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K
aum hatte Kendra die Eingangstür zugesperrt, als sie hinter sich Caroline hörte.
Anfangs, als die Kinderfrau von Martin angestellt wurde, hatte Kendra sie überhaupt nicht gemocht. Ihr war es so vorgekommen, als wäre die Entscheidung, ihre Arbeit aufzugeben und als Mutter zu Hause zu bleiben, ohne ihr Zutun getroffen worden. Es war noch nicht einmal eine bewusste Entscheidung
gewesen. Es war einfach so … passiert. Eines Tages war sie früher von der Arbeit nach Hause gegangen, als die ersten Wehen einsetzten – wahrscheinlich falscher Alarm, hatte sie noch gedacht. Dann hatte sie auf der Entbindungsstation einen großen Blumenstrauß von ihren Krankenhauskollegen bekommen. Bis in drei Monaten dann, Mommy!
, hatte auf der beigelegten Karte gestanden. Sie kam dann wie geplant zurück, blieb aber keine vier Wochen mehr. Sie redete sich ein, sich nur bis zum Ende des Ausbildungsjahres eine Auszeit zu genehmigen. Im Herbst würde sie wieder einsteigen. Aber dann wurde sie mit Mindy schwanger, und mit einem Mal schien es ihr unmöglich, weiter als Ärztin zu arbeiten.
Als Mindy eineinhalb war, rief sie im Krankenhaus an und bewarb sich erneut um eine Stelle. Verglichen mit den nicht enden wollenden Bedürfnissen zweier Kleinkinder erschien ihr die aufreibende Arbeit einer Assistenzärztin geradezu als Zuckerschlecken. Aber dann stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Ausbildung nicht mehr auf dem neuesten Stand war. Sie hätte einige Seminare nachholen müssen, um erneut als Assistenzärztin
arbeiten zu können. Währenddessen wurden Martin und seine Eltern nicht müde, sie darauf hinzuweisen, dass Martin, das »Wunderkind«, von einer nicht berufstätigen Mutter aufgezogen worden war. Wie hasste sie es, wenn Cynthia Martin auf den Arm patschte, ihn bewundernd ansah und sagte: »Ein vielbeschäftigter Arzt ist für eine Familie mehr als genug.«
Natürlich hast du von mir immer erwartet, dass ich dich anbete
, dachte Kendra. Sie hatte weiß Gott eine Menge versucht, um ihn zufriedenzustellen.
Am Anfang war ihr das Leben mit Martin wie ein wahr gewordenes Märchen erschienen. Sie hatte damals nach jener Vorlesung mit Steven den Saal verlassen, und Martin hatte sie entdeckt und ihr für ihre Hilfe bei seinem Computerproblem gedankt. »Der gute Doktor scheint ja ganz hin und weg zu sein«, hatte Steven danach gesagt. Die Fantasie gehe mit ihm durch, hatte sie Steven geantwortet, aber insgeheim gewusst, dass er recht hatte. Martins Worte waren dem Anlass angemessen gewesen – zurückhaltend, professionell, dankbar –, in seinem Ton aber hatte ein Erstaunen mitgeschwungen, als wäre ihm bewusst gewesen, dass diese Begegnung ihrer beider Leben verändern könnte.
Später erzählte ihr Martin, dass er sogar bei der Universitätsleitung nachgefragt habe, um keinesfalls gegen irgendwelche internen Leitlinien zu verstoßen, falls er sich mit einer jungen, aufstrebenden, intelligenten Kinderärztin verabredete, die er als Gastdozent kennengelernt hatte. Als er sich dann bei ihr meldete und dazu einlud, sie zu einem medizinischen Vortrag in der Stadt zu begleiten, hatte sie seinen Anruf bereits erwartet. Und beim Essen an jenem Abend sagte er ihr, dass sie auf jeden Fall in New York City eine Stelle als Assistenzärztin annehmen solle. »Wie soll ich Sie denn sonst dazu bringen, sich in mich zu verlieben, wenn Sie am anderen Ende des Landes sitzen?
«
Wie hatte sie sich angestrengt, ihn glücklich zu machen. Gleich nach ihrem Abschluss wollte er sie heiraten, dann wollte er ein Kind, dann ein zweites, und sie machte alles mit. Und dann wollte er, dass seine junge, aufstrebende, intelligente Kinderärztin als Hausfrau und Mutter zu Hause blieb.
Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter sich auf ihre Seite stellen würde. Kendras Vater war Klempner gewesen und hatte nach den Maßstäben des Suffolk County ganz anständig verdient, ihre Mutter hatte als Friseurin gearbeitet und zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen. Nach ihrem ersten Studienjahr war ihr Vater allerdings an einem Herzinfarkt gestorben und hatte sie und ihre Mutter mit einem gewaltigen Schuldenberg an Studiengebühren zurückgelassen. Ihre Mutter hatte daraufhin in zwei Salons gearbeitet – in dem einen tagsüber, im anderen abends –, damit Kendra ihre Ausbildung beenden konnte.
Statt sie darin zu bestärken, ihren Traum zu verwirklichen und als Ärztin zu arbeiten, hatte ihre Mutter nur gemeint, dass sie tun solle, was sie für richtig halte. »Es ist doch ein großes Glück, dass du diese Wahl hast«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ich hatte sie nicht. Wie gern wäre ich mit dir zu Hause geblieben. Du hast nur ein Leben, Liebes. Egal, welchen Weg du einschlägst, er wird der richtige sein.«
Also gab sie nach. Sie redete sich ein, dass sie nicht zwingend arbeiten müsse. Bobby und Mindy würden in den Genuss sämtlicher Privilegien kommen, die ihr selbst immer verwehrt gewesen waren – Privatschulen, das Aufwachsen in New York City, die weitreichenden Beziehungen von Martins Eltern. Und sie musste dazu nur zu Hause bleiben und sie großziehen.
Ich hab’s versucht
, dachte Kendra jetzt. Ich hab versucht, so zu sein, wie Martin mich wollte. Aber das Selbstvertrauen, die Anmut, die er im Vorlesungssaal an mir wahrgenommen hatte, übertrug sich nicht auf das Haus – wo ich Ehefrau und Mutter war
.
Die Kinder hatten sie auf eine Art ausgelaugt, wie das Medizinstudium es nicht vermochte. Im Rückblick wurde ihr klar, dass sie an einer postpartalen Depression gelitten hatte. Ihre Mutter fuhr zweieinhalb Stunden pro Wegstrecke, um ihr an ihren wenigen freien Tagen zu helfen. Dann ereignete sich der Autounfall. So hieß es offiziell. Ein Unfall. Aber Kendra wusste, was wirklich geschehen war. Ihre übermüdete Mutter – die keinen Schlaf bekommen hatte, weil sie ihrer übermüdeten Tochter helfen wollte – war am Steuer eingeschlafen.
Kendra war tiefer in die Dunkelheit eingetaucht. Martin hatte ihr noch nicht einmal die Möglichkeit gelassen, sich unter mehreren Bewerberinnen jemanden auszusuchen, als er Caroline ins Haus holte.
»Es ist doch so«, hatte er verkündet. »Du bist ein Wrack. Und ein Wrack hat kein Mitbestimmungsrecht.« In diesem Augenblick hätte sie ihn am liebsten umgebracht. Sie hatte von ihm frei sein wollen.
Jetzt, fünf Jahre später, gehörte die Frau, gegen die sie früher eine so tiefe Abneigung empfunden hatte, im Grunde zur Familie.
»Diese Frau hat deine schlimmsten Ängste ausgenutzt«, sagte Caroline. »Tut mir leid, ich habe zwangsläufig alles mit angehört.«
Kendra wusste, wie hellhörig die alte Remise war. Natürlich hatte Caroline alles mitbekommen.
»Vielleicht könnten Bobby und Mindy ihren Großeltern beim nächsten Besuch einige besonders ungesunde Leckereien mitbringen«, sagte Kendra. »Die beiden Alten können doch nicht ewig leben.«
So eine böse Bemerkung hätte sie sonst kaum jemandem gegenüber fallen lassen, aber Caroline hatte selbst miterlebt, wie schrecklich die Bells sich ihr gegenüber benahmen. Außerdem hatte sie sich mittlerweile an Kendras schwarzen Humor gewöhnt
.
»Keine Sorge, Caroline. Es ist nur eine Fernsehsendung. Ich zieh mich nur noch schnell um, dann komme ich runter zum Essen.«
Oben, allein in ihrem Zimmer, schloss sie die Tür ab, ging ins angrenzende Badezimmer und ließ das Wasser laufen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand mithörte, noch nicht einmal Caroline.
Sie rief auf ihrem Handy eine Nummer auf, die sie unter dem Namen »Mike« gespeichert hatte. Das war, soweit sie wusste, nicht sein richtiger Name. Und die Nummer, die er ihr gegeben hatte, war nur eine zeitweilige. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, gab er ihr eine neue. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass sein Handy zurückverfolgt werden konnte. Das zumindest wusste sie mittlerweile.
Sie hätte ihm vergangenen November erst gar nichts von der Fernsehsendung erzählen sollen. Aber sie fürchtete, er könnte von den Briefen Wind bekommen, die die Bells ans Studio geschrieben hatten, und er würde sie vielleicht bestrafen, wenn sie ihm nicht davon erzählte. Sie hatte ihm versprochen, die Produzentin abzuwimmeln, was ihr bis zum heutigen Tag auch gelungen war.
Nach dem zweiten Klingeln wurde der Anruf entgegengenommen, keine Begrüßung.
»Hallo?«, meldete sie sich nervös.
»Was gibt’s?«, fragte er.
Sie erzählte ihm, dass die Produzentin unangekündigt vor der Tür gestanden und sie unter Druck gesetzt habe, eine Teilnahmeerklärung zu unterschreiben.
»Ruf sie morgen an und sag ihr, dass du deine Meinung geändert hast. Du kannst in der Sendung nicht auftreten.«
Sie sagte ihm, die Bells würden die Sache niemals auf sich beruhen lassen. Würde sie nicht an der Sendung teilnehmen, würden sie ihre Drohungen wahrmachen und sie vor Gericht zerren. »Und vor Gericht erfahren sie vielleicht von dir.
«
»Droh mir nicht. Das geht nicht gut aus für dich.«
»So hab ich das nicht gemeint«, sagte sie. Niemand konnte ihr eine solche Angst einjagen wie er. Er war völlig unberechenbar, gleichzeitig schien er immer alles unter Kontrolle zu haben. »Ich will damit nur sagen, ich kann an der Sendung teilnehmen, ohne dich auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Ich schwöre es bei meinem Leben.«
»Beim Leben deiner Kinder?
«
Ein eisiger Dolch bohrte sich in ihren Nacken. »Es ist fünf Jahre her. Wenn ich nicht meinen Mund halten könnte, hätte ich doch schon längst alles ausgeplaudert, oder? Bitte, ich will keinem Probleme machen.«
»Gut. Nimm an der Sendung teil. Aber vergiss nicht, was auf dem Spiel steht. Es wäre eine Schande, wenn Bobby und Mindy was zustoßen würde. So, und jetzt erzähl mir alles, was du über diese Fernsehproduzentin weißt.«
Sie kam seiner Aufforderung nach. Als sie das Gespräch beendete, zitterte ihre Hand.
Martin war seit fünf Jahren tot.
Sie würde ihn nicht loswerden, nie. Seitdem ihr klar geworden war, dass Martin ihr Medikamente verabreicht hatte, war ihr diese Frage immer durch den Kopf gegangen. Gerade er hätte doch erkennen müssen, dass sie unter einer Wochenbettdepression litt. Aber davon erholte man sich nicht, wenn man sich mit Medikamenten zudröhnte. Oder wollten er und seine Eltern bloß, dass sie die Kinder bekam, und nachdem Bobby und Mindy auf der Welt waren, hatten sie sie nicht mehr gebraucht?