaft.
Das Make-up dauerte bei Laurie keine zehn Minuten. Die schulterlangen Haare musste sie nur waschen und föhnen, dazu trug sie einen Moisturizer und etwas Mascara auf. Sie streckte sich auf einem Liegestuhl aus, während sich Charlotte zu Ende schminkte.
»Ich will einfach nicht glauben, dass du dir diese Qual viermal pro Woche antust«, sagte Laurie.
»Ich auch nicht«, pflichtete Linda bei.
»Und dreimal davon Crosstraining, vergesst das nicht«, sagte Charlotte.
»Jetzt gib doch nicht so an«, erwiderte Linda etwas pikiert.
»Hört mal, ich hab mich dafür entschieden, weil ich in der Arbeit die meiste Zeit nur rumsitze und mit Kunden zum Essen gehe. Ihr beide seid beruflich und auch privat viel auf den Beinen.«
»Das kannst du laut sagen«, kam es von Linda, die sich auf den Weg zur Dusche machte.
Laurie wusste, dass Charlotte schon aus beruflichen Gründen in Topform sein musste. Sie war die Vorsitzende der New Yorker Niederlassung ihres Familienunternehmens Ladyform, eines bekannten Herstellers von Sportbekleidung für Frauen. »Wenn ich noch mal mitkommen sollte, setze ich mich in den Heißwasserbottich neben dem Wasserfall und überlasse das Strampeln dir.«
»Wie du willst, Laurie. Außerdem finde ich, dass du genau richtig bist, so wie du bist. Aber du hast schließlich gesagt, dass du besser in Form kommen willst vor deiner großen Hochzeit.«
»Es wird keine große Hochzeit«, protestierte sie. »Und ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Diese Hochzeitsmagazine setzen einer Frau nur dumme Ideen in den Kopf: Designer-Kleider, ein Meer aus Blumen und Unmengen an Tüll. Mir ist das alles zu viel. Ich bin wieder zur Vernunft gekommen.«
Aber der Gedanke an ihre bevorstehende Hochzeit mit Alex erfüllte Laurie mit großer Freude. »Wenn Timmys Schuljahr vorbei ist, machen wir irgendwas Kleines und unternehmen eine Familienreise«, sagte sie so gelassen wie möglich.
Charlotte schüttelte missbilligend den Kopf, während sie eine Tube Haargel in ihrem schwarzen Prada-Lederrucksack verstaute. »Laurie, glaub mir. Vergiss die Familienreise. Schließlich sind das eure Flitterwochen. Die solltet ihr wirklich zu zweit verbringen. Und Leo wird während eurer Abwesenheit liebend gern auf Timmy aufpassen.«
Laurie bemerkte, dass eine Frau im nächsten Gang ihr Gespräch belauschte, und senkte die Stimme. »Charlotte, ich hatte eine große Hochzeit mit Greg. Diesmal möchte ich eine kleine Feier. Alles, was zählt, ist, dass Alex und ich endlich zusammen sind. Für immer.«
Laurie hatte den Strafverteidiger Alex Buckley kennengelernt, als sie ihn als Moderator für ihre Fernsehsendung Unter Verdacht angeheuert hatte. In der Arbeit war er schnell zu ihrem engsten Vertrauten geworden, bald darauf in ihrem Privatleben aber zu wesentlich mehr als das. Als er seinen Rückzug von der Sendung verkündete, um sich ganz seiner Anwaltskanzlei widmen zu können, war sich Laurie nicht mehr ganz sicher gewesen, welchen Platz er in ihrem Leben einnahm. Mit Greg hatte sie bereits die große Liebe gefunden, und nach seinem Tod war sie vollauf damit beschäftigt gewesen, die beruflichen Anforderungen mit den Pflichten einer alleinerziehenden Mutter unter einen Hut zu bringen. Sie hatte geglaubt, vollends zufrieden zu sein, bis Alex ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass er mehr von ihr wollte, als sie ihm seiner Meinung nach zu geben bereit war .
Nach einer dreimonatigen Auszeit musste sie erkennen, dass sie ohne Alex schrecklich unglücklich war. Also hatte sie ihn angerufen und gebeten, mit ihr zum Essen zu gehen. Bereits beim Auflegen hatte sie gewusst, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mittlerweile waren sie seit zwei Monaten verlobt. Und sie hatte sich an den von Alex ausgewählten Platinring mit dem Diamant-Solitär gewöhnt.
Doch ehrlicherweise konnte sie sich nicht erinnern, Alex jemals nach seinen Wünschen gefragt zu haben.
Sie versuchte sich selbst in einem tollen weißen Kleid zu sehen, in dem sie durch einen langen Mittelgang schritt, hatte aber immer nur Greg vor Augen, der vor der Kirche auf sie wartete. Und wenn sie sich ausmalte, mit Alex das Ehegelübde abzulegen, sah sie sich irgendwo im Freien, umgeben von Blumen, möglicherweise sogar barfuß an einem Strand. Wenn es nach ihr ginge, sollte es etwas Besonderes sein und vor allem anders als bei ihrer ersten Hochzeit. Aber auch das war etwas, was sie wollte.
Sie war schon fast an der Tür zu ihrem Büro, als sie bemerkte, dass ihre Assistentin Grace Garcia ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen versuchte. »Erde an Laurie? Bist du da?«
Sie blinzelte, und damit war sie wieder in der Realität. »Tut mir leid, ich glaube, ich bin immer noch ganz hinüber von dem Spinning-Kurs, zu dem Charlotte mich geschleppt hat.«
Grace sah sie mit ihren großen dunklen Augen an. Die langen schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Bezaubernde-Jeannie -Knoten hochgesteckt, dazu trug sie ein Wickelkleid und kniehohe Stiefel – deren lediglich sieben Zentimeter hohe Absätze nach Graces Maßstäben als flache Treter durchgingen.
»Spinning ist gerade schwer angesagt«, erwiderte Grace. »Das ganze Getöse, und die Leute in ihren abgefahrenen Klamotten, als wären sie auf der Tour de France. Meine Liebe, du bist in einem Fitness-Studio auf der 5th Avenue. «
»Es war definitiv nichts für mich. Du hast mir was gesagt, als ich noch nicht ganz hier war?«
»Genau. In der Lobby warten Besucher auf dich. Sie saßen schon da, als ich am Morgen kam. Laut der Security sind sie vor acht eingetroffen und wollten auf jeden Fall bleiben, bis du kommst.«
Laurie freute sich über den Erfolg ihrer Sendung, auf so manche Begleiterscheinungen aber hätte sie gut und gern verzichten können. Dazu gehörten Fans, die kurz mal im Studio »vorbeischauen« wollten, um sich ein Selfie oder ein Autogramm abzuholen.
»Es sind auch wirklich keine Fans von Ryan?« So populär Alex beim Publikum auch gewesen war, die jüngere Generation fand ihren jetzigen Moderator Ryan Nichols schlicht »zum Niederknien«.
»Sie wollen zu dir, keine Frage. Du erinnerst dich noch an den Fall Martin Bell?«
»Natürlich.« Einige Monate zuvor hatte Laurie gedacht, der Fall würde sich perfekt für Unter Verdacht eignen – ein renommierter Arzt wurde in der Einfahrt zu seinem Haus erschossen, nur wenige Meter von seiner Frau und seinen Kindern entfernt, die sich im Haus aufhielten.
»Seine Eltern sind im Konferenzraum B. Sie behaupten, seine Frau sei die Mörderin, und sie wollen, dass du es beweist.«