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N achdem Laurie die Bells zum Aufzug begleitet hatte, kehrte sie in ihr Büro zurück. Sie konnte es kaum erwarten, die Einzelheiten zum Mordfall Martin Bell durchzugehen. Sie erinnerte sich, wie aufgeregt sie damals gewesen war, als sie im Wust der liegen gebliebenen Fanpost auf den Brief seiner Eltern gestoßen war. Der Fall schien wie gemacht für ihre Sendung. Martin Bell galt nach allem, was man hörte, als liebevoller Vater und brillanter Arzt und stammte aus einer bekannten New Yorker Familie. Sein Vater war früher Leiter der Chirurgie am Mount Sinai gewesen und sein Großvater Generalbundesanwalt des Staates New York. Der Name Bell fand sich an mehr als nur einer Handvoll Gebäude im Bundesstaat.
Und dann wurde Martin, der geliebte Sohn, vor seinem wunderschönen Haus im Greenwich Village erschossen.
Ein hervorragender junger Arzt – und Vater –, aus dem Nichts heraus in Downtown Manhattan ermordet. Natürlich hatte sie damals an Greg denken müssen. Wie hätte es anders sein können?
Die Ähnlichkeiten zu Gregs Fall aber endeten hier bereits. Lauries Sohn Timmy war Zeuge am Mord seines Vaters geworden. Der damals Dreijährige hatte so seine Version einer Täterbeschreibung liefern können, die vor allem auf den Augen des Mörders beruhte: »Der Mann mit den blauen Augen hat meinen Daddy erschossen … der Mann mit den blauen Augen hat es getan!« Martin Bells Kinder hingegen hatten sich zur Tatzeit mit der Kinderfrau im Haus aufgehalten, niemand hatte den Mord in der Einfahrt gesehen .
Und im Unterschied zu Kendra Bell war Laurie auch niemals als Tatverdächtige eingestuft worden. Klar, man hatte ihr in den fünf Jahren, in denen der Mord an Greg unaufgeklärt blieb, gelegentlich argwöhnische Blicke zugeworfen. Für manche war in solchen Fällen automatisch der Ehepartner schuldig. Aber Lauries Vater war zu jener Zeit noch als stellvertretender Polizeichef im NYPD tätig, kein Polizist hätte es gewagt, ihr gegenüber auch nur die Andeutung eines Verdachts laut auszusprechen, solange es keine stichhaltigen Beweise dafür gab.
Kendra jedoch war von der New Yorker Boulevardpresse regelrecht durch den Fleischwolf gedreht worden. Schon vor seiner Ermordung war Martin Bell so etwas wie eine Berühmtheit gewesen. Er galt als aufstrebender Star an der neurologischen Abteilung der New Yorker Universität, bevor er seine eigene Praxis eröffnete, mit der er sich auf die Schmerztherapie spezialisierte. Er war Autor eines Bestsellers über Schmerzreduzierung mittels Homöopathie, Stressvermeidung und physikalischer Therapie und betrachtete die Verschreibung von Medikamenten sowie chirurgische Eingriffe nur als allerletztes Mittel. Greg, erinnerte sich Laurie, hatte einmal gesagt, er hätte sehr viel weniger Patienten in der Notaufnahme, wenn sich mehr Ärzte an Dr. Bells Ratschläge halten würden. Je berühmter Bell wurde, desto häufiger wurde er als Wundertäter angesehen.
Das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihm kursierte, hätte allerdings in keinem größeren Gegensatz zu dem seiner Ehefrau stehen können. Fotos wurden veröffentlicht, auf denen Kendra einen verwirrten, fast verwahrlosten Eindruck machte. Es stellte sich heraus, dass sie Stammgast in einer Kellerbar im East Village war und große Summen vom gemeinsamen Konto der Eheleute abgehoben hatte. Nach manchen Berichten soll sie zum Zeitpunkt des Mordes dermaßen weggetreten gewesen sein, dass die Kinderfrau sie nicht wachgekriegt hatte .
Schlagzeilen bezeichneten sie als »Schwarze Witwe« oder als »Junkie-Mom«, weil sie angeblich ein heftiges Drogenproblem hatte.
Nach ersten Online-Recherchen hatte Laurie Kendra in der Hoffnung kontaktiert, sie würde es begrüßen, dass ein großer TV -Sender ihr die Möglichkeit bot, der Öffentlichkeit ihre Version der Geschichte zu präsentieren. Laurie gefiel der Gedanke, ihre Sendung könnte den Angehörigen und Freunden des Mordopfers helfen, die Tragödie endlich hinter sich zu lassen. Sie half jedenfalls denen, deren Leben in der Schwebe hing, die zwar niemals verhaftet oder eines Verbrechens angeklagt wurden, aber den argwöhnischen Blicken nicht entkamen. Und würden Kendras Kinder, wenn sie älter wurden, nicht erfahren wollen, wer ihren Vater umgebracht hatte? Sollten die Kinder denn nicht mit absoluter Sicherheit wissen, dass ihre Mutter keine Schuld traf? Laurie jedenfalls wusste noch sehr genau, wie verzweifelt sie sich in Gregs Mordfall nach Antworten gesehnt hatte.
Als aber Laurie vier Monate zuvor Kendra zu Hause besucht hatte, damit sie die Teilnahmeerklärung unterzeichnete, hatte die Witwe zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse daran habe. Sie hatte sämtliche Gründe vorgebracht, die Laurie in solchen Fällen immer zu hören bekam: Sie wolle die Polizei nicht gegen sich aufbringen, weil eine Fernsehsendung bei ihren Recherchen womöglich weiterkäme als die Ermittlungsbehörden. Sie habe endlich Arbeit gefunden und sich ein neues Leben ohne Martin aufgebaut und fürchte nun, dass ihr aufgrund der erneuten Aufmerksamkeit nur abermals der Zorn der Öffentlichkeit entgegenschlage. Vor allem aber seien ihre Kinder mittlerweile alt genug, um mitzubekommen, dass ihre Mutter im Fernsehen auftrete. »Ich will nicht, dass sie das alles durchmachen müssen, solange Sie mir nicht absolut garantieren können, dass Sie den Mörder meines Mannes finden. «
Dieses Versprechen konnte ihr Laurie natürlich nicht geben.
Das alles klang äußerst vernünftig.
Jetzt aber war Laurie im Besitz neuer Informationen.
Sie fand Grace in Jerry Kleins Büro, das gleich neben dem ihren lag. Manchmal vergaß Laurie glatt, dass Jerry in seiner Anfangszeit im Studio ein schüchterner, etwas linkischer Praktikant gewesen war. Mittlerweile war er Lauries Produktionsassistent, und sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte.
»Grace hat mir gerade erzählt, dass Martin Bells Eltern heute Morgen hier aufgetaucht sind«, sagte Jerry.
Laurie war anscheinend nicht die Einzige, die sich noch an den Fall erinnerte.
»Wir hatten ein überaus interessantes Gespräch«, erzählte Laurie. »Sie scheinen zu glauben, dass Kendra es gar nicht erwarten kann, in der Sendung aufzutreten. Anscheinend hat sie ihnen gegenüber gesagt, dass ich diejenige sei, die den Fall abgelehnt hat.«
Jerry und Grace, wie immer Lauries eifrigste Fürsprecher, bestätigten sofort, wie begeistert sie sich damals gezeigt hatte.
»Warum sollte Kendra Bell also diesbezüglich lügen?«, fragte Jerry.
»Genau das möchte ich herausfinden.«
Erst jetzt bemerkte Laurie, dass der Moderator der Sendung, Ryan Nichols, an Jerrys Tür lehnte. Er platzte gern unangekündigt in ihre Treffen und hatte überhaupt eine Art, die Laurie hin und wieder ziemlich auf die Nerven ging.
»Was wollen wir herausfinden?«, fragte er jetzt.
Laurie musste sich immer wieder seine Qualifikationen ins Gedächtnis rufen, die durchaus für sich sprachen: Magna-cum-laude-Abschluss an der juristischen Fakultät in Harvard, danach Anstellung am Obersten Gerichtshof, schließlich eine angesehene Stelle als Bundesstaatsanwalt. Zu Lauries Bedauern hatte er dann aber beschlossen, dass ihn seine unzweifelhafte juristische Begabung auch für eine Fernsehkarriere befähige, obwohl er auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung vorweisen konnte. Laurie hingegen hatte dagegen eine Ausbildung als Journalistin durchlaufen und sich anschließend zur Produzentin hochgearbeitet.
Ryan hatte lediglich ein paar Auftritte als Nachrichtensprecher, bevor er seine Vollzeitstelle für ihren Sender antrat. Neben seiner Arbeit als Moderator für Unter Verdacht fungierte er als Rechtsbeistand für andere Sendungen und hatte auch die eine oder andere Idee für ein eigenes Format, wobei ihm ein gutes Aussehen in der Fernsehbranche sicherlich zugute kam. Er hatte blonde Haare, große grüne Augen und ein umwerfendes Lächeln – und natürlich gehörte zu seinen Ideen ausnahmslos, dass er vor der Kamera stand. Richtig störte sich Laurie aber an Ryans Unwillen, wahrhaben zu wollen, dass sein großer Karriereschub hauptsächlich der engen Freundschaft zwischen seinem Onkel und Lauries Chef Brett Young geschuldet war. Brett war im Allgemeinen nur schwer zufriedenzustellen, in seinen Augen wurde aber alles, was Ryan anfasste, zu Gold. Trotz Ryans offizieller Funktion als »Moderator« verlangte Brett von Laurie, dass sie Ryan in alle Abläufe der Produktion mit einband.
»Wir haben gerade über den Martin-Bell-Fall gesprochen«, sagte Laurie. »Der Arzt, der in seiner Einfahrt im Greenwich Village erschossen wurde.«
Laurie hatte Ryan nicht mit einbezogen, als sie im vergangenen Herbst erste Recherchen dazu angestellt hatte.
»Ach, ja. Es war doch wohl die Ehefrau, oder? Der Fall wäre perfekt für uns.«
Er sagte das in einem Ton, als wäre er der Erste gewesen, als wäre vor ihm noch keiner auf die Idee gekommen.
Grace und Jerry tauschten einen genervten Blick aus. Ihr Ärger auf Ryan war mit der Zeit nicht weniger geworden, während Laurie Ryans Rolle allmählich für sich akzeptieren konnte – so unverhältnismäßig groß sie auch sein mochte.
»Ich hatte mit Kendra – das ist die Ehefrau – um Thanksgiving herum einige Gespräche, aber sie wollte nichts von der Sendung wissen.«
»Weil sie schuldig ist«, entgegnete Ryan selbstgefällig.
Am liebsten hätte Laurie ihn gefragt, wie oft er sich erst irren musste, bevor er einmal unvoreingenommen an einen ihrer Fälle herangehen würde. »Na ja, zu der Zeit schien es ihr vor allem wichtig gewesen zu sein, die Privatsphäre ihrer Kinder zu schützen. Jetzt aber habe ich den Eindruck, dass sie ihren Schwiegereltern etwas anderes erzählt hat.« Sie fasste ihr Gespräch mit den Bells kurz zusammen. »Ich habe vor, sie heute, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, zu überraschen. Möchtest du vielleicht mitkommen? Du kannst dann ja den guten Bullen spielen.«
»Um wie viel Uhr?«
»Um fünf, spätestens. Wir dürfen nicht zu spät kommen.« Alex’ Amtseinführung als Bundesrichter war auf 18.30 Uhr angesetzt, und Laurie würde um nichts in der Welt auch nur eine Minute davon verpassen wollen.
»Klingt gut«, erwiderte er. »Ich lese mich in den Fall noch ein.«
Nachdem Ryan fort war, sahen Jerry und Grace zu Laurie, als hätten sie gerade miterleben dürfen, wie die Capulets und Montagues ewigen Frieden schlossen.
»Was?«, fragte Laurie mit einem Schulterzucken. »Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, hat mich Kendra bei unserem letzten Treffen angelogen. Es kann also nicht schaden, wenn ich einen ehemaligen Staatsanwalt dabei habe.«
Als Laurie in ihr Büro zurückkehrte, wurde ihr mal wieder bewusst, dass sie Ryan nur eines vorwerfen konnte: dass er nicht Alex Buckley war, Ryans Vorgänger als Moderator der Sendung. Aber jetzt waren sie und Alex verlobt, er fehlte ihr nicht mehr bei der Arbeit. Jetzt würde sie immer mit ihm zusammen sein. Da sollte sie Ryans Unzulänglichkeiten locker ertragen.