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D
ie Remise wirkte genau so, wie Laurie sie vom vergangenen Herbst in Erinnerung hatte, sah man von den blühenden, blassrosafarbenen Pfingstrosen in den Blumenkästen vor den Fenstern ab.
Ryan stieß einen leisen Pfiff aus, als sie aus dem schwarzen Uber-SUV
stiegen, den sie für die Fahrt nach Downtown angemietet hatten. »Hübsches Haus«, sagte er. »Mit Privatgarage und allem. Wenn ich mir so was leisten könnte, würde ich mir auch den Porsche zulegen, von dem ich immer träume. Hat doch keinen Sinn, sich sein Traumauto zu leisten, wenn einem die anderen in der Parkgarage ständig Dellen reinfahren.«
Laurie lächelte. Sie hatte ein nettes Gehalt, mit dem sie sich die völlig ausreichende Dreizimmerwohnung für sich und Timmy leisten konnte, außerdem trug Gregs Lebensversicherung dazu bei, dass sie als alleinerziehende Mutter in New York gut über die Runden kam. Jetzt aber, da sie und Alex heiraten wollten, sprachen sie von einer größeren Wohnung. Dabei hatte sie das Gefühl, dass alles, was für sie infrage käme, Ryan wahrscheinlich höchstens als »ganz hübsch« bezeichnen würde.
Die Kinderfrau, die an die Tür kam, machte aus ihrer Verärgerung keinen Hehl.
»Ich sagte Ihnen doch, ich würde Mrs. Bell Ihre Nachricht ausrichten«, kam es mürrisch von ihr.
Laurie hätte einiges darauf gewettet, dass Caroline die Nachricht noch nicht weitergeleitet hatte. Die Frau war Anfang bis
Mitte sechzig, wirkte aber sehr jugendlich. Sie hatte ihre grau-braunen Haare zu Locken gelegt und versteckte ihre massige Statur unter einem übergroßen blauen Hauskleid. »Wir tragen gerade das Abendessen auf.«
Ein wunderbarer Geruch nach Knoblauch und Butter wehte von drinnen heran. »Das duftet ja köstlich«, sagte Laurie. »Ich möchte Mrs. Bell auch gar nicht lange aufhalten. Aber wie gesagt, es ist wichtig. Ich habe auch meinen Kollegen mitgebracht, Ryan Nichols. Sie kennen ihn vielleicht aus unserer Sendung.«
Laurie hatte gehofft, dass Ryans Anblick Kendras offensichtlich äußerst fürsorgliche Kinderfrau beeindrucken würde. Die meisten Menschen brachen in helle Begeisterung aus, wenn sie vor jemanden standen, der auch nur entfernt als »berühmt« galt. Caroline Radcliffe gehörte eindeutig nicht dazu. Sie starrte Ryan nur mit kaltem Blick an, offensichtlich alles andere als beeindruckt.
»Caroline, alles in Ordnung?« Die Stimme kam aus dem Haus.
Caroline wollte schon die Tür schließen, als Laurie Kendra Bell erhaschte, die nun doch anscheinend auf dem Weg zur Haustür war. »Kendra, hier ist Laurie Moran. Ihre Schwiegereltern haben mich heute besucht. Es scheint mir ein Missverständnis vorzuliegen.«
Caroline schüttelte nur den Kopf, als Kendra an der Haustür erschien. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht interessiert bin«, sagte Kendra.
»Ich weiß«, erwiderte Laurie. »Ich akzeptiere Ihre Entscheidung auch. Aber anscheinend haben Sie Martins Eltern erzählt, dass ich mich gegen den Fall entschieden hätte. Ich habe kein Problem, ihnen die Wahrheit zu sagen – dass Sie sich vor einigen Monaten unmissverständlich gegen eine Teilnahme ausgesprochen haben –, aber ich dachte mir, ich sollte Ihnen vorher die Möglichkeit einräumen, sich dazu zu äußern.
«
Kendra war sichtlich hin- und hergerissen. Sie wollte Laurie und Ryan nicht bei sich im Wohnzimmer haben, aber sie wollte auch nicht, dass Martins Eltern von Laurie die Wahrheit zu hören bekamen.
Sie öffnete die Tür und ließ sie herein.
Kendra trug noch ihre Arztpraxiskleidung – einen dunkelblauen Laborkittel über schwarzem Rollkragenpullover. Ihre schulterlangen, dunkelbraunen Haare waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Bei der Ermordung ihres Mannes war Kendra vierunddreißig gewesen, das hieß, sie musste mittlerweile neununddreißig sein. Allerdings wirkte sie älter. Die Falten auf der Stirn zeugten von Stress, und aus ihren dunklen Augen sprach eine unergründliche Traurigkeit. Dennoch sah sie um einiges attraktiver aus als die derangierte Frau, als die die Medien sie nach dem Mord dargestellt hatten. Laurie fragte sich, ob sie nach Gregs Tod ebenso ausgesehen hatte – damals, als sie sich noch nicht eingestanden hatte, dass sie wieder glücklich sein durfte.
Nachdem Laurie Ryan vorgestellt hatte, führte Kendra sie ins Wohnzimmer und bat Caroline, die letzten Vorbereitungen für das Abendessen zu übernehmen. Laurie wusste, dass die Kinderfrau lauschen würde, ganz egal, wo im Haus sie sich aufhielten.
»Man lässt Sie als Ärztin arbeiten?«, platzte Ryan heraus.
Laurie und Ryan hatten auf der Fahrt ins Village in groben Zügen über den Mord an Martin Bell gesprochen, Laurie hatte ihn allerdings nicht über die gegenwärtige Situation der Witwe ins Bild gesetzt.
»Ganz gewiss nicht«, räumte sie ein, »höchstwahrscheinlich, weil viele genau so reagieren würden wie Sie. Aber danke, dass Sie mich an mein Medizinstudium erinnern. Die Medien nach Martins Tod … nun, Sie erinnern sich sicherlich, in welcher Art
und Weise über mich berichtet wurde. Als wäre ich irgendeine Drogenabhängige auf der Straße.«
Laurie sah Ryan mahnend an. Er sollte eigentlich die Rolle des guten Bullen übernehmen, was man bislang nicht gerade behaupten konnte.
»Sie haben sich während des Studiums kennengelernt?«, fragte Ryan dann in einem sehr viel versöhnlicheren Ton.
»Ja«, antwortete Kendra mit traurigem Lächeln. »Martin hat allen immer gern erzählt, wie wir uns kennengelernt haben.«
Kendra, wusste Laurie, mochte die Geschichte ebenso wie ihr Mann, denn sie hatte ihr schon bei ihrem ersten Telefonat davon berichtet. Laurie hatte Ryan gebeten, Kendra darauf anzusprechen, hatte aber erwartet, dass er etwas feinfühliger vorgehen würde.
»Ich war in meinem letzten Studienjahr an der Stony Brook University auf Long Island. Martin war Gastdozent in meinem Seminar zur Physikalischen Medizin und Rehabilitation. Nach der Hälfte seines Vortrags war … finito. Seine Powerpoint-Präsentation war einfach tot. Der berühmte Arzt, der in Today
und in Good Morning America
auf alles immer eine Antwort hatte, war mit einem Mal sprachlos. Er und der Professor fummelten am Laptop herum. Martin erzählte mir später, dass er vollkommen panisch war. Er hatte kaum noch Zeit für den Rest seines Vortrags, für den er unbedingt eine Reihe komplexer Daten benötigte, die er in zwei Tabellen zusammengefasst hatte. Laut seinen Worten – und daran habe ich so meine Zweifel – sei ich ›selbstbewusst und anmutig‹ durch den Mittelgang des Vorlesungssaals nach vorn geschritten, hätte ihm ganz ruhig die Fernbedienung aus der Hand genommen, die Batterien aus dem Fach gelöst und neue eingelegt. Ich wusste, es gab immer welche im Schrank, der im Saal stand. Dann bin ich auf meinen Platz zurückgekehrt. Eine Kleinigkeit eigentlich, aber Martin hat in diesem Moment beschlossen, dass ich etwas ganz Besonderes sei.
«
Sie sah auf den Beistelltisch hinab, als würde sich eine ganz andere Szene vor ihren Augen abspielen. »Und jetzt schauen Sie sich an, was daraus geworden ist«, sagte sie traurig. »Nein, ich bin keine Ärztin. Ich habe zwar das Studium abgeschlossen und meine Assistenzzeit begonnen, in der Pädiatrie an der NYU
. Aber Martin wollte sofort eine Familie gründen, und ich war auch schon fast dreißig. Ich hätte auf alle hören sollen, die mir gesagt haben, es wäre zu viel auf einmal. Trotzdem habe ich mich mit Feuereifer in dieses neue Leben gestürzt, mittlerweile ist mir bewusst, wie jung ich damals noch war. Nachdem Bobby dann auf der Welt war, fühlte ich mich so … erschöpft. Die ganze Zeit. Und abgelenkt. Es muss in der Arbeit aufgefallen sein, denn bald darauf wurde ich von den Chefärzten dazu ›ermutigt‹« – sie malte mit den Fingern die Anführungszeichen in die Luft –, »mir eine einjährige Auszeit zu gönnen. Und dann, bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich erneut schwanger. Und als neben Bobby auch noch Mindy da war, beschloss Martin, dass es für die Kinder das Beste wäre, wenn ich ganz zu Hause bliebe. Wie meine Schwiegermutter immer so gern sagte: ›Ein vielbeschäftigter Arzt ist für eine Familie mehr als genug.‹«
Aus früheren Gesprächen wusste Laurie, dass Kendra in ihrer Entscheidung, auf eine Laufbahn als Ärztin zu verzichten, den Grund für den späteren Niedergang sah. Aber das alles spielte keine Rolle, solange Kendra nicht ihre Meinung änderte und an Unter Verdacht
teilnahm.
Verstohlen sah Laurie auf die Uhr. Sie waren bereits zehn Minuten im Haus und hatten noch nicht mal das eigentliche Thema angesprochen. Sie durfte auf keinen Fall zu Alex’ Amtseinführung zu spät kommen.
»Dann arbeiten Sie also immer noch in der Praxis Ihres Bekannten?«, fragte Laurie, um die Geschichte voranzutreiben.
»Ja«, sagte Kendra. »Wahrscheinlich finde ich niemanden mehr, der mich noch als Assistenzärztin nimmt, damit ich die
Ausbildung zur Fachärztin abschließen kann. Gott sei Dank ist mir ein Freund aus dem Studium geblieben, Steven Carter. Alle anderen tun so, als hätte es mich nie gegeben, er aber hat sich weit aus dem Fenster gelehnt und mich als Assistenzärztin übernommen. Die Arbeit tut mir gut. Und auch für die Kinder ist es gut, wenn sie mich arbeiten sehen.«
In den Jahren vor Martins Tod hatte sich Kendra nicht unbedingt durch harte Arbeit hervorgetan. Laut Martin, seinen Eltern und selbst ihren eigenen Freunden war Kendra »nicht mehr dieselbe« gewesen, nachdem sie den Plan aufgegeben hatte, als Ärztin zu arbeiten. Was wie ein vorübergehender Durchhänger nach der Geburt ihrer beiden Kinder ausgesehen hatte, wuchs sich zu einer vollständigen Persönlichkeitsveränderung aus, vor allem, nach dem Tod ihrer Mutter. Diese war bei einem Autounfall nachts auf der Rückfahrt nach Long Island ums Leben gekommen, nachdem sie bei der mit den Kleinkindern überforderten Kendra ausgeholfen hatte. In der Zeit hatte Kendra ihren Mann kaum noch zu gesellschaftlichen und akademischen Anlässen begleitet, und wenn doch, hatte sie auf andere verstört und reizbar gewirkt. Man hatte gemunkelt, sie hätte ein ernstes Alkoholproblem. »Der arme Martin« und »er muss wegen der Kinder bleiben« war oft zu hören gewesen, wenn die Rede auf Kendra kam.
Tatsächlich hatte die Kinderfrau an dem Tatabend Kendra erst wachrütteln müssen, bevor sie die Polizei rief.
»Ich weiß, Sie wollen zu Ihrem Abendessen«, sagte Laurie, der die Zeit davonlief. »Ich möchte daher unumwunden auf den Grund unseres Besuchs zu sprechen kommen. Sie haben Martins Eltern gesagt, ich hätte den Fall Ihres Mannes abgelehnt. Das aber ist definitiv falsch. Für uns sieht es daher so aus, als hätten Sie etwas zu verbergen, Kendra.«
»Ich habe nichts zu verbergen. Sie wissen das. Ich versuche nur mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Ich will meine
Kinder großziehen. Ich will arbeiten. Wenn das alles wegen dieser Sendung wieder aufgewühlt wird, würden meine Kinder und ich es nicht verkraften. Das habe ich Ihnen doch alles schon erklärt.«
»Warum sagen Sie das dann nicht auch Ihren Schwiegereltern?«
»Sie würden es nicht verstehen. Jahrelang haben sie versucht, Kinder zu bekommen, Martin war für sie daher von Anfang an das absolute Wunschkind gewesen – und mit einem Mal war er tot. Sie haben keinerlei Verständnis für mich. Sie sehen in mir nur seine Mörderin. Haben Sie eine Ahnung, wie schrecklich das ist? Meine eigenen Eltern sind schon tot. Martin und seine Eltern waren die einzige Familie, die ich hatte. Aber jetzt hassen sie mich. Sie sind völlig besessen davon, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Sie lassen nicht locker.«
Sie war den Tränen nahe. »Bitte«, bat sie inständig, »sagen Sie ihnen nicht, dass die Sendung meinetwegen nicht zustande kommt.«
Böser Bulle
, redete Laurie sich ein. Du gibst den bösen Bullen. Und du darfst auf keinen Fall zu spät zum wichtigsten Abend in der Karriere deines Verlobten kommen.
»Ausgeschlossen, dass ich Ihren Schwiegereltern das verschweige«, erwiderte Laurie. »Immerhin waren sie es, die mir einen Brief geschrieben und mich überhaupt erst auf Martins Fall aufmerksam gemacht haben. Ich kann Ihren Wunsch durchaus nachvollziehen, aber Gleiches gilt auch für die Wünsche Ihrer Schwiegereltern.«
»Sie werden es gegen mich ins Feld führen, dass ich ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe. Die beiden können es doch gar nicht erwarten, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen«, sagte sie und senkte die Stimme. »Sie haben Geld. Und Einfluss. Sie werden einen Richter finden, der ihnen wohlwollend gegenübersteht. Bitte, sagen Sie mir, was ich tun soll.
«
»Das ist nicht meine Aufgabe«, entgegnete Laurie. »Aber Sie haben mich in Ihr Täuschungsmanöver mit hineingezogen. Ich müsste Martins Eltern anlügen, wenn ich dieses Missverständnis nicht aufklären würde. Ich werde sie morgen anrufen und ihnen erläutern, warum es mit der Sendung nicht weitergeht.«
»Oder«, mischte sich nun Ryan ein, »Sie nehmen einfach an der Sendung teil.«
Erschreckt sah Kendra zu ihm.
»Wenn Sie mitmachen«, erklärte er, »würden Ihre Schwiegereltern nie zu erfahren brauchen, dass Sie sie in die Irre geführt haben. Wir beginnen mit der Produktion, und das war es dann.«
Kendras Blick ging ins Leere, als sie ihre Möglichkeiten überdachte. Dann sagte sie widerstrebend: »Gut, ich mache mit. Wie gesagt, ich habe nichts zu verbergen. Aber ich will nicht, dass meine Kinder in die Sendung kommen.«
»Natürlich«, antwortete Ryan und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
»Oder dass meine Arbeitsstelle erwähnt wird«, sagte sie. »Steven hat einiges auf sich genommen, als er mich eingestellt hat. Ich will nicht, dass er Drohanrufe oder Schlimmeres bekommt.«
Sie versicherten ihr, dass das nicht der Fall sein würde. Dennoch bat Kendra um eine schriftliche Bestätigung. Laurie fügte den entsprechenden Passus unten an ihre übliche Teilnahmeerklärung an und reichte ihr das Formular zum Unterschreiben, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.
»Ach, übrigens«, sagte Kendra, als sie das Blatt zurückgab, »ich habe über den neuen Bundesrichter gelesen. Im Artikel wurde erwähnt, dass er seit Kurzem verlobt ist – mit Ihnen, wenn ich das richtig verstanden habe. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke«, antwortete Laurie, die sich etwas überrumpelt
fühlte. »Ich muss jetzt auch gleich zum Gericht. Er wird heute Abend in seinem neuen Amt vereidigt.«
Als Laurie in den Uber-Wagen stieg, plagten sie dann doch Gewissensbisse. Vielleicht sagte Kendra die Wahrheit, vielleicht war sie wirklich nur um die Privatsphäre ihrer Kinder besorgt. Aber dann rief sich Laurie ins Gedächtnis, dass Kendra zu einer Lüge bereit gewesen war, solange es ihren eigenen Interessen diente.
Außerdem war Kendra nicht die Einzige, die einen Verlust erlitten hatte. Cynthia und Robert Bell hatten ihren Sohn verloren, sie waren auf Laurie zugekommen, damit ihm Gerechtigkeit zuteilwürde.
Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie ihnen helfen konnte: indem sie herausfand, wer Martin Bell getötet hatte und warum.