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aroline ermahnte Bobby, dass die fünf Minuten, die sie ihm für sein Videospiel gegeben hatte, längst abgelaufen seien. Er vollführte noch einige letzte Bewegungen in seinem Kart-Racing-Game, bevor er ihrer Aufforderung nachkam.
Er reichte ihr das Tablet und gesellte sich zu seiner Schwester, die auf dem Sofa saß und mit einem Puzzle beschäftigt war, das sie bereits Dutzende Male zusammengesetzt hatte. Die beiden Geschwister waren immer schon sehr unterschiedlich gewesen. Bereits als Kleinkind schien Mindy in ihrer eigenen Welt zu versinken, während ihr Bruder Bobby immer unterhalten werden wollte.
Als sie am Fenster vorbeikam, bemerkte sie eine Handvoll Touristen, die sich auf den Bürgersteig drängten und die leere Einfahrt in Augenschein nahmen. Ihr Führer war ein schlaksiger Typ, der seine langen Haare zu einem kleinen Dutt gebunden hatte. Wie immer trug er schwarze weite Kleidung und leuchtend orangefarbene Tennisschuhe. Seit nunmehr fast vier Monaten kam er zweimal in der Woche vorbei. Er nannte seine Exkursionen die »Big Apple Verbrechertour«.
Caroline hatte einmal mit ihm zu reden versucht und ihn daran erinnert, dass im Haus ein siebenjähriges Mädchen und ein neunjähriger Junge lebten. Der Ort gehöre nicht auf eine Liste berüchtigter Tatorte – anders als diverse Mafia-Kneipen oder die Stelle, wo eine Frau nach dem Sprung aus dem Empire State Building zu Tode gekommen war, oder das Hotel, wo ein Punk-Rock-Star seine Freundin ermordet hatte
.
Aber der Führer hatte die Touristen damals lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass Caroline die Kinderfrau war, die nach Martin Bells Ermordung die Polizei gerufen hatte. Sofort war sie um Autogramme und Selfies gebeten worden.
Wenn jetzt wieder die Touristen auftauchten, zog Caroline einfach die Vorhänge zu. Einziger Trost war, dass seine Gruppen ständig kleiner zu werden schienen. Einmal hatte sie sogar auf einer beliebten Touristen-Website eine vernichtende Kritik gepostet.
Wenn, dann bin ich den Kindern gegenüber loyal
, dachte sie mit Blick auf Bobby und Mindy, die das Puzzle zerlegten, um wieder von vorn beginnen zu können.
Sie schälte gerade einen Apfel, den es zusammen mit Käse als Nachmittagssnack geben sollte, als das Telefon klingelte.
Sofort war sie alarmiert, als sich die Anruferin vorstellte. Caroline hatte immer gewusst, dass sie von Laurie Moran nicht zum letzten Mal gehört hatte.
»Spreche ich mit Kendra Bell?«, fragte die Produzentin.
»Nein. Mrs. Bell ist in der Arbeit.«
»Verstehe. Sie sind nicht zufällig Caroline Radcliffe?«
»Doch.«
»Vielleicht erinnern Sie sich noch, wir haben uns vor einigen Monaten kurz gesehen. Ich habe mich mit Kendra Bell getroffen.«
Wie konnte ich das vergessen?
, dachte Caroline. Mit klopfendem Herzen hatte sie oben an der Treppe gelauscht, obwohl sie Bobby und Mindy bei ihren Hausaufgaben hätte beaufsichtigen sollen.
Mach es nicht, mach es nicht,
hatte sie im Stillen gefleht und dabei die Finger gekreuzt, als könnte sie Kendra im Wohnzimmer telepathisch ihre Botschaft übermitteln. Und wie erleichtert war sie, als Kendra dann alle möglichen Gründe aufführte, die gegen eine Teilnahme sprachen
.
»Natürlich erinnere ich mich. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Caroline.
»Ich glaube nicht. Wissen Sie, wie ich sie erreichen kann?«
»Mrs. Bell will während der Arbeit nicht gestört werden. Selbst ich rufe sie nur in Notfällen an.«
»Um wie viel Uhr erwarten Sie sie heute Abend zurück?«
»Sie arbeitet normalerweise bis fünf. Aber dann will sie mit den Kindern zu Abend essen und mit ihnen noch Zeit verbringen, bevor sie ins Bett müssen. Sie ist sehr beschäftigt. Sagen Sie mir doch, worum es geht, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
»Nein. Es ist wichtig, dass ich mit Mrs. Bell persönlich spreche.«
Die Bells würden nie Ruhe geben. Natürlich nicht. Ihr Sohn war ermordet worden. Seit Monaten bekam sie mit, wie Kendra sich ihrer Fragen erwehren musste. Kommt die Sendung endlich zustande? Warum brauchen sie so lange, bis sie eine Entscheidung treffen?
Es war nicht schwer gewesen, sich während der Ferien etwas Zeit zu erkaufen, aber in den vergangenen zwei Monaten waren sie immer hartnäckiger geworden. Letzte Woche schließlich hatte Kendra ihnen – fälschlicherweise – erzählt, dass die Produzenten zu dem Schluss gekommen seien, der Fall passe nicht in die Sendung.
Und jetzt rief die Produzentin erneut an. Das war nicht gut.
»Ich kann mir Ihre Nummer notieren und Mrs. Bell ausrichten, dass Sie angerufen haben«, bot Caroline an.
Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie aus dem Fenster. Die Touristen waren verschwunden. Dennoch ließ sie die Vorhänge geschlossen, voller Angst, dass sie die Außenwelt nicht davon abhalten konnte, unwiderruflich in dieses Haus einzudringen.
Kendra war damals in einem so üblen Zustand. Bitte, Gott, sag mir, dass sie es nicht war.