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L
aurie betrat die Lobby des Apartmentgebäudes in der 94th Street und winkte Ron, dem Nachtportier, kurz zu.
»Wie geht’s, Primo?«, fragte sie und sprach ihn mit seinem Spitznamen an, den er sich selbst verpasst hatte. Er hatte ihr einmal erklärt, das Wort bedeutet im Spanischen eigentlich »Cousin«, aber damit bezeichnete man auch einen engen Freund.
»Primo geht es gut. Sie haben doch hoffentlich nicht bis jetzt gearbeitet. Das wäre sogar für Sie sehr spät.«
Laurie war kurz nach Gregs Ermordung in das Gebäude gezogen. Zum einen war es sinnvoll, in der Nähe ihres Vaters zu sein, der sich so oft um Timmy kümmerte. Zum anderen hatte sie aber auch Downtown verlassen wollen, wo sie viel zu oft an dem Park vorbeigekommen war, in dem ihr Mann ermordet worden war.
»Nein, heute Abend wird nicht gearbeitet«, antwortete Laurie fröhlich. »Ich war mit meinem Verlobten feiern. Er hatte allen Grund dazu.«
»Verlobter«,
erwiderte Ron mit einem zufriedenen Lächeln. »Das klingt gut. Mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit ein bisschen beschwingter gehen. Aber ich hoffe doch sehr, dass er Sie und Timmy uns nicht wegnimmt. Sie beide würden uns schon sehr fehlen.«
»Vorläufig wird sich nichts ändern«, versprach sie. Aber auch ihr war bewusst, wie sehr ihr all die Menschen fehlen würden, die ihr geholfen hatten, sich hier einzuleben, nachdem sie so unerwartet Witwe und alleinerziehende Mutter geworden war
.
In der Wohnung streifte sie ihre hochhackigen Schuhe ab und schlüpfte aus ihrem Blazer, den sie an die Garderobe im Flur hängte. Der Stille nach zu schließen musste Timmy schon im Bett sein.
Sie fand ihren Vater auf seinem Lieblingsplatz, dem zurückgeklappten Lederfernsehsessel. Er hatte das Time
-Magazin auf dem Schoß, ein Sportsender lief, aber der Ton war auf stumm gestellt. Timmy war nicht der Einzige, der bereits schlief.
Ihr Vater musste gespürt haben, dass sie da war, denn mit einem Ruck stellte er den Sessel auf. »Wie war das Essen?«, fragte er.
»Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, aber ich hab deine Lieblingsgerichte bestellt – Meeresfrüchtesalat und Steak.«
»Blutig?«
»Wie du es magst.«
Grinsend hob er den Daumen. »Du lässt es dir gut gehen, meine Liebe. Apropos, deine Maklerin ist vorbeigekommen und hat was abgegeben.« Er deutete auf einen fast drei Zentimeter dicken Ordner, der auf dem Beistelltisch lag. Vermutlich neue Immobilienangebote. »Sie meinte, sie sei ganz zufällig in der Gegend. Wahrscheinlich hat sie auch ganz zufällig für dich immer ein paar Angebote dabei.« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Charlotte hatte Laurie an Rhoda Carmichael verwiesen. »Sie ist eine von den ganz Unermüdlichen«, hatte Charlotte gesagt. »Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis sie die perfekte Wohnung für dich, Alex und Timmy gefunden hat.«
Was Charlotte ihr nicht gesagt hatte: Rhoda erwartete ein ebenso großes Maß an Engagement auch von ihren Kunden. In der Woche zuvor hatte sie Laurie um fünf Uhr morgens angerufen, um ihr von einer Wohnung zu erzählen, die offiziell noch gar nicht auf dem Markt war.
Laurie wollte erst morgen im Büro die Angebote durchgehen,
auch wenn sie wusste, dass Rhoda gleich in aller Frühe anrufen würde. Laurie hatte sich in der Arbeit schon mit Brett Youngs unerfüllbaren Erwartungen herumzuschlagen, auf einen zweiten Boss in ihrem Privatleben konnte sie getrost verzichten.
Ihr Vater erhob sich, um sich auf den Weg zu seiner drei Straßen weiter gelegenen Wohnung zu machen.
»Hast du noch einen Moment Zeit?«, fragte sie.
»Natürlich.« Er ließ sich wieder auf dem Sessel nieder.
Sie erzählte ihm von Robert und Cynthia Bells Besuch im Büro und dem anschließenden Treffen mit Kendra in ihrem Stadthaus. »Ich habe fast den ganzen Tag damit verbracht, mich wieder in den Fall einzulesen. Die Presse hat sich damals auf Martins Frau eingeschossen. Ich fand keinen einzigen Artikel, der Mitgefühl für sie aufgebracht hätte. Aber die Polizei hat nie offiziell verlauten lassen, dass sie als Tatverdächtige eingestuft wurde.«
»Lass mich raten: Das NYPD
hat aber auch nichts getan, um sie von jedem Verdacht freizustellen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Von mir hast du es nicht, aber lass dir sagen, was du zwischen den Zeilen lesen musst. Der Mord an Martin Bell gehört zu den Fällen, in denen schon die Zeitungen dafür sorgen, dass das öffentliche Interesse an den Ermittlungen angeheizt wird.«
»Es war also gar nicht nötig, dass die Polizei noch Pressekonferenzen und dergleichen abhielt«, führte Laurie seinen Gedanken fort.
»Ja, aber es geht nicht nur um den Umfang
der Berichterstattung, sondern auch um den Blickwinkel
. Als ich noch bei der Mordkommission war, hatte ich einmal einen ganz schlimmen Fall. Die Opfer waren Kinder.« Er runzelte die Stirn. Leo hatte seine Arbeit als Polizist immer gemocht, aber manche Verbrechen
schlugen ihm, dem sonst so optimistischen Zeitgenossen, aufs Gemüt. »Einer der Journalisten hatte sich in den Kopf gesetzt, dass das Kindermädchen die Täterin sein musste. Angeblich war sie eifersüchtig gewesen, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Folgendes nun: Wir haben gewusst, dass sie ein wasserdichtes Alibi hatte, und wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie nah ihr der Tod der Kinder ging. Also haben wir eine Erklärung veröffentlicht und deutlich gemacht, dass wir das Kindermädchen als sekundäres Opfer ansehen. Damit hatte es sich mit der negativen Berichterstattung.« Er schnippte mit den Fingern.
»Aber das hat das NYPD
bei Kendra Bell nicht getan«, bemerkte Laurie.
»Genau.«
»Also gehört sie zum Verdächtigenkreis?«
Er zuckte mit den Schultern. »Mir ist damals einiges zu Ohren gekommen.«
»Zum Beispiel?«
»Du erinnerst dich, dass die Presse sie als Junkie und dergleichen bezeichnet hat?«
Sosehr die Öffentlichkeit davon überzeugt war, dass Kendra ihren Mann umgebracht hatte, so wenig schien die Sensationsberichterstattung auf Fakten eingegangen zu sein. Alle Artikel liefen im Grunde auf eine Beobachtung hinaus: Martin Bell, eine Art Superstar mit grandioser Karriere, war mit einer Frau verheiratet, die sich zu Hause verkroch und nicht die Erwartungen erfüllte, die er in sie gesetzt hatte. In den Monaten vor dem Mord war sie einige Male betrunken oder unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss bei gesellschaftlichen Anlässen erschienen. Laut anonymen Quellen soll sie außerdem mehr Geld abgehoben haben, als eine Mutter und Hausfrau eigentlich bräuchte. In Lauries Augen aber waren das alles keine stichhaltigen Beweise
.
»Junkie-Mom«, zitierte Laurie einige der Schlagzeilen. »Eine der Nachbarinnen sagte – natürlich anonym –, dass Kendra manchmal weggetreten
wirkte. Bei anderen klang es eher so, als neigte sie dazu, gern einen über den Durst zu trinken. Wenn sie Alkoholikerin war, hatte sie vielleicht hin und wieder einen Kater.«
»Ich denke, es war mehr als das«, sagte Leo und sah zur Decke. »Es wurde nie an die Presse weitergegeben, aber in der Dienststelle erzählte man sich, dass sie sich am Abend des Mordes sehr seltsam verhalten haben soll. Sie schien völlig benommen zu sein. Die Polizisten vor Ort waren sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt erfasste, was vorgefallen war. Kurz gesagt, sie haben sie gefragt, ob sie ihr Blut abnehmen könnten, weil sie sichergehen wollten, dass sie nicht unter Drogen stand. Ihr Mann war gerade kaltblütig erschossen worden, aber sie bekam einen Wutanfall, weil man ihr ohne Durchsuchungsbeschluss Blut abnehmen wollte.«
»Nur weil man auf seine Rechte pocht, ist man noch lange keine Mörderin«, erinnerte Laurie ihn.
»Ja. Aber dann haben sich unsere Leute die Finanzen vorgeknöpft.«
»Die Barabhebungen«, sagte Laurie. Kendra hatte an Bankautomaten häufig Geld vom gemeinsamen Sparkonto abgehoben. »Hat das die Polizei an die Presse weitergegeben?«
»Es ging ja nicht nur um diese Abhebungen«, fuhr ihr Vater fort. »Nach dem Mord bekam die Polizei einen Tipp, dass Kendra Stammgast in einer Kellerbar im East Village gewesen war.«
»Was nicht ganz abwegig klingt, wenn sie tatsächlich getrunken hat. Aber sie erscheint mir eigentlich nicht als der Typ dafür …«
»Genau. Es stellt sich also die Frage, warum sie dort war. Es kam nämlich heraus, dass sie sich in der Zeit unmittelbar
vor Martins Ermordung drei- oder viermal mit einem hart aussehenden Typen getroffen hat. Noch verdächtiger war aber, dass sich nach dem Mord keiner der beiden mehr dort hat blicken lassen.«
»Und wer war dieser hart aussehende Typ?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Polizei konnte ihn nicht identifizieren. Wie Kendra zahlte er immer bar. Und nach allem, was ich gehört habe, gab sich Kendra ziemlich zugeknöpft, als sie von der Polizei auf ihn angesprochen wurde.«
Laurie runzelte die Stirn. Kendra hatte zum Zeitpunkt des Mordes erwiesenermaßen im Bett gelegen, sie kam als Täterin also nicht infrage. Ihre Verleumder spekulierten, sie habe an Bankautomaten Geld abgehoben, weil sie einen Auftragskiller bezahlen musste. Wenn Laurie beweisen konnte, dass sich Kendra vor dem Mord mit einem Fremden getroffen hatte, hätte sie mehr als bloße Spekulationen für ihre Sendung. »Erinnerst du dich noch an den Namen dieser Bar?«
»Ich kann dir nicht mal sagen, ob ich ihn jemals gekannt habe. Aber ich kann ihn bestimmt herausfinden.«
»Klar kannst du das.«
Leo Farley war nach Gregs Ermordung in den Ruhestand getreten, damit er ihr mit Timmy zur Seite stehen konnte, aber auch noch Jahre später nahmen sogar frischgebackene Rekruten Haltung an, wenn er den Raum betrat. Im Vorjahr hatte er sich dazu breitschlagen lassen, auf Teilzeitbasis in der Anti-Terror-Abteilung der Dienststelle mitzuwirken. Solange Leo also noch offiziell bei der Polizei zu tun hatte, war sein Einfluss beträchtlich.
Sie begleitete ihren Vater zur Tür und umarmte ihn zum Abschied.
»Du hast verstanden, was ich mit dem Zwischen-den-Zeilen-lesen meinte?«, fragte er.
»Ja. Danke für die Unterweisung, Herr Professor. Und
vielleicht findet die Frau Bundesrichterin des Southern District von New York ja, dass das ein ganz interessantes Gesprächsthema beim Essen abgibt.«
»Oh, da würde ich lieber nicht drauf bauen. Aber ich meine es ernst. Nur weil Kendra nie als Tatverdächtige eingestuft wurde, muss das NYPD
sie nicht für unschuldig halten.« Plötzlich wurde sein Ton besorgter. »Ihr Mann wurde umgebracht, als ihre Kinder noch sehr klein waren. Es wäre nur allzu verständlich, wenn du dich auf die eine oder andere Weise mit ihr identifizieren würdest. Trotzdem, vielleicht ist sie doch eine Mörderin. Nimm dich also in acht, Laurie.«